Mit seinen virtuosen Variationen über das chilenische Protestlied ¡El pueblo unido jamás será vencido! hat der Komponist und Pianist Frederic Rzewski die diesjährige MaerzMusik eröffnet. Die physische Erschöpfung des Pianisten ist in das Werk hineinkomponiert, so wie es Kräfte raubend ist und Zeit braucht, eine Gesellschaft dazu zu bringen, an einem Strang zu ziehen – heute vielleicht noch mehr als vor 50 Jahren. Ein Interview mit einem Sozialisten, der eigentlich nur komponieren will.
VAN: Sie haben The People United Will Never Be Defeated! auf ein chilenisches Widerstandslied gegen Pinochet 1975 komponiert. Ist es heute ein anderes Stück geworden, weil es in anderen politischen Zeiten erklingt?
Frederic Rzewski: Das ist eine philosophische Frage… Manchmal nehmen Werke eine eigene musikalische Existenz an, und warum oder wie, ist schwierig zu sagen. Als Pierre Degeyter Die Internationale komponiert hat, wusste er sicherlich noch nicht, welche Rolle dieser Song in der Welt einmal spielen würde. Er hat nur die Musik geschrieben. Ein Stück kann ein Eigenleben entfalten, unabhängig vom Komponisten. So wie alles in der Musik auch der Interpretation ausgesetzt ist. Wichtiger als der Urtext der Bibel ist der Kommentar, der Jahrhunderte später im Talmud erschien. Dazu fällt mir ein jüdischer Witz ein. Wollen Sie ihn hören?
Ja.
Ein russischer Jude geht Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem Rabbi und sagt: ›Ich brauche dringend eine Antwort auf diese Frage: Stalin oder Trotzki?‹ Also: Ist es möglich, Sozialismus in einem Land aufzubauen oder nicht? Und der Rabbi sagt: Das ist eine wirklich schwierige Frage. Gib mir mal Zeit, das zu studieren und komm in drei Tagen wieder. So kommt er in drei Tagen wieder und der Rabbi sagt: ›So, du wirst erfreut sein zu hören, dass ich deine Frage drei Tage lang studiert habe. Und ich habe eine Antwort gefunden. Es gibt immer ein Buch, in dem alle Antworten zu finden sind, du musst nur wissen, wo du zu suchen hast. So habe ich den Midrash-Kommentar eines spanischen Juden aus dem 12. Jahrhundert gefunden, der schreibt: ›Es ist möglich, Sozialismus in einem Land zu errichten. Aber während es passiert, ist es besser, in einem anderen Land zu leben.‹‹ (lacht)

Sie haben in den 1960er Jahren in Berlin gelebt, und in dieser Zeit täglich in der DDR gearbeitet.
Ja, und das war nicht so schlecht, wie heute viele glauben. Es ist wichtig, diesen Teil der Geschichte genauer zu erforschen, es wird vieles vergessen. Ich persönlich denke, Rosa Luxemburg war die wichtigste politische Figur des 20. Jahrhunderts. Aber kaum einer weiß, wer sie war, vor allem junge Menschen heute kennen sie kaum mehr. Die Leute wissen nicht genug über die Dinge. Sie glauben nur, was ihnen erzählt wird – und mit Blick auf die DDR wurden die westlichen Werte blindlings übergestülpt. Die bis heute recht einfache Aufspaltung in rechts und links ist dabei nicht sehr hilfreich. Das war es nur im Kontext der Französischen Revolution, als man wortwörtlich sagen musste, ich stehe links oder rechts, ich bin für oder gegen den Umbruch.
Überhaupt ist unsere Geschichte nicht die Fortschritts-Geschichte, für die wir sie oft halten. Sie geht vor und zurück. Wir leben noch immer nach der französischen Philosophie des 18. Jahrhunderts, dem gleichen Kausalitätsdenken wie zur Zeit von Aristoteles. Daraus ist diese absurde Vorstellung von Fortschritt entstanden.
Sie leben heute in Brüssel, in Europa ist der Umgang mit rechtspopulistischen Regierungen und Strömungen in der Tat wieder ein aktuelles Thema. Wie bewerten Sie das?
Ich bin ja nur ein Musiker mit Meinungen. Dieses Thema der ewigen Wiederkehr der Geschichte beschäftigt mich immer mehr, je älter ich werde. Ich denke, Europa hat sich nicht signifikant weiterentwickelt. Wir haben jetzt einen Duce in Italien, und ich finde das sollte uns nicht überraschen. In den Baltischen Staaten passiert etwas Ähnliches. Aber was mich auch wundert, zum Beispiel mit Blick auf Deutschland, ist der Einfluss der USA auf viele politische Fragen, gerade aktuell in Venezuela. Ich denke es wäre gut, die USA aus dem Land zu werfen – die vielen Militärbasen zu schließen. Die NATO sollte man meiner Meinung nach auflösen. Aber wie gesagt: Ich bin nur ein Musiker mit Meinungen. Ich versuche in erster Linie, gute Musik zu schreiben. Aber das, was in der Welt und um mich herum passiert, bleibt das, woher meine Inspiration kommt.
In Interviewüberschriften oder Artikeln über Sie steht dann gerne etwas wie: ›der Komponist, der die Welt retten möchte‹ – ähnlich wie bei Igor Levit. Stört Sie das nicht ein bisschen?
Das ist Propaganda. Pianisten werden oft verkauft als die ›denkenden Männer‹. Das ist so eine Verkaufsstrategie. Ich kenne Igor und ich weiß, er ist sehr clever. Aber macht ihn das zu einem besseren Pianisten? Ich glaube nicht. Mich genauso wenig. Und zum Politiker macht es uns auch nicht.
Wehren Sie sich denn dagegen, wenn so über Sie geschrieben wird?
Das ist nicht so einfach. Bei mir hat es eine lange Geschichte. Ich habe in den 50ern mal in der Carnegie Hall gespielt. Über das Konzert erschien eine sehr gute Kritik in der New York Times. Die Daily News kam auch, ein Blatt vom rechten Flügel, das sich eigentlich überhaupt nicht für Musik interessiert. Sie schickten einen so genannten Kritiker, der eine so genannte Rezension schrieb. Und darin stand: Diese Person ist ein sehr bekannter Kommunist, der direkte Anweisungen aus Moskau erhält. Sie können sich vorstellen, wie mich das amüsiert hat. Auf der anderen Seite bin ich das Etikett dann bis heute nicht mehr so richtig losgeworden. Es ist natürlich totaler Quatsch: Ich bin niemals in der Kommunistischen Partei gewesen, ich schreibe nur Musik.
QUILAPAYÚN WAR MIT INTI-ILLIMANI UND VÍCTOR JARA DIE WICHTIGSTE GRUPPE DER BEWEGUNG NUEVA CANCIÓN CHILENA. SIE VERFASSTEN DEN TEXT ZUR MUSIK VON SERGIO ORTEGA UND SANGEN EL PUEBLO UNIDO 1973 WENIGE TAGE VOR DEM PUTSCH AUF EINER MASSENDEMONSTRATION FÜR DIE REGIERUNG ALLENDE. ALS DAS MILITÄR AM 11. SEPTEMBER PUTSCHTE, WAREN QUILAPAYÚN AUF EINER EUROPATOURNEE IN FRANKREICH UND MUSSTEN BIS 1988 IM EXIL BLEIBEN.
The People United Will Never Be Defeated! gehört selbst für Konzertpianisten zum schwierigen Repertoire. Sie feiern in wenigen Wochen Ihren 81. Geburtstag. Üben Sie eigentlich noch jeden Tag?
Heute muss ich jeden Tag üben, leider. Ich habe das immer schon gehasst. Zum Glück habe ich früh angefangen, Klavier zu lernen – mit vier Jahren. Wenn du etwas sehr, sehr früh lernst, dann brauchst du auch nicht so viel üben, dann können sich deine Hände unabhängig voneinander bewegen und das bleibt. Überhaupt glaube ich, wir sollten alle Konservatorien schließen und alle Klavierwettbewerbe abschaffen. Wir sollten uns konzentrieren auf die frühe Musikerziehung von Kindern. Hier brauchen wir mehr Investitionen.
Sie haben ja immer mal wieder auch unterrichtet, in Yale oder in Liège. Gibt es etwas, was Sie Studierenden gerne auf den Weg gegeben haben?
Naja, ich bin eine sehr faule Person und würde mich nie als wirklichen Lehrer bezeichnen. Ich hatte in den USA auch große Schwierigkeiten mit den Universitäten, ich vermute aus politischen Gründen, aber wer weiß… In Liège hatte ich meinen einzigen festen Job. Meine Unterrichtsmethode war aber eher, die Studierenden arbeiten zu lassen. Ich habe zum Beispiel früh entschieden, keinen Einzelunterricht zu geben, sondern immer Gruppen zu organisieren. Das hat damals auch gut funktioniert, ich habe eigentlich nur Diskussionen angefangen. Provoziert und gewartet. Aber heute haben die jungen Leute Angst zu reden. Es hat sich sehr verändert. Die Studenten früher meinten, sie hätten viel gelernt in den Diskussionen, und so ging es mir auch. Heute sagen sie: Ich habe dafür bezahlt, hier zu studieren, ich will etwas dafür bekommen, was das Geld wert ist. Deshalb passt das nicht mehr so richtig, mit dem Unterrichten und mir. Wenn ich ein vulgärer Marxist wäre, würde ich sagen: Es ist der Kapitalismus.
In einem Interview haben Sie gesagt: ›It’s bad enough, that the avantgarde has crumbled so simply and without sound. But the fact that capitalism still hasn’t been defeated either, that can get you down.‹
Ja, das sage ich auch heute noch. Das Ding ist: Es ist keine Ausbeutung der Arbeiterklasse mehr, sondern eine doppelte Ausbeutung der Menschen, die auch noch dafür bezahlen. Man kann sogar sagen, dass es sich in eine neue Form der Sklaverei verwandelt. Amazon Slavery. Das ist kein purer Kapitalismus mehr. Es fehlt eigentlich der Begriff dafür.
Ihre vielleicht bekanntesten Stücke Coming Together und The People United beziehen sich beide auf das Zusammenkommen der Gesellschaft, sie beschäftigen sich aber auch mit dem Thema Freiheit in Begrenzung: Coming Together handelt von einem Gefängnisinsassen in Attica, der kurz vor einer Revolte in einem Brief schreibt, dass er sich noch nie so frei fühlte, wie im Gefängnis: ›i am deliberate – sometimes even calculating – seldom employing histrionics except as a test of the reactions of others. I read much, exercise, talk to guards and inmates, feeling for the inevitable direction of my life.‹ Die Themen Freiheit und Begrenzung finden sich ja auch in der Komposition wieder, improvisierte Momente wechseln sich mit komponierten Passagen ab.
Genau, in Coming Together geht es darum, so frei wie möglich zu sein in einer sehr einschränkenden Situation. Wir wollen das jetzt nicht musikwissenschaftlich analysieren, das haben schon andere getan, aber Improvisationen gehören für mich zum selbstverständlichen Umgang. Ich improvisiere bei Schumann wie ich bei Bach improvisiere, und in meinen eigenen Stücken wechseln sich diese freien Momente auch immer wieder ab mit streng komponierten Passagen. Ich halte so wenig von der Entwicklung der so genannten ›zeitgenössischen Musik‹ wie von dem Freiheits-Konzept, das wir heute haben. Wo fängt die Sklaverei an? Musikalisch, aber auch technologisch. Wo fängt sie an, wenn wir ohne Smartphones nicht mehr leben können? Wenn meine Enkel sich schämen, weil ich dieses alte Telefon hier habe? (lacht)
Bei The People United haben auch Sie sich einer Vorlage bedient und Variationen darüber geschrieben. So gesehen auch eine Beschränkung, eine selbst gegebene?
Ja, ich bin allerdings keineswegs der Komponist dieses Stückes.
Sondern?
Sergio Ortega! Ich bin nur der Arrangeur. Es ist ein Stück serieller Musik mit einem ziemlich elaborierten Plan geworden, ja. Leute nennen sich Komponisten, als würden sie etwas besitzen. Es geht eigentlich ums Geld, um die ›Autorenrechtsgesellschaft‹. Natürlich sind die ebenfalls Räuber, so wie Herausgeber und Labels. Ich würde das gesamte Copyright-System gerne kollabieren sehen.
Wie stehen Sie zu Ihren eigenen Aufnahmen?
Ich habe unzählige gemacht, aber ich hasse Aufnahmen. Ich denke, es sind Dokumentationen. Von realen musikalischen Erfahrungen. Ich mag die Arbeit im Studio nicht. Ich denke, es sollte nur eine Aufnahme dessen sein, was passiert ist. Mit allen Geräuschen, falschen Noten, weinenden Kindern. In den Studios werden alle falschen Töne herauseditiert. Aber das ist nicht mehr echt, das ist fake! The People United zum Beispiel habe ich so aufgenommen, dass ich es viele Male am Stück gespielt habe und die beste Version ausgewählt habe. Es ist ein langes, schwieriges Stück, der Pianist wird müde. Diese physische Erschöpfung ist Teil des Werkes.
Gibt es Dinge, die Ihnen am Älterwerden gefallen?
Am besten finde ich, noch am Leben zu sein! Viele sterben, wenn sie älter werden. Eigentlich finde ich das Alter weder besonders gut noch besonders schlecht. Natürlich leide ich auch, wie viele ältere Menschen, ich habe Ängste, Depressionen, all das kenne ich. Aber man lernt, damit umzugehen. Das Wichtigste ist, zu arbeiten. Der zweite Punkt ist Humor, in der Lage zu sein, zu lachen. Sigmund Freud hat ein gutes Buch darüber geschrieben. Ein Witz daraus zum Beispiel geht so: Ein Mann macht sich auf den Weg zu seiner Erhängung an einem Montagmorgen und sagt: Was für eine schöne Art, die Woche zu beginnen (lacht). Es geht nicht einfach darum, gerne zu lachen, sondern ums Überleben. Wenn du darüber lachen kannst, alt zu sein, hast du größere Chancen, es auch zu erleben.

Achten Sie darauf, was Sie hinterlassen möchten?
Ich habe einen sehr guten Freund in Japan. Yūji Takahashi, ein großer Komponist. Ich habe ihm geschrieben: ›Was werden wir mit unserer Musik machen?‹ Und er hat mir geantwortet: ›Das ist ganz einfach, du stirbst, und dann werfen sie dich in ein Loch und vergessen dich.‹ (lacht) Das ist Weisheit. Es ist nichts wirklich Neues, sondern das Offensichtliche. Du wirst alt und du lernst, es zu akzeptieren. Die Leute neigen dazu, das Offensichtliche zu verdrängen, sie glauben nicht mehr, was sie sehen.
Einmal noch zurück zu dem Stück von gestern Abend. Inwiefern haben neben Ortegas Song auch die Goldberg-Variationen einen Rahmen gesetzt? Analog zur Aria, die am Anfang und Ende der Goldberg-Variationen auftaucht, endet auch Ihr Zyklus mit dem Anfangs-Stück.
Natürlich sehr. Ich habe mein Abschluss-Examen in Princeton über die Goldberg-Variationen gemacht. Die formalen Ähnlichkeiten sind offensichtlich, auch wenn es 33 statt 36 Variationen sind. Die Zahl 36 wiederum taucht bei Mendelssohn wieder auf, bei seinen Liedern ohne Worte. Das ist ein unglaubliches Werk, völlig unterschätzt, weil es immer als ›nicht seriös‹ gilt. Dabei ist es hochgradig seriöse Musik! Eigentlich sind es 48 Lieder, 8 Bücher mit je 6 Liedern. Aber die letzten zwei Bücher wurden erst von seinem Herausgeber nach Mendelssohn Tod veröffentlicht. Während seines Lebens waren es also 36 Variationen. Und diese Zahl ist wiederum bedeutend in der Kabbala, der mystischen Tradition des Judentums. Daher stammt auch der Titel: Lieder ohne Worte. Mendelssohn hat sie um 1840 geschrieben und nimmt Bezug auf bestimmte Formen des Gebets, die Nigguns, die er sicherlich von seinem sehr gebildeten Großvater Moses Mendelssohn kannte. Diese Nigguns waren Lieder ohne Worte. Ich weiß nicht, warum niemand dieses Meisterwerk spielt, sie sind herausragend.
Gibt es ein Credo, nach dem Sie künstlerische Entscheidungen fällen?
Ich glaube, dass es wichtig ist, niemandem Gehör zu schenken, der dir sagt, dieses oder jenes zu tun. Künstlerische Arbeit unterscheidet sich von anderen Formen der Arbeit. Es geht ja nicht darum, ein Flugzeug von A nach B zu bringen, oder Soldat zu sein. Hier ist es wichtig, zu tun, was Dir gesagt wird. Aber in der Kunst muss es anders sein. Ich höre auf Frank Sinatra: ›Do things your way.‹ Du kannst natürlich das machen, was dir andere sagen, aber dann schreibst du keine gute Musik. Du wirst dich anhören wie Philip Glass. Nichts gegen Philip Glass, aber du wirst ja auch nie sein wie er, sondern immer nur wie Philip Glass.
Haben Sie jemals ihren eigenen Stil als Komponist gefunden?
Nein, nie. Ich habe nichts Originelles komponiert. Alles, was ich gemacht habe, ist von anderen zu klauen. Aber auch Mozart hat links und rechts geklaut und Bach natürlich genauso. Du nimmst etwas, machst es auf deine Art. Die Idee des Genies ist komplett irrelevant in der Kunst. Genio im lateinischen Ursprung war ein Schutzgeist. Es ist etwas, das jeder hat! So ist es das Gegenteil von dem, was wir mit dem Geniekult meinen. Es ist ein bedeutungsloses Wort geworden.
Zum Beispiel wissen wir heute, wer das berühmte Abbild der Nofretete gemacht hat, das im Ägyptischen Museum hängt. Wir kennen seinen Namen, was recht unüblich ist. Er war der königliche Bildhauer, spezialisiert auf ältere Frauen. Aber wenn du diese Büste siehst, siehst du etwas, was du in anderen Nachbildungen nicht mehr findest: Sie hat Augenringe. Sie ist eine klassische Schönheit, ohne Zweifel, aber es gibt Dinge, die falsch sind. Und natürlich geht es um den Tod. Das ist unglaublich. Diese Person war der Michelangelo seiner Zeit. Er hat Platz gelassen für das Falsche. ¶