Das erste Mal begegnete ich Griseys Musik an der Musikhochschule. Jede Woche hörten wir dort im Unterricht Neue Musik und meistens ließ mich das ziemlich kalt. Während Werke von Boulez, Stockhausen und anderen Nachkriegs-Titanen an mir vorbeirauschten, versuchte ich, eher um die Zeit totzuschlagen, den unglaublich komplexen Partituren zu folgen.Das änderte sich mit Quatre chants pour franchir le seuil schlagartig. Die Musik war von packender Schönheit und sprach mich emotional direkt an. Auch heute, sechs Jahre später, fasziniert mich Griseys relativ kleines aber beeindruckendes Oeuvre noch immer. In dieser Playlist habe ich einige meiner Lieblingsstücke zusammengestellt. Unterstützt haben mich dabei die Komponisten Joshua Fineberg und Arash Yazdani.
Les Espaces acoustiques, VI. Modulations, V. Transitoires, VI. Épilogue
Pascal Rophé (Dirigent), Ensemble intercontemporain, Orchestre du Conservatoire de Paris
Vor ein paar Jahren musste ich in der Ausländerbehörde in Berlin ein Visum beantragen. Ich stand um 6 Uhr morgens auf, aber als ich in der Behörde eintraf, sagte man mir, ich sei viel zu spät, um noch am selben Tag einen Termin zu bekommen. Ich ging unausgeschlafen und ohne irgendwelche Pläne für den Tag zurück in meine Wohnung, rauchte auf dem Balkon einen schlecht gedrehten Joint, legte mich dann ins Bett und hörte Griseys Zyklus Les Espaces acoustiques.
Manchmal braucht es diese Momente der Entfremdung, Verletzlichkeit oder Einsamkeit, um wirklich in ein Stück eintauchen zu können. Besonders der fünfte Satz, Transitoires, klang lange in mir nach. Ich erinnere mich noch an die Schwingungen in den Hörnern, die harmonisch fein ausgearbeiteten Momente, und die Unfähigkeit meines bekifften Selbst, diese im Vorbeiziehen wirklich zu fassen.
Kann ich diese Musik noch einmal so erleben? Ich weiß es nicht. Wenn ich das Stück jetzt höre, klingt es ganz anders.
Les chants de l’amour
Walter Nußbaum (Dirigent), Schola Heidelberg
Griseys Werke sind aus vielen sich überlagernden Schichten konstruiert. Eine Analyse beschreibt dieses Stück als »28 Abschnitte, in denen eine Skala aus 16 Vokalen immer wieder neu zusammengestellt wird … die Vokale aus dem Satz ›I love you‹. Innerhalb eines jeden Abschnitts wird eine ähnliche Form wiedergegeben …« Grisey plant für gewöhnlich bis ins kleinste Detail und schafft dabei Strukturen, die so komplex sind, dass allein das Nachvollziehen schwerfällt.
Dieses Stück transportiert eine direkte Empfindung. Es gibt keinen Grund, es als ironisch oder zynisch zu deuten. Ich habe ein paar Leute getroffen, die Grisey persönlich kannten. Sie alle berichteten, dass er ein genussvoller, warmherziger Mensch war und sich sehr über leckeres Essen und guten Wein freuen konnte. Das hat ihn nicht daran gehindert, so streng zu komponieren, aber ich denke, man fühlt es doch – seine Werke sind nicht so asketisch wie beispielsweise die Boulez’.
The Pygmies of the Ituri Forest
Ethnic Folkways Library
Es gibt in der Musikwissenschaft die Forschungsmeinung, Les chants de l’amour sei außerdem von »pygmäischer Polyphonie« beeinflusst. Und tatsächlich gibt es Überschneidungen: Griseys computergeneriertes Tonband ist auf eine vertraute Art statisch. Beide Musiken wirken wie gemusterte Wandteppiche: Sie faszinieren sowohl aus der Ferne als auch von ganz Nahem.
L’Icône paradoxale
SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg
»›Wir sind Musiker*innen und darum beschäftigen wir uns mit Klang, Klang statt Literatur, Klang statt Mathematik, Klang statt Theater, Bildende Kunst, Quantenphysik, Geologie, Astrologie oder Akkupunktur.‹ Dieses lustige Zitat stammt von Grisey. Hier spricht der Komponist, der ein Stück mit dem Namen Le Noir de l’Etoile, das um den Klang eines Pulsars gebaut ist, geschrieben hat und ein Werk mit dem Namen L’Icône Paradoxale, das auf einem della-Francesca-Gemälde basiert. Der gesamte Les Espaces acoustiques-Zyklus hat eine große theatralische Komponente; und wenn Grisey länger gelebt hätte, hätte er sich vielleicht auch der Geologie und Akupunktur zugewandt. Man könnte meinen, seine Einstellung zum Komponieren habe sich in den besonders produktiven Jahren nachdem er diese Worte niederschrieb schlicht und einfach geändert, aber ich denke, das ist nicht der Fall. Ich glaube, von dieser Überzeugung ist er bis zum Ende seines Lebens nicht abgewichen. Ich denke nicht, dass er jemals der Meinung war, dass Komponist*innen nicht von außermusikalischen Ideen aus anderen Bereichen profitieren sollten. Er dachte vielmehr, was am Ende zählt, worum es in der Musik letztendlich geht – egal welche Idee einen dorthin gebracht hat –, ist die Wandlung von Klang und seine Wirkung auf die Hörenden. Welche außermusikalischen Ideen auch immer einen dazu verleiten, gewisse Klangobjekte zu erschaffen, sie rechtfertigen sie in keiner Weise.
Er meinte vermutlich, dass ein Musikstück kein Werk der symbolischen Philosophie ist das man zufällig musikalisch aufführen kann. Es ist auch kein mathematischer Proof of Concept den man anhören kann. Es ist Klang, der auf andere Art studiert werden kann, aber seine Daseinsberechtigung dadurch erhält, wie er klanglich in den Ohren und im Geist der Zuhörenden wirkt. Wenn uns diese Idee heute nicht mehr schockiert, ist das ein Zeichen für den Effekt, den Griseys Denkweise auf die Welt der klassischen Musik in den 40 letzten Jahren hatte, denn in den 1980er und 90er Jahre war das eine sehr radikale Position.
Seine Haltung war für mich wie eine Offenbarung, die mein musikalisches Leben völlig verändert hat. Griseys Ansatz und seine Musik bleiben das visionärste und wichtigste Oeuvre des späten 20. Jahrhunderts. Es gibt eine Körperlichkeit und eine architektonische Kraft in seiner Musik, die einen nach wie vor völlig überwältigt.« Joshua Fineberg
Vortex Temporum, II.
Kwam Ryan (Dirigent), Ensemble Recherche
Für dieses Stück stimmt Grisey vier Saiten im Klavier um – das reicht aus, um die Klangwelt komplett zu verändern und in die gleichtemperierten Harmonien lebhafte Farben einzustreuen. Der intensive, ausdrucksstarke zweite Satz ist das ideale Gegengift für all die endlosen Debatten über die jeweiligen Vorzüge von ›Tonalität‹ und ›Atonalität‹ – er macht sie schlicht überflüssig. Einen starken Eindruck hinterlassen bei mir in diesem Satz immer die abwärts gerichteten kleinen Terzen im Klavier. Sie geben dem Stück diese Weite und dieses Archaische, etwas von einem Schamanen, der am Feuer sitzt und eine Geschichte erzählt.
Wie bei vielen Neue Musik Stücken lohnt sich auch bei Vortex Temporum ein Blick in die Yotube-Kommentare. »Das ›Zeug‹ eignet sich perfekt zur Beschallung inhaftierter Terroristen!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!«, ist dort zu lesen oder: »Das klingt wie das Innere eines Granatapfels.«
Hugo Wolf arr. Gérard Grisey, Vier Lieder
Jeannine Hirzel (Mezzosopran), Pierre-Alain Monot (Dirigent), Nouvel Ensemble Contemporain
»Und kecker rauschen die Quellen hervor, / Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr«, heißt es in Eduard Mörikes Um Mitternacht, das Wolf vertont und Grisey wiederum orchestriert hat. Es ist nur ein kleines Detail, aber Grisey lässt die Streicher bei dieser Zeile schnell zwischen Arco und Pizzicato wechseln. Das schafft eine angenehme Hektik, um die Quellen zu illustrieren. Das zeigt, wie gewissenhaft und bedacht Grisey hier arbeitet – ähnlich wie Schubert in seinen Liedern.
Sortie vers la lumiére de jour
Aufnahme einer frühen Version des Stücks, wahrscheinlich aus einer Probe • via Centre de documentation de la musique contemporaine
»Einmal betrat ich nach der Pause die Konzerthalle Gare du Nord in Basel – die nicht unbedingt bekannt ist für ihre gute Schalldämmung –, ein Bier in der Hand und im Gespräch mit Kolleg*innen, um die zweite Hälfte des Konzerts zu hören. Ich verspürte eine unruhig pulsierende Energie, eine Art Interferenz von fast unhörbaren, extrem hohen Frequenzen. Kamen diese Klänge aus dem Konzertsaal? Oder waren es unbeabsichtigte Geräusche aus den Boxen oder der Anlage? Erst nachdem der erste Mensch scheinbar völlig zufällig und ohne Trara eintrat (was im Nachhinein sehr dramatisch wirkt) und zu spielen begann, bemerkte ich, dass das Stück schon lange vor der ersten gespielten Note begonnen hatte.
Weil dieses Werk sehr unbekannt ist, ist es schwer, eine Aufnahme zu bekommen. Dieser Auszug stammt vom Beginn des Stückes – so hört man ihn auch, wenn man den Konzertsaal betritt. Ein paar Minuten später kommt dann die erste bedrohliche und langsame Bass Drum dazu, gefolgt von einer zweiten Base Drum. Andere Musiker*innen kommen nach und nach mit großem zeitlichem Abstand auf die Bühne, als letztes wird das Dirigierpult besetzt.
Dieses unbekannte Juwel ist eines der besten, kompromisslosesten Werke Griseys. Es packt einen noch bevor es beginnt und lässt einen erst irgendwann nach seinem Ende wieder los. Es ist dramatisch und trotzdem schlüssig. Es ist theatral und doch unaufdringlich. Es ist virtuos, aber klanglich fokussiert; traditionell, aber erstaunlich innovativ. Kurz gesagt, es ist das, was man von Grisey erwarten würde, mit mehr Wildheit und Brutalität. Sortie vers la lumiére de jour ist wie ein Schlag in die Magengrube.« – Arash Yazdani
Quatre chants pour franchir le seuil, V. Berceuse
Catherine Dubosc (Sopran), Sylvain Cambreling (Dirigentin), Klangforum Wien
In diesem Satz hat Gilgamesch gerade die Sintflut überstanden. »Ich öffne ein Fenster / und das Tageslicht fällt auf meine Wangen. / Ich falle auf die Knie, bewegungslos, und weine …«,
heißt es in dem Gedicht, das Grisey vertont. Die Stimme wird von wellenartigen Linien begleitet, die sich überlagern und abwechseln. Perkussive Schläge treffen das Ohr wie das reflektierte Licht Gigameschs Gesicht. Der finale Satz von Griseys letztem Werk klingt wie ein Schlaflied, das die Macht hat, alles Leben auf der Erde in den Schlaf zu wiegen.
In seinen gesammelten Schriften, Écrits: ou la invention de la musique spectrale, beschreibt Grisey seine ersten Kompositionsversuche während der Krankheit seiner Großmutter, die schließlich zu ihrem Tode führte. Die beiden standen sich sehr nahe, wie Proust und seine Großmutter, und er versuchte, den Klang ihrer Lieder auf sein Akkordeon zu übertragen. Nach ihrem Tod schriebt Grisey, dass er gemerkt habe, dass »nur die Magie des Klanges in der Lage ist, die verlorene Stimme wiederzubeleben«.
Die Berceuse aus Quatre chants hat kein wirkliches Ende; sie geht einfach immer weiter, bis sie es dann eben nicht mehr tut. Wie Gilgamesch: »Ich schaue zum Horizont / der See, der Welt«. Grisey lugt in diesem Stück soweit er eben kann über die Schwelle zwischen Leben und Tod. Er überschreitet sie nicht, aber er kommt dem Blick auf die andere Seite so nah wie vielleicht niemand vor ihm. ¶