Im November 2014 reist der Komponist David Robert Coleman nach Taschkent, Momente der Reise verweben sich mit einer entstehenden Komposition, Three Character Pieces for viola and piano.
Text David Robert Coleman · Fotos Alex Ulko
Es ist ein sehr langer Weg in ein ganz unbekanntes Land. Von Berlin nach St. Petersburg in einer alten Maschine der Rossiya Airlines, umsteigen und dann fünf Stunden nach Taschkent.
Die Passkontrolle ist die längste und strengste, die ich je erlebt habe. Es gibt viele Formulare auszufüllen und viele Fragen, die beantwortet werden müssen. Ich trete aus dem Flughafengebäude in einen Morgen, der gerade beginnt. Das Licht ist milchig und magisch. Ich bin in eine andere Zeit hineingeraten. Es ist eine Welt ohne Starbucks. Die Menschen laufen herum mit großen Plastiktüten gefüllt mit Papiergeld. Alles kostet viele tausende »Sum«. Der größte Geldschein ist der Eintausender!
Die Atmosphäre, der Morgen versprechen viel. Das Taxi fährt entlang an Reihen von weiß bemalten Bäumen zu meinem Hotel. Es ist ein stolzer Bau gegenüber der alten Oper von Taschkent, die in den Vierzigern von japanischen Kriegsgefangenen gebaut worden ist: prachtvoll verziert in einem orientalisch verspielten Stil.
I. Elegie
In meinem Zimmer sitze ich und schaue auf den Opernplatz. Links davon ist experimentelle sowjetische Architektur der siebziger Jahre zu sehen. Das war das Haus des Rundfunks, das jedoch nicht mehr in Gebrauch ist.
Ich packe meine Noten aus und spitze den gelben Bleistift. Ich muss mich nicht anstrengen. Hier bin ich untergetaucht, hier wird mich kein Mensch aus Berlin finden und aufstören. Ich darf in eine innere Welt der Erinnerungen, der sedimentierten Spuren schauen. Eine langsame Melodie für Klavier in Oktaven wird von einer Linie in der Bratsche weitergeführt. Das erste Stück ist schnell geschrieben. Die letzte Phrase verklingt; das kleine Stück hat sein Ende ohne Bemühen ganz alleine gefunden.
II. Scherzo
Das Hoteltelefon klingelt. Ein lokaler Fotograf – er spricht hervorragendes Englisch – meldet sich: »Wollen Sie mich auf den Markt begleiten?«
Wir finden sofort ein Taxi auf der Straße, alle Menschen hier sind Hobby-Taxifahrer. Der Preis ist Verhandlungssache.
Die riesige Markthalle ist ein Ausbruch von grellen Farben und Gerüchen, die in einem völligen Kontrast zu den sandig, gelblichen Farben der Straßen stehen. Überall gibt es Gewürze und Früchte. Man ist in einer kleinen Stadt, die ihre eigenen Gesetze und Bräuche hat. Draußen steht eine herrliche Moschee. Die blauen Kacheln mit ihren Verzierungen glänzen in der Sonne.
Wieder am Holztisch im Hotel. Das zweite Stück bedarf mehr Zeit. Es wird ein Tanz, bei dem die Bratsche schnell zwischen pizzicato (zupfen) und arco (streichen) wechseln muss und dabei immer zu stürzen droht. Nach vier Stunden brauche ich eine Pause.
III. Notturno Interrotto
Ich gehe zur Hotelbar und bestelle einen Tee. Er ist stark gezuckert. Ich habe ein Rendezvous. Eine Frau betritt die Lobby, ihr rotes Kleid sowie ihre feinen slawischen Züge beeindrucken. Sie gehört der russischen Minderheit an, die sich in früheren Zeiten, als Taschkent die viertgrößte Stadt im Sowjetreich war, hier ansiedelte. Ihr Charme ist unwiderstehlich, ein gemeinsames Abendessen wird in Aussicht gestellt.
Das dritte Stück spricht von Sehnsucht. Die Bratsche spinnt eine lange Melodie, die sich vom tiefen Register allmählich in die Höhe bewegt. Dagegen spielt das Klavier eine rhythmisch komplizierte Begleitung. Linke und rechte Hand sind schwer zu koordinieren.
Wieder ein Anruf. Der Vater einer Freundin ist gerade gestorben. Alle Pläne des Abends haben sich verändert. Die Bratsche und das Klavier kommen zu einem gleichen Rhythmus, kompositorische Tüftelei löst sich auf. Schmerz, Aufriss.
Ich trete die Rückreise an. Ein intimes Stück ist entstanden, ein kleines Tagebuch mit unwillkürlichen Geständnissen. ¶