Als am 10. Januar 2016 die Nachricht von David Bowies Tod die Runde macht, versammelt sich vor der Hauptstraße 155 in Schöneberg, wo Bowie während seiner Berliner Zeit gelebt hat, spontan eine Trauergemeinde. Es werden Blumen, Plattencover und Abschiedsnachrichten abgelegt, auf der Treppe brennen Kerzen, Ashes to Ashes ertönt aus einem knarzigen Rekorder. Menschen stehen beisammen, von denen jeder eine fantastische Geschichte davon zu erzählen hat, wie sich Ziggy Stardust oder The Thin White Duke mit dem eigenen Leben verwoben haben. Geschichten von Coming Outs und Initationen, Zusammenbrüchen und Rettungen, von Nonkonformität und Provokation. Jeder scheint gleichzeitig ganz bei sich und mit allen anderen verbunden.
Gleiches setzt sich fort in Nachrufen und Sozialen Netzwerken, auch hier wieder persönliche Geschichten, Bekenntnisse, Erinnerungen.
Kurze Zeit nach Bowie sterben Pierre Boulez und Nikolaus Harnoncourt, auch sie Helden in einer Musikkultur und jeder Protagonist einer neuen Bewegung: Der eine der Champion der Avantgarde, der andere Durchlüfter des Historischen. In den Nachrufen für Boulez und Harnoncourt geht es viel um Würdigung, Einordnung des Lebenswerks, die Anerkennung von Leistungen. Was auffallend fehlt, sind die Geschichten.
Kulturen enthüllen sich in der Trauer um ihre verglühten Helden.
Kulturen enthüllen sich in der Trauer um ihre verglühten Helden. Im Abschied von Bowie offenbarte sich Pop als eine Kultur, deren Helden sich aus der Summe bedeutsamer Geschichte zusammensetzen, die man sich über sie erzählt. Popkultur hält dafür einen endlosen Fundus an Codes, Ritualen, Verweisen und Alter-Ego-Konstruktionen bereit, der nur darauf wartet, dass man sich aus ihm bedient, sich selbst dazu tut und alles zu einer großen Ich-Erzählung vermengt. Aus der maßlosen Emphase und hemmungslosen Subjektivität entsteht seine nonkonformistische Kraft. Ich erzähle, also bin ich. Ich bin, also habe ich Recht.

In der Kultur, die Boulez und Harnoncourt zu Grabe trug, treten die Geschichten hinter die Geschichte zurück. Es scheint, als seien der Klassikkultur bei der eigenen Denkmalwerdung die Ich-Erzählungen abhandengekommen. Stattdessen ist das Expertenwissen Voraussetzung dafür, öffentlich über klassische Musik zu schreiben oder zu sprechen. Über ein »Ich finde« wird die Nase gerümpft – um die eigene Legitimation einer Schein-Objektivität aufrechtzuerhalten, wie im Falle der Musikkritik, oder einfach, um unter sich zu bleiben. Der Gestus des Bescheidwissens schreibt sich fort in Programmhefttexten, Konzerteinführungen, Booklet-Texten, bis in den Klassikhumor. Er bildet einen undurchdringlichen Kokon, einen Schutzschirm gegenüber dem, der eintreten will. »Wer bist du, dass du das Denkmal einfach so von deinem Partikularstandpunkt aus meinst besudeln zu dürfen? Hast du von dem Stück schon 20 Aufnahmen gehört? In wie vielen Konzerten warst du denn, dass du meinst, einfach so deinen Schnabel aufreißen zu dürfen?«, wird der Nicht-Eingeweihte beim Eintreten gefragt. »Mit Klassischer Musik kenne ich mich leider nicht aus«, sagt jener eingeschüchtert und kehrt um. Diesen Satz hat die Klassikkultur exklusiv. Nirgendwo sonst ist Nicht-wissen gleichbedeutend mit Nicht-mitreden-dürfen.
Als der Schriftsteller Thomas Pletzinger in einem Text über seinen ersten Philharmonie-Besuch darüber schrieb, wie fremd ihm die Codes erschienen waren, kommentierte einer auf Facebook, dies sei genau das Publikum, auf das er gut verzichten könne, »ein ›Schriftsteller‹, aber ›Hauptsache das Bier war angenehm kühl‹«. Wir erleben häufig wie junge, Pop-affine Autorinnen oder Studenten, denen es bei anderen Themen leichtfällt, subjektiv, leidenschaftlich, schlau, informiert, assoziativ, direkt zu schreiben, bei klassischer Musik automatisch in eine routiniert-distanzierte Schreibe fallen, eine Mimikry davon, »wie man über klassische Musik zu schreiben habe«. Oft geht dem ein Gang in die Bibliothek voraus. Was ist das für eine Kultur, über die zu sprechen nur Expertise erlaubt, in der man Musik nicht einfach nur hören, irgendwie finden und mit seiner eigenen Lebenswelt in Bezug setzen darf? Die nur hermeneutisch funktioniert – »was will es mir sagen« – statt »was sagt es mir«? Nirgendwo sonst stehen dem persönlichen Bezug zu einer Kunst so viel unangenehmes Gefühl im Weg.
Selbst viele Musikerinnen und Musiker treibt die Angst um. Auf keinen Fall will man sich als Banause outen, ordinär sein, unwissend. »Welches sind die Komponisten, die Sie nicht mögen?« »Bei jenem habe ich noch keinen Zugang gefunden.« Auch Profimusikern fällt es oft schwer, eine persönliche Geschichte zu einem Musikstück zu erzählen. An die Stelle tritt nicht selten die bloße Affirmation von Größe und Gefühl: »Beethoven ist geil«, »Ich liebe Mozart«, »Bach ist der Allergrößte«.
Die Rhetorik von Authentizität und Leidenschaft steht in krassem Gegensatz zur Leblosigkeit des Zeugnisses, das man von ihr ablegt. Dass Musikkritik auf den Hund gekommen ist, liegt nicht nur an der Debattenstille oder daran, dass »die meisten Kritiker heutzutage nach 20 Takten aus der Partitur fliegen«, wie eine Kritikerin, die schon lange dabei ist, neulich erzählte. Es hat auch damit zu tun, dass der persönlichen Betroffenheit weitgehend der Garaus gemacht wurde. Statt Furor herrscht dort die abgeklärte Pose desjenigen, der schon alles weiß, alles gesehen hat und nicht mehr überrascht oder hingerissen werden kann. Statt um Musik selbst geht es meistens allein um deren Interpretation, zu der man sich auf Biegen und Brechen eine Bewertung abringen muss. Hat man sich damit sein eigenes Grab geschaufelt? Heute ist Musikkritik in vielen Fällen nur noch ein müder Schatten ihrer selbst, marginalisiert, irrelevant, schlecht bezahlt, in friedlicher Koexistenz mit der Champions-League-Rhetorik der Klassikvermarktung.
»Hip-Hop ist doch nur Bumm-Bumm.«
Klassische Musik darf man sich nicht als eine einstige Pop-Kultur vorstellen. Sie war nie Jugendkultur, Non-Konformismus und Rebellion. Bei ihr ging es immer schon mehr um die Musik als um alles andere. In der Popkultur ist es genau andersrum. Aus dieser Überhöhung des musikalischen Materials rührt der merkwürdige Blick vieler Klassikleute auf andere Musikkulturen. Ein mit klassischer Musik unvertrauter Freund erzählte mir neulich entgeistert von einer zufälligen Begegnung mit einem berühmten Dirigenten bei einem Abendessen: Der habe sich darüber echauffiert, dass die jungen Leute heute alle nur noch Hip-Hop hörten, »das sei doch nur Bumm-Bumm«.
Klassische Musik ergibt anders als Pop auch dann Sinn, wenn man sie von anderen Komponenten isoliert. Die Trennung von Komponist, Werk und Interpret reduziert das identifikatorische Potential. Wenn eine Partitur existiert, gibt es immer schon eine hingeschriebene Absicht, die für viele eine Werk- und Partiturtreue einfordert. Mit der Ankunft der Schallplatte hat sich die Erwartung von Perfektion und Reinheit auch auf das Konzerterlebnis übertragen. Mit dem Authentizitätswahn ist das spielerische Element zur Pose geronnen. Es gibt in der Klassikkultur wenig Zufall, wenig fetischisierbares Material, wenig Selbstironie, dafür viel standardisierte Routine. Außerdem ist klassische Musik oft eine Einsamkeitserfahrung. All dies reduziert das Geschichtenmaterial.

Trotzdem bleibt die Frage, warum andere Eigenschaften von Pop in der klassischen Musikkultur getilgt sind. Was ist mit Verführung? Was ist mit Überwältigung? Was ist mit Identifikation? Auch klassische Musik kann Heimat sein und Rettung. Auch durch sie kann man eine Initiation erleben, nach der etwas anders ist als zuvor. Bei Scelsi kann man erleuchtet werden, bei Monteverdi oder Debussy seine Unschuld verlieren, und eine Vorstellung von Wagners Fliegendem Holländer kann zur Bewältigung des Selbstmords des eigenen Vater beitragen. Auch das Konzert, selbst das bürgerlich-formalisierte Konzertformat, kann ein Erlebnis sein, das woanders hinführt als zu seiner Wiederholung, allein schon deshalb, weil es in Zeit und Raum stattfindet und über performative Elemente verfügt, auf die man sich beziehen kann: die individuelle Körperlichkeit der Musiker, die Aura des Ortes, die Gemeinschaft der Hörenden.
Vielleicht ist die eigentliche Krise der klassischen Musik der Mangel an Geschichten.
Wenn die Lebendigkeit einer Kultur aus der Summe der Geschichten besteht, die aus ihr entstehen, dann ist es nicht so gut bestellt um die klassische Musik. Eine Kultur ohne Erzählungen, die aktualisiert, weitergeschrieben werden, droht zu einem Museumsstück zu werden. Das Erklären und Vermitteln, die Museumsführung, ist dann vielleicht nicht die Lösung, sondern Teil des Problems. Reicht der Diskurs der Professionellen? Reicht das Informieren, das Dokumentieren, das Erklären des Konzeptes, das Anreichern mit Daten? Oder ist das eigentlich nur ein Ausschnitt, ein bestimmter Modus der Rezeption? Wird es nicht überall dort interessant, wo die Musik auf Menschen trifft, die nicht dem Fachdiskurs angehören, weil sie sich da verwandeln kann, auf unsichereres Terrain begibt, eine neue Sprache entstehen kann, die neue Spuren legt?

Wir müssen die Subjektivität zurückerobern und die Scheu überwinden, über klassische Musik als Teil der eigenen Welterfahrung zu erzählen. Wir brauchen mehr Menschen, die hemmungslos den Schnabel aufreißen, ohne die permanente Selbstvergewisserung von Wissen, mehr Anmaßung, Unschuld und Dringlichkeit, mehr Leute, die darüber erzählen, was Musik oder deren Interpreten mit ihnen machen. Und weniger Angst vor dem Damoklesschwert der Hochkultur und davor, einem heiligen Werk zu nahe zu treten.
Roland Barthes unterscheidet in seinem Essay über Fotografie, »Die helle Kammer«, zwischen den Begriffen studium und punctum: Studium beschreibt das »höfliche Interesse« der Bildanalyse: Man möchte die Intentionen des Fotografen nachvollziehen; es geht um das aufsuchende Studieren von Formen und Strukturen. Das punctum aber bringt das studium aus dem Gleichgewicht, es macht eine Photographie zum sinnlichen Ereignis. Barthes meint damit »jenes Zufällige« an einer Fotografie, das dem Betrachter ins Auge fällt und ihn auch emotional berührt, das ihn besticht und verwundet: »Diesmal bin nicht ich es, der es aufsucht (wohingegen ich das Feld des studium mit meinem souveränen Bewußtsein ausstatte), sondern das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren.« Studium, so Barthes, gehört zum Feld des »Ich mag«, punctum hingegen zum »Ich liebe«. Vielleicht geht es auch einfach darum: Dass wir mehr von unserer Liebe erzählen. ¶