Selbstständige Stimmen, die unabhängig voneinander agieren und doch ein gemeinsames Etwas formen… Während draußen Sturm Friederike tobte, sprachen im Bunkersalon Prof. Dr. Beate Rössler (Philosophin und Autorin) und Kit Armstrong (Pianist, Komponist und Mathematiker) mit Tim-Erik Winzer, Saerom Park und David-Maria Gramse vom Ensemble Resonanz über Polyphonie, Autonomie, das große Ganze. Hier eine gekürzte, multimediale Rekapitulation des vom Ensemble Resonanz und VAN kuratierten und von Patrick Hahn moderierten Gesprächs. Kit Armstrong macht den Anfang – mit Musik aus dem 14. Jahrhundert.

Kit Armstrong: Das ist ein kurzes Beispiel aus dem Oeuvre von Guillaume de Machaut. Er war ein faszinierender Komponist – ich verwende jetzt bewusst diese Bezeichnung, weil er vielleicht einer der ersten in der Musikgeschichte war, der sich als Autor von Musik verstanden hat. In der Ars Nova wurde damals jeder Stimme eine Rolle zugeordnet. Es gab den sogenannten Cantus, die Hauptstimme; den Tenor, die Stimme, die hält und eine spätere Entwicklung war der sogenannte Kontratenor, der sozusagen ›dagegenhält‹. Auch die vorangehende Ars Antiqua war polyphon. Bei der Ars Nova wurde aber zum ersten Mal definiert, wie Rhythmus, Tonhöhe und Mehrstimmigkeit interagieren – etwas vereinfacht gesagt.
Aber es stellt sich natürlich die Frage: Wie autonom ist jede Stimme? Oder: Wer bestimmt die Stimmen? Und die revolutionäre Antwort ist: Die Stimmen werden jetzt nicht mehr von den Ausführenden bestimmt, sondern von einem Komponisten. Extrem war das bei einem Komponisten wie William Byrd, der eine Polyphonie geschrieben hat, die so strengen Regeln folgt, dass Ausführende gar nicht in der Lage gewesen wären, eine solche Musik zu improvisieren. Man musste als Sänger oder Musiker damals das Vertrauen haben, dass das, was der Komponist geschrieben hat, auch stimmt, und einfach das spielen, was in den Noten steht.
Patrick Hahn: Beate, was verstehst Du unter Autonomie?
Beate Rössler: Ich spreche über individuelle Autonomie und meine damit die Möglichkeit oder Fähigkeit, das eigene Leben in Grenzen – über diese Grenzen schreibe ich sehr viel – bestimmen zu können. Und darüber nachdenken zu können und zu wollen, wie man eigentlich selbst leben will, was für einen selbst das gute, gelungene Leben ist. Das bedeutet Autonomie für mich. Es ist für mich ein konkreterer Begriff als der der Freiheit.
Patrick Hahn: In der Geschichte der Philosophie gibt es dann aber welche wie Freud, der gesagt hat: ›Das Ich ist nicht Herr im eigenen Hause.‹ Wenn ich nicht Herr im eigenen Hause bin, wie will ich dann überhaupt ein autonomes, freies Leben gestalten?
Beate Rössler: Die Frage, wie weit man sich eigentlich selbst kennen kann, ist bestimmt eine der möglichen Grenzen der Autonomie. Aber man kann auch von der anderen Seite anfangen.
Autonomie ist für uns in einer liberal-demokratischen Gesellschaft ein Faktum. Wir müssen autonom sein. Wir haben individuelle Rechte, individuelle Pflichten, uns entscheiden zu müssen – bei welcher Krankenversicherung man ist zum Beispiel. Und wir haben vor allem die Idee, dass wir für unser eigenes Leben verantwortlich sind. Ich meine da noch gar nicht moralische Verantwortlichkeit. Die Idee, dass ich die Art und Weise, wie ich lebe, nicht meinen Eltern (wie bei Freud), der Religion, der Gesellschaft oder wem auch immer zum Vorwurf machen kann, sondern mich selber fragen muss: Warum hab ich das eigentlich gewählt? Warum lebe ich hier eigentlich? Was mache ich eigentlich in dieser Beziehung? Das sind Fragen, bei denen haben wir nicht nur das Recht sondern mit diesem Recht in gewisser Weise auch die Pflicht, uns selbst zu entscheiden. Und dieser Begriff von Autonomie ist, glaube ich, sehr alltagstauglich.
Patrick Hahn: In diesem Begriff steckt dann doch mehr als reine Unabhängigkeit.
Beate Rössler: Ja, natürlich, es ist beides. Es ist eine Unabhängigkeit, weil ich mich entscheiden kann, zum Beispiel auch gegen Beziehungen. Oder auch gegen einen Beruf, den man gewählt hat und bei dem man nach 20 Jahren merkt: Das ist eigentlich nicht das, was ich wollte. Sich dagegen entscheiden zu können, ist eine Form von Unabhängigkeit. Aber es ist eine Unabhängigkeit, die wir immer schon in Abhängigkeit von anderen leben. Vor allem in Beziehungen – Familien, Kinder, Eltern, Freundschaften – wir entscheiden nie allein. Auch wenn man den Beruf aufgeben möchte, wacht man ja nicht morgens auf und denkt: Das mache ich. Man diskutiert das mit vielen anderen und dann entwickelt sich eine Entscheidung.
Häufig haben die Leute bei ›Autonomie‹ die Idee des einsamen Cowboys, der unabhängig von der Welt seinen Weg findet. Das ist kein plausibler Begriff von Autonomie.

Saerom Park: Ich weiß nicht, ob ich mich wirklich für mein Instrument entschieden habe oder ob es einfach so passiert ist. Ich kannte nur das, ich hatte keine Wahl. Ich habe das in dem Sinne nicht gewählt, sondern einfach das eine genommen, was ich hatte.
David-Maria Gramse: Für mich war das Leben zuhause erstmal ein Kampf um Autonomie, die ich mir versucht habe zu erstreiten gegen meine autoritären Eltern. Ich weiß nicht, ob meine Freiheit mich zu entscheiden wirklich existiert. Ich hab eher das Gefühl, dass es meine Aufgabe ist, der zu werden, der ich bin. Dafür muss ich natürlich suchen und Entscheidungen treffen, aber ich bin gar nicht sicher, ob ich das wirklich selber erdacht habe.
Beate Rössler: Ich glaube, das ist ein Missverständnis, dass man denkt, man sei nur autonom, wenn man vor einem weißen Blatt Papier sitzt – tabula rasa – und dann überlegt, was man machen könnte. Die meisten Entscheidungen im Leben passieren genau so, wie du das beschrieben hast: Das kommt irgendwie so. Das Autonome daran ist, dass man sich überlegt: Was mache ich hier eigentlich, warum studiere ich zum Beispiel Philosophie?
Ich glaube, es geht bei ganz vielen Entscheidungen nicht darum, dass wir uns irgendwann hingesetzt und uns für etwas entschieden haben, sondern darum, reflektierend anzunehmen und auch zu bestätigen – mehr als nur zu akzeptieren. Oder etwas eben auch nicht anzunehmen. Wenn man sich gegen autoritäre Eltern durchsetzen muss, was die meisten von uns ja mussten, dann ist das auch eine Form von Autonomie gegen etwas.
Und dass es oft Ambivalenzen gibt, dass man sich auch vom eigenen Instrument entfremdet fühlen kann, heißt nicht, dass es nicht meins ist. Es ist immer noch mein autonomes Leben mit diesen Einschränkungen.

Kit Armstrong: Wir Musiker reden fast nie über die sogenannte Work-Life-Balance. Wer darüber nachdenkt, ist wahrscheinlich in einer Situation, wo diese Autonomie nicht in jeder Sphäre die gleiche Rolle spielt. Wenn man schon von Work-Life Balance spricht, heißt das, dass die Autonomie in der Sphäre Work eigentlich nicht wichtig ist. Life ist dann mit Autonomie verbunden.
Beate Rössler: Das liegt daran, dass die Leute vor allem die Tätigkeiten, die sie im Beruf ausführen, nicht als autonom erfahren. Das ist ein Kritikpunkt gegen diese Sorte Arbeit. Ich finde, auch Arbeit sollte autonom sein.
Wenn ich Notärztin bin, dann habe ich auch nur 15 verschiedene Handgriffe, die ich machen muss, aber das kann autonom sein. Ich habe mich dazu entschieden, Ärztin zu sein und das heißt eben: Ich habe mich dazu entschieden, diese ganz vorbestimmten Vorgänge auszuüben. Doch nicht jeder Aspekt des Berufs muss in gleicher Weise autonom gewählt sein, wenn man nicht das Gefühl hat, vollkommen entfremdet zu sein von dem, was man tut. Das Kriterium, was ich in meinem Buch entwickle, ist: Wenn man das Gefühl hat, völlig entfremdet zu sein von den Tätigkeiten oder von dem Beruf, gar nicht mit dem eins zu sein, dann ist das ein Zeichen dafür, dass man nicht mehr autonom agiert in dem Beruf.
Kit Armstrong: Als ich über Work-Life-Balance sprach, meinte ich eigentlich, dass das eine schlechte Sache ist. Mir gefällt diese Trennung zwischen Arbeit und einem Leben, wo man Autonomie hat, nicht. Ich finde die andere Variante viel besser, dass man als Musiker unendliche Arbeitszeiten hat. Ich finde das viel schöner.

David-Maria Gramse: Als darstellende Künstler sind wir unglaublich unfrei im Vergleich zu bildenden Künstlern.
Patrick Hahn: Da stehen die Noten, die hat der Komponist geschrieben …
David-Maria Gramse: … und dann müssen wir das umsetzen. Und dann ist es ja nicht nur so, dass man diese Noten einfach abspielt, man muss unglaublich viele Dinge durchdringen, intellektuell, historisch, man muss das Ganze körperlich umsetzen und hat eine Fülle von Rahmen, in die man irgendwie reinpassen muss.
Kit Armstrong: Was heißt ›muss‹?
David-Maria Gramse: Das heißt: Wenn man davon ausgeht, dass man den Anweisungen eines Komponisten folgen muss, um die Musik in seinem Sinne ideal umzusetzen.
Kit Armstrong: Meinst du das wirklich?
David-Maria Gramse: Ja. Ich glaube, dass man da sehr viel muss, aber dass es, wenn man sich diesen ganzen Regeln und diesem Rahmen unterwirft, einen Moment gibt, wo man Freiheit entdeckt. Aber erstmal muss man die Form meistern.
Patrick Hahn: Das Ensemble Resonanz spielt in der Regel ohne Dirigenten. Diskutiert ihr alles aus?
Saerom Park: Wir sind ein basisdemokratisches Ensemble. Wir sind eine Sammlung von Autonomen. Aber ich frage mich: Wenn wir ohne Dirigenten spielen, bedeutet das wirklich, dass wir dann mehr Freiheit gewonnen haben für jeden Musiker? Ich denke nicht, dass das so ist. Für mich zu sein und mein eigenes Ding zu machen, fängt da an, wo ich meine Freiheit selber begrenzen kann. Das Ganze funktioniert nur dadurch, dass jeder schaut: Wo begrenze ich selbst meine eigene Freiheit, sodass wir dadurch eine gemeinsame Fläche schaffen.
Kit Armstrong: Würdest du sagen, dass so weniger extreme Interpretationen zustande kommen, wenn die Mehrheit damit zufrieden sein muss?
David-Maria Gramse: Ich glaube auch, dass die künstlerischen Ergebnisse besser sind ohne Demokratie in der Probe.
(Gelächter im Saal)
Wir versuchen, Demokratie aus den tatsächlichen Proben weitestgehend rauszuhalten. Da gibt es eine Art von Führung, das wird dann delegiert, auch in den Prozessen, die außerhalb der Probe stattfinden. Es kann natürlich trotzdem sein, dass man ein Kollektiv vorfindet, in dem der Autonomiedrang jedes einzelnen Musikers so groß ist, dass er eben nicht anders musizieren kann als ohne Dirigenten. Und nur so kann er seine künstlerischen Höchstleistungen vollbringen. Die Abwesenheit eines Dirigenten verhindert vielleicht dieses ganz scharfe Profil einer führenden Hand, führt aber dazu, dass 18 Musiker ihre Kräfte entfesseln können.
Beate Rössler: Ich glaube, beide Kontexte ermöglichen auf bestimmte Weise Autonomie. Man kann sich ja auch dafür entscheiden, mit einer brillanten Dirigentin oder einem brillanten Dirigenten zusammenzuarbeiten und dafür die eigenen Ideen erstmal aufzugeben. Das heißt nicht, dass die Arbeit dann weniger autonom ist.
Diese Formen von Autonomie in so einem Ensemble sind nicht anders als die, die wir im täglichen Leben haben. Wir entscheiden uns auch nicht einfach so, bestimmte Kontexte zu verlassen oder darauf zu pfeifen, was andere, unsere Freunde oder unsere Familie, von unseren Entscheidungen halten. Wir agieren zusammen. Wir haben zwar keinen Notentext, den wir interpretieren müssen, aber es ist nicht vollkommen beliebig, wie wir uns verhalten. Das wäre eben genau ein falsches Verständnis von Autonomie als Beliebigkeit.
David-Maria Gramse: Wir haben viel Autonomie außerhalb der Probe. Wir entscheiden selber mit wem wir arbeiten, welche Stücke wir spielen, ob wir um 9 oder um 10 anfangen zu proben und alles andere auch. Und das ist, glaube ich, allen Mitgliedern im Ensemble sehr sehr wichtig.
Ich finde außerdem noch einen Begriff wichtig, nämlich den der Entfremdung. Was wir machen, ist wirklich gar nicht entfremdete Arbeit. Und das ist ein extremes Privileg, ich freue mich jeden Tag darüber. Aber ich kann mich darum nicht unbedingt freier bewegen als andere, ich muss nur andere Regeln befolgen.

Patrick Hahn: Es scheint so zu sein, dass wir Menschen nur einen gewissen Grad an Komplexität aushalten. Man hat ja oft gar nicht die Möglichkeit, drauf zu schauen auf alles, was man an Handlungsmöglichkeiten hat. Sie zitieren da den schönen Satz: Man steckt bis zum Hals drin im eigenen Leben. Was empfehlen Sie den Menschen, die das Gefühl haben: Ich komme mit der Autonomie nicht klar?
Beate Rössler: Heutzutage fühlen wir uns in den hyper-technologisierten Gesellschaften oft überfordert. Die jungen Leute können 35 verschiedene Fächer studieren, weil es diese unglaublich spezialisierten Studiengänge gibt und früher waren es nur 4 oder 5. Ich glaube nicht, dass das eine Überforderung ist. Die Frage ist ja immer: Was wäre die Alternative? Sollen wir den Leuten sagen, was sie studieren sollen? Es wird ja häufig gesagt: ›Die Leute finden das alles zu kompliziert. Ich kann schon damit umgehen. Aber für ›die Leute‹ ist es zu kompliziert.‹ Ich glaube, das stimmt nicht. Man selbst ist in etwa so komplex oder nicht komplex wie alle andere auch. Als Philosophin hat man über bestimmte Sachen mehr nachgedacht als andere, dafür weiß ich dann andere Sachen nicht. Aber ich halte es für eine falsche Annahme, dass nur die Elite darüber nachdenkt, wie sie ihr Leben leben will – alle denken darüber nach und alle kommen mehr oder weniger gut damit zurecht.
Es gibt diesen Begriff des Nudging, des Schubsens: Leute werden vom Staat in eine bestimmte Richtung gebracht, weil sie selber ›zu blöd‹ sind, die Sachen zu entscheiden. Ich finde das schwierig. Eine bestimmte Komplexität kann man in unseren Gesellschaften gut aushalten. Ich glaube nicht, dass Personen durch ein Überangebot überfordert sind, sondern, dass es eine Herausforderung ist, vernünftig mit diesem Angebot umzugehen.

Tim-Erik Winzer: Ich glaube, dass wir uns in dem Gefühl von Unabhängigkeit auf einer intellektuellen Ebene sehr viel leichter tun als auf der Ebene des Instrumentalen, was für uns etwas ist, was wir über sehr viele Jahre trainiert haben, was ein starker Teil unseres Nervensystems ist, unseres Unterbewusstseins, unserer Körperlichkeit. Deswegen glaube ich, dass es schon ein sehr schwieriger Prozess ist, Vorstellungen, die uns widersprechen, umzusetzen. Und ich glaube, das wird immer schwieriger, je näher wir unserem eigenen Kern kommen. Und das ist bei uns Musikern eben oft dieses Instrument, die Verbindung von unserem eigenen Inneren zu diesem Instrument, das wir gewohnt sind zu spielen.
David-Maria Gramse: Konflikte in der Probe gehen einem sehr unter die Haut, weil man mit seinem Instrument sehr verwachsen ist und da wenig Filter dazwischen ist. Dementsprechend hart trifft einen das, wenn man auf eine gegensätzliche Position trifft, mit der man gar nichts anfangen kann. Das passiert. Ich empfinde meine Existenz in diesem Kollektiv aber trotzdem als glücklich, weil ich mich mit der Gemeinschaft verbinde und es mich trägt und stärkt und wenn es einen Konflikt gibt, ist mir das ein Korrektiv. Weil ich mich ja entschieden habe, diesem Kollektiv anzugehören, ist das dann auch das richtige Korrektiv, um etwas zu lernen.
Kit Armstrong: Vielleicht kann ich das aus solistischer Sicht noch etwas ergänzen. Im Orchester ist die Einheitlichkeit sehr wichtig. Das heißt: Es müssen Entscheidungen getroffen werden. Spielen wir diesen Ton kurz oder lang? Bei Solisten ist das anders, auch bei Kammermusik. Bei einer solistischen Darstellung wird am Ende das beste Ergebnis erreicht, wenn jeder das macht, wofür er steht. Das klingt banal, aber was dahinter steht, ist: Es ist ein sehr langer Prozess bis zu dem Punkt, an dem man als Musiker überhaupt für etwas steht. Da steckt viel Psychologisches und vielleicht auch Philosophisches dahinter. Gibt es etwas, wofür ich stehe in der Musik?
Beate Rössler: Dieser lange Weg, als Musiker hinter etwas stehen zu können, nicht nur eine Meinung zu einer Stelle zu haben, sondern zu sagen: Das ist, was ich als Künstler möchte oder wie ich leben möchte – das ist das selbstbestimmte Leben.
Kit Armstrong: Das erinnert mich an einen wunderbaren japanischen Film, Ikiru. Da versucht ein Mensch, der bald sterben wird, herauszufinden, wie er eine Bedeutung in seinem Leben finden kann, indem er genau das tut, was er immer getan hat. ¶