250 Komponistinnen. Folge 45: asketische Musik.
Erna Woll wurde am 23. März 1917 im saarländischen St. Ingbert in bürgerlich-protestantische Verhältnisse hinein geboren. Daheim wurde fast täglich musiziert. Ernas Vater finanzierte seine siebenköpfige Familie als zunächst leitender Angestellter in einem Eisenhüttenwerk in Heidelberg, wohin man zwischenzeitlich übergesiedelt war. Nach dem Konkurs der Firma 1932 zog die Familie – nun in prekären Verhältnissen lebend – nach St. Ingbert zurück. Woll berichtet diesbezüglich, sie habe sich ihr Studium »erhungern« müssen.
Von 1936 bis 1950 studierte Woll eine Vielzahl musikalischer Fächer: evangelische und – ungewöhnlich – zudem katholische Kirchenmusik. (Erna Woll konvertierte während des Studiums vom evangelischen zum katholischen Glauben.) Hinzu kamen Orgel, Klavier, Schulmusik, Musikwissenschaft, Germanistik, Komposition und Gregorianik. Von 1936 bis 1938 wurde sie von Wolfgang Fortner (1907–1987) in Heidelberg unterrichtet; (Fortner, der zu den Mitgründern der Ferienkurse für Neue Musik (in Kranichstein beziehungsweise später Darmstadt) zählt, konnte nach dem Zweiten Weltkrieg eine erstaunliche Laufbahn entwickeln, war GEMA-Beirat, Mitglied der Akademie der Künste in Berlin und in zahlreichen weiteren Gremien, Jurys und etwaigen Entscheidungspositionen einflussreich aktiv; unter den Nationalsozialist*innen hatte er sich spürbar wohlgefühlt, war ohne Druck NSDAP-Mitglied geworden und leitete unter anderem das »Bannorchester der Hitler-Jugend Heidelberg«.)
Über das Wirken der jungen Erna Woll während der Zeit des Nationalsozialismus ist nichts bekannt, was niedrigschwellig recherchierbar wäre. Zumindest studierte Woll jedoch auch bei durchaus »unangepassten« Persönlichkeiten Komposition, so beim schwäbischen Spätromantiker Joseph Haas (1879–1960), der sich in den 1940er Jahren wohl – wie es heißt – Angriffen als »Fortschrittsapostel« ausgesetzt sah und sich aufgrund seines öffentlichen Bekenntnisses zum katholischen Glauben den Vorwurf der »Romhörigkeit« gefallen lassen musste; Wolls zweiter Kompositionslehrer an der Münchner Akademie der Tonkunst war der tonalitätsgläubige, aus Baden stammende Gustav Geierhaas (1888–1976), dem vorgeblich zugute zu halten ist, dass er »auf Distanz zu den Nationalsozialisten« gegangen sei. Seiner Ämter enthoben wurde er jedoch nicht; ähnlich wie Haas, Fortner und zahlreiche andere spätere deutsche Avantgardisten.
Nach ihrem Studium der katholischen Kirchenmusik an der Kölner Musikhochschule ging Woll schließlich in den Schuldienst an der Lehrerinnenbildungsanstalt im schwäbischen Weißenhorn (1950–1962) über, arbeitete dann als Dozentin (1962–1969) und später als Honorarprofessorin an der Pädagogischen Hochschule Augsburg (1969–1972) sowie an der dortigen Universität, wo sie durch ihr Wirken bedeutende musikpädagogische Maßstäbe setzte, wie es bis heute auf der Webseite der Universität Augsburg heißt; an dieser Stelle wird sie auch »zu den wichtigen Chorkomponistinnen des 20. Jahrhunderts« gezählt.
Aufgrund von gesundheitlichen Problemen konnte Erna Woll nach 1972 ihre musikpädagogische und kompositorisch-künstlerische Laufbahn nicht weiter fortsetzten und wurden in eben jenem Jahr emeritiert. Sie starb am 7. April 2005 in Friedberg bei Augsburg im Alter von 88 Jahren.
Erna Woll (1917–2005)Sieben Rosen später. Liedzyklus für Stimme und Klavier auf Gedichte von Paul Celan (1994)
Der kompositorische Werkkatalog von Erna Woll umfasst fast ausschließlich geistliche Werke. Auch trug Woll zur Entwicklung des (ästhetisch zweifelhaften) »Neuen Geistlichen Liedes« bei. Andererseits interessierte sich die Komponistin und Musikpädagogin sehr für zeitgenössische Autor*innen; so entstand ein Jahr nach dem Tod von Marie Luise Kaschnitz (1901–1974) Wolls Requiem für Lebende (1975) – auf Texte eben jener einflussreichen Schriftstellerin. Wolls Liederzyklus Sieben Rosen später (1994) widmet sich dagegen dem 1955 erschienenen Gedichtband Von Schwelle zu Schwelle des von der musikalischen Avantgarde bis heute begeistert vertonten Paul Celan (1920–1970).
Mit kreisenden, nachdenklichen Einzeltönen im Klavier beginnt das Lied Kristall. Manche Akkorde bleiben hohl, entziehen sich einer allzu klaren tonalen Zuordnung. Die Gesangsstimme hebt – die leicht orffsche Melodie-Anmutung des Klaviers aufnehmend – mit den Celanschen Worten an: »Nicht an meinen Lippen suche deinen Mund, nicht vorm Tor den Fremdling, nicht im Aug die Träne.« Zwischenzeitlich sinken im Zusammenwirken mit der Gesangsstimme Klavierakkorde – etwas impressionistisch dahinschwingend – traurig hernieder. Die Klavierstimme ist hier weniger im Sinne einer eigenen interpretierenden Stimme gesetzt. Dadurch erklingt die Gesangsstimme aber auch gleichsam unverstellt und pur.
Der Text des zweiten Liedes beginnt wie folgt: »Aus meiner Hand nahmst du die große Blume: Sie ist nicht weiß, nicht rot, nicht blau – doch nimmst du sie.« Das Klavier hebt fast mit den gleichen Einkreisungen des Liedes zuvor an. Eine gewisse musikalische Zeitlosigkeit steht im Raum. Irgendetwas tickt unaufhörlich. Doch die Gesangsstimme verweilt nun häufiger, schaukelt sich motivisch ein. Bescheidene Koloraturen. Erna Woll schreibt Lieder, die sich musikalisch ganz hinter das gesungene Wort stellen.
Etwas verwegener geht es im dritten Lied zu. Die Satzweise im Klavier knüpft zwar unmittelbar an die Vorspiele der ersten beiden Lieder an, doch verlässt Woll hier nun die kreisende Quasi-Tonalitäts-Komfortzone etwas mehr. Die Klaviertöne verdünnisieren sich nach unten, gebrochen, lethargisch aufgebend; es entsteht der Eindruck einer chromatisch herabsinkenden, »kaputten« Alberti-Bass-Linie. Doch auch im Folgenden stellen sich die Klavierklänge glasklar hinter die Gesangsstimme. Unspektakuläre, fast asketische Musik. ¶