Kaum ein Text hat in der VAN-Vergangenheit so heftige Reaktionen ausgelöst wie unser Interview mit Georg Friedrich Haas im Februar 2016, in dem der Komponist zum ersten Mal öffentlich über seine (lange verleugnete) Sexualität, seine Beziehung zu seiner Frau Mollena, und was beides für sein Komponieren bedeutet, sprach. Die Filmemacher Beatrice Behn und René Gebhardt haben das Paar über ein Jahr lang begleitet. Ihr Film »The Artist & The Pervert« feierte am Wochenende Deutschlandpremiere als Abschlussfilm des Pornfilmfestival Berlin und gewann dort den Preis als bester Dokumentarfilm. Unsere Autorin Anna-Lena Wenzel war bei der Premiere dabei.
Sonntag Abend beim Pornfilmfestival Berlin im Kreuzberger Kino Moviemento ist es brechend voll – schon am Abend vorher war der Film The Artist & The Pervert ausverkauft. Es war die Deutschlandpremiere des Beziehungsporträts einer ungewöhnlichen Ehe: die des österreichischen Komponisten Georg Friedrich Haas und seiner Afro-amerikanischen Frau, der Performerin Mollena Williams-Haas. Bei den beiden prallen gleich mehrere Gegensätze aufeinander: Er ist weiß, sie schwarz; er ist in der Hochkultur unterwegs, sie arbeitete als Kink-Lehrerin und war Ms. Leather 2010; während man ihn wohlhabend nennen kann, erzählt sie, dass sie lange in Armut gelebt hat. Eine Sache, die beide verbindet, ist die sexuelle Vorliebe für BDSM (Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism).
Die beiden haben sich auf der Dating Webseite OkCupid kennengelernt und glaubt man ihren Aussagen, war es Liebe auf den ersten Blick bzw. auf den ersten Sex. Ihre Beziehung basiert auf einem vertraglich festgehaltenen Deal: Sie ist die Untergebene, er der Dominante. Stellen sich bei dieser klaren Rollenaufteilung bei den meisten sofort die Haare zu Berge, zeigt der Film, dass diese beiden eine harmonischere und ebenbürtigere Beziehung führen als viele hetero-normative Paare. Zwar sieht man Mollena Williams-Haas, wie sie kocht, ihren Mann auf Reisen begleitet und ihn managt, doch sieht man sie auch bei ihren kraftvollen Bühnenauftritten und wie sie ihrem Mann unverblümt ihre Meinung sagt. Obwohl sich der Film einem delikaten Thema widmet und im Intro allerlei exotisches Sex-Spielzeug eingeblendet wird, werden die beiden Hauptdarsteller in keiner Szene des Films entblößt oder unangenehm zur Schau gestellt: Im Gegenteil bewundert man die beiden am Ende für ihren Mut, ihre Beziehung öffentlich zu leben, Vorurteilen zu begegnen und sich gegen Rassismus einzusetzen.
Beatrice Behn und René Gebhardt haben die beiden über ein Jahr lang begleitet. Im anschließenden Publikumsgespräch erzählt die Regisseurin, wie der Kontakt zustande gekommen ist: »Er hat auf einem BDSM-Portal ein Konto. Und ich habe ihn da angeschrieben. Traditionell ist es ja so, dass ältere, weiße, dominante Männer nicht so wahnsinnig viele Zuschriften kriegen. Ich habe ihn als Frau angeschrieben, und das hat er sofort gelesen. Dann haben wir uns getroffen und ich habe ihm von der Filmidee erzählt.« So unkonventionell wie diese Kontaktaufnahme scheint der ganze Film zustande gekommen zu sein, denn als die beiden begonnen haben zu drehen, hatten sie weder Förderungen noch ein fertiges Skript. Doch weil sie von den beiden Protagonisten so fasziniert waren, haben sie sich in dieses Projekt gestürzt. Dabei gelingt es ihnen, ihre Begeisterung auf die Zuschauer*innen zu übertragen, ohne dass der Film überzogen wirkt oder ins Kitschige abgleitet.
Die Stärke des Films ist, dass er sich voll auf seine Hauptdarsteller konzentriert – ohne Zeit mit Erklärungen oder Vorurteilen zu vergeuden. Man ist sofort mittendrin, wenn in einer der ersten Szenen eine Aufführung vom Haas’ Stück Release in der Elbphilharmonie gezeigt wird und man in die Intensität dieser polyphonen Neuen Musik eintaucht. Und auch wenn es danach zu den beiden in ihre alles andere als glamouröse Wohnung geht, wird es nicht langweilig, denn diese beiden Ausnahmeerscheinungen, die sich gefunden haben, berühren, weil es so wirkt, als würden sie sich perfekt ergänzen.
Die Dokumentation ihres Alltagslebens wird ergänzt durch Gespräche mit Freund*innen und ihren Müttern. Dabei werden ihre bewegten Familien- bzw. Lebensgeschichten erzählt: Während Haas als Kind unter seinen Nazi-Großeltern und Eltern litt, die ihn körperlich mit Schlägen missbraucht haben, ist Mollena Williams-Haas fast an ihrer Alkoholsucht gestorben. Im Film nimmt sie ihren Mann mit zu dem Haus, in dem sie vor etwa zehn Jahren einen Entzug machte. Der Film endet mit ihrem großen Auftritt bei Wien Modern im Wiener Konzerthaus in dem Stück Hyena, das ihr Mann komponiert hat und in dem sie ihren Weg aus der Alkoholsucht thematisiert. Es ist einer der ersten Auftritte einer schwarzen Frau in diesem Haus überhaupt.


Im Film wird nur angedeutet, mit welchen Schmähungen und Angriffen sich die beiden auseinandersetzen müssen, aber deutlich wird, dass diese Kritik von allen Seiten kommt: aus der feministischen Szene ebenso wie aus der Black Community, aus der Musikkritik genauso wie von österreichischen Lokalpolitiker*innen. Wird ihm unterstellt, sein Outing wäre aus reinen Marketingründen geschehen, wird ihr ihre Unterwerfung unter einen weißen Mann vorgeworfen. Zusätzlich offenbart der Film eine tiefliegende Angst und Unsicherheit im Umgang mit einer sexuellen Vorliebe wie »kink«, die Mollena Williams-Haas so definiert: »Any form of sexuality that deviates from standard heteronormative sexuality and incorporates fetishized aspects of desire.«
Stärker jedoch als die sexuelle Vorliebe steht im Film die Liebe der beiden im Mittelpunkt. Man realisiert sehr schnell, dass hier zwei selbst bewusste Menschen eine Beziehung eingegangen sind, die von gegenseitiger Wertschätzung und Offenheit lebt. In Zeiten von MeToo ist dieser Film ein wertvoller Fingerzeig, wie vorsichtig man mit vorschnellen Vorurteilen sein sollte, und dass gleichzeitig nicht auf Rollenspiele verzichtet werden muss, wenn diese auf gegenseitigem Einverständnis beruhen. Der Film hat noch eine weitere Botschaft: Wartet nicht vierzig Jahre, um zu eurer Sexualität zu stehen, wie es Georg Friedrich Haas getan hat, sondern lebt euch aus. Zu Recht hat der Film am Sonntag Abend den Preis für den besten Dokumentarfilm gewonnen. ¶