Seit 34 Jahren ist Gisela Renner in Berlin Notenwenderin. Wer regelmäßig in der Philharmonie oder im Konzerthaus ist, hat sie sicherlich schon neben einem/r Pianist/in sitzen sehen.

VAN: Dem Notenwenden liegt keine Ausbildung zugrunde. Wie kamen Sie dazu?

Gisela Renner: Da bin ich buchstäblich reingewachsen: Ich habe von Kindesbeinen an Musik gemacht, in der Jugendkantorei. Dort gab es einen Chorleiter, der sehr gut Orgel spielte; für ihn habe ich die Orgel registriert (die Register bedient, d. Red.) und auch Noten gewendet. In diesem Metier bin ich groß geworden. Als ich dann nach Berlin gekommen bin, hatte ich damit aber abgeschlossen, dort wusste das ja auch niemand. Um Anschluss zu finden, bin ich in einen Chor eingetreten. Die Frau des damaligen Organisten der Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche hat mich bei einer Probe angesprochen; sie war hochschwanger, und es mache ihr zu schaffen, die Register zu wechseln an den Sonntagen, wenn ihr Mann Konzerte spielte; ob ich das nicht einmal versuchen könnte. Mist, jetzt musst du dich ganz schön dusselig anstellen, dachte ich, damit niemand merkt, dass du das nicht zum ersten Mal machst. Aber ich konnte dem Organisten ja nicht das Konzert in den Sand setzen, also war ich voll da. Und von da an bin ich immer weitergereicht worden (lacht). Auf einmal hatten ganz viele Leute meine Telefonnummer, können Sie nicht, wollen Sie nicht, wir bräuchten …

Wie kamen Sie in die Philharmonie?

Eines Tages bekam ich einen Anruf: ob ich am Abend in die Philharmonie kommen könnte; der Notenwender, der Dienst gehabt hätte, war am Nachmittag verstorben. Es spielte ausgerechnet das Beaux Arts Trio an dem Abend, in der ursprünglichen Besetzung. Seither bin ich hier. Mittlerweile ist es aber so, dass die Pianisten mich persönlich anfragen, ob ich bei ihrem nächsten Konzert dabei sein kann.

Was für ein Verhältnis haben Sie zu den Musiker/innen?

Mit den meisten habe ich ein tiefes Vertrauensverhältnis. Man kennt sich mittlerweile einfach sehr gut. Die schönste Bestätigung ist für mich, wenn ein Künstler nach einem Konzert hinter der Bühne zu mir sagt: ›Wenn man nach Berlin kommt und weiß, dass Sie da sind, dann muss man an gar nichts denken. Dann kann man einfach nur Musik machen.‹ Für mich ist das genau die Ebene, auf der die Beziehung zu den Musikern liegen sollte.

Das klingt so bescheiden.

Klar, man muss ja zu einem gewissen Grad auch hinter der Bühne so unscheinbar wie möglich sein – obwohl man gleichzeitig wahnsinnig fokussiert sein muss. In dem Moment, wo Sie auf der Bühne sitzen, dürfen Sie keine Sekunde an etwas anderes denken, sonst sind Sie weg. Und intensiv zuhören, das dürfen Sie auch nicht. Das hängt mit dem Notenbild zusammen. Gerade bei modernen Stücken kommen Sie im Notentext sonst nicht mit. Wobei, da gibt es auch Unterschiede: Ein Ligeti-Klavierkonzert zu wenden, ist eine Sache, richtig kompliziert wird es beispielsweise bei Pierre Boulez’ Zweiter Sonate. Da sagt er selbst sogar immer zu mir: ›Das könnte ich nicht wenden.‹ (lacht)

Womit hängt das zusammen?

Mit den Tempi. Leicht sind schnelle Stücke, Sechzehntelläufe, Beethoven-Konzerte. Schwierig wird es, wenn es richtig langsam wird. Das, und Wiederholungen. Das Trio von Morton Feldman ist, was die Konzentration betrifft, wirklich die größte Herausforderung. Jedes Mal, wenn ich das hatte, war ich nachher völlig ausgelaugt – 30 Mal wiederholen, fünf Mal wiederholen, und das unterscheidet sich alles kaum …

Wie bereiten Sie sich auf ein Konzert vor?

Gar nicht. Leute gehen oft davon aus, dass ich vorher mit den Musikern geprobt habe. Das ist nur ganz selten der Fall. Es gibt Abende, an denen weiß ich, wenn wir auf die Bühne gehen, noch nicht einmal, ob und welche Wiederholungen gespielt werden. Das ist dann Stress pur.

Spricht man vor dem Konzert nicht kurz miteinander?

Oft treffe ich Künstler, die ich noch nicht kenne, erst ein paar Minuten vor Konzertbeginn zum ersten Mal.

In der Regel bin ich eine halbe Stunde vor dem Konzert da, aber die Künstler oft noch nicht (lacht). Wenn sie dann kommen, sind sie meistens sehr beschäftigt. Wenn es geht, schaue ich mir in der Zeit die Noten an, die der Künstler mitgebracht hat. Ich will wissen, um was für Papier es sich handelt. Sind es kopierte Noten, sind die Blätter doppelseitig bedruckt, sind die Seiten geklebt?

Es gibt Musiker, die heften ihre Noten so zusammen, dass ein richtig dickes Buch entsteht (zeigt etwa vier Zentimeter mit den Fingern an); so was bleibt natürlich nicht von alleine stehen.

Leider machen die großen Notenverlage das mittlerweile auch so, die meisten Partituren sind jetzt so gebunden. Wenn mal ein Verleger hier ist, sage ich denen das auch: wer diese Idiotie erfunden hat, der sollte mal ein Konzert damit wenden müssen.

Nun muss ich doch fragen: Was kann denn bei so einem Konzert beim Wenden alles passieren?

Oh, es gab diesen Konzertabend mit Peter Serkin; der hatte sich draußen vor dem Konzert mit Papier in den Finger geschnitten, das wusste aber keiner. Dafür könnte ich ihn heute noch in der Luft zerreißen (lacht). Seiji Ozawa hat dirigiert. Serkin beginnt zu spielen, und langsam färbten sich die Tasten rot. Auf so etwas war ich nicht vorbereitet, ich hatte kein Tuch dabei; ich habe ihm immer nur zugeflüstert, ›nicht lecken‹, weil der Speichel die Blutung immer wieder anregte. Als der erste Satz endlich zu Ende war, habe ich Ozawa gesagt: ›stop‹, und er fragt mich ›why?‹ – dann habe ich auf die Tastatur gezeigt, und er wäre fast vom Podium gefallen. Ich bin dann mit Serkin hinter die Bühne gegangen und habe den Finger verarztet. Und dann bin ich wieder rein und hab den Flügel geputzt; das war drüben, im großen Saal der Philharmonie. Er hat später weitergespielt, mit Handtuch auf der Hose, an dem er sich das Blut abwischen konnte, und ich habe zwischendurch immer wieder die Tasten geputzt. Das war eine super Aktion!

Bei einem anderen Konzert muss ich gestehen, da habe ich Blut und Wasser geschwitzt. Das war das Klavierkonzert von Mikis Theodorakis, und Cyprien Katsaris hat gespielt. Er hatte A3-Notenblätter dabei, die er vorher schon zweimal gefaltet hatte, damit sie gut in die Tasche passen. Für die Blätter hatte die Technik extra noch das Notenpult verändert, damit die besser auflagen.

Das waren alles lose Blätter; vor dem Konzert habe ich gesagt, ich guck die durch, und ich gebe die Noten danach nicht mehr aus der Hand, bis wir im Saal sind. Und dann kommt – ich weiß gar nicht mehr, wer das war – auch Ozawa glaube ich, und wollte mit dem Pianisten noch einmal kurz etwas besprechen. Plötzlich: Auftritt, die beiden sind mit den Noten auf die Bühne gegangen. Und tatsächlich: Bei der vierten oder fünften Seite standen die Blätter plötzlich auf dem Kopf, und das auch noch in falscher Reihenfolge. Zum Glück war ich hier bei den Proben dabei gewesen und wusste, wie es weitergehen muss. An dem Abend stand mir das Wasser in den Schuhen.

Wie gehen Sie mit Nervosität um? Ihrer eigenen und der von Musikern?

Die Hauptaufgabe eines Notenwenders ist es, ruhig zu bleiben und vor allem Ruhe auszustrahlen. Das ist oft problematisch, wenn junge Leute aushelfen kommen; Nichts gegen die Studenten, die sagen oft: klar, das kann ich machen. Auf der Bühne merken sie dann aber, dass das mit der Ruhe gar nicht so einfach ist. Vor allem, wenn man mit der falschen Motivation auf dem Podium sitzt, eine Stunde neben einem berühmten Musiker sitzen zum Beispiel.

Hat sich die Klassikszene in den letzten Jahrzehnten aus Ihrer Perspektive stark verändert?

Was sich auf jeden Fall nicht verändert hat, ist, dass Künstler häufig schwierig im Umgang sind, nicht, weil sie an sich schwierige Menschen sind, sondern weil sie von ihrer Entourage dazu gemacht werden. Wenn ich an die Zeit denke mit Fischer-Dieskau und Edith Mathis, wie mit denen umgegangen wurde … ein rohes Ei hat man fester angefasst als diese Leute. Da muss man ja komisch werden. Als ich dann mit Fischer-Dieskau das erste Mal eine Schallplattenaufnahme für die Deutsche Grammophon gemacht habe, da kam er, aber ohne die ganzen Leute, die sonst immer dabei waren, und er war ganz normal. Wir haben uns blendend verstanden.

Dafür hat sich das Papier verändert, das alte Papier, das fehlt mir sehr! Das schöne weiche, richtige Papier halt. Das hat auch nicht so viele Geräusche gemacht beim Wenden. Heute ist wahnsinnig viel Kunststoff drin, das macht es sehr unflexibel.

Welche Pianisten kommen noch mit ihrem alten (Papier-)Material?

Zum Beispiel Menahem Pressler oder Ivo Pogorelich. Die haben Notenmaterial, Mamma Mia! ¶

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