Foto © Marco Borggreve
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VAN: Wieso haben Sie dieses Stück ausgewählt?

Francesco Piemontesi: Erstens kenne ich es gut, habe es oft gespielt und schließlich auch aufgenommen. Außerdem mag ich es sehr gerne, innerhalb des Zyklus ist es einer meiner Lieblingsmomente. Vor allem ist es aber ein Stück, das eine große Uneindeutigkeit durchzieht. Bis auf ein paar Takte basiert seine Struktur auf einer Ganztonleiter, die alles frei und offenlässt. Es gibt keine funktionalen Abhängigkeiten. Gerade deswegen ist es spannend zu hören, was verschiedene Interpreten mit dieser Freiheit machen. Debussy schreibt ›dans un rythme sans rigueur et caressant‹, zärtlich und ohne Strenge. Jeder muss da seine eigenen Lösungen finden. Es ist eine Studie über Freiheit, über Strenge und Farben.

Schon im Titel findet sich diese Uneindeutigkeit: ›Voiles‹ bedeutet im Französischen sowohl ›Schleier‹ als auch ›Segel‹. Was entstehen bei Ihnen für Bilder?

Ich bin am Lago Maggiore aufgewachsen, ganz nah am Wasser. Am Anfang, vor allem bei diesem wiederholten b im Bass [Takte 5 – 11], stelle ich mir vor, wie ich auf einer Bank am Hafen sitze, und ein Boot klopft mit seinem Holz gegen die Pier. Später bekommt es dann mehr und mehr eine meditative, träumerische Dimension. So als würde die Hauptperson dasitzen und von dem regelmäßigen Schlagen des Holzes, wie bei einer Art Mantra, auf eine meditative Ebene gelangen oder anfangen zu träumen. Es kommen dann Geschichten, Zustände. Plötzlich, in der Mitte des Stücks, gibt es diesen großen Windstoß – übrigens die erste Begegnung mit dem Wind im ganzen Band. Auch das ist zweideutig. Es könnte der physische Wind sein, der einen wieder aufwachen lässt. Es könnte aber auch der Wind als eine Art Geist sein, so wie in Messiaens Le vent de l’Esprit: Die Luft bewegt sich, wir wissen gar nicht genau warum, es geschieht irgendetwas Mysteriöses. Für mich ist es ein wirklicher Wind, man wird davon wach, und driftet danach wieder ins Träumerische ab, eine magische Landschaft, die sich vor einem ausbreitet. Das Stück endet wie es angefangen hat, in einer Art Fragezeichen. Wir wissen nicht, wohin es führt. Es bleibt wie eine Erinnerung, ein Traum, der an einem vorüberzieht.

Debussy spielt Debussy (1912, Welte-Mignon)

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Das ist so absolut wunderbar. Nicht weil er der Komponist ist, manchmal spielen Komponisten ihre eigenen Werke ja ganz komisch. Er schafft sofort eine Atmosphäre, er spielt auf so eine überraschende Art und Weise mit dem Klang, mit Kontrasten, mit Tempi, die nach vorne gehen und dann plötzlich nach hinten. Aber die Struktur zerbricht dabei nicht. Es ist sehr frei, gleichzeitig geht das große Bild nicht verloren. Für ihn ist dieser Windausbruch auf jeden Fall auch etwas sehr Starkes, Physisches, der ist ganz heftig. Ich finde diese Art zu spielen, bei der der Fluss, die Zeit immer in Bewegung sind, ist wirklich ein Stück weit verloren gegangen. Vielleicht durch die präzise Aufnahmetechnik, vielleicht auch durch die ganzen Klangteppiche, von denen wir umgeben sind, die oft diesen strengen elektronischen Puls haben. Wir sind nicht mehr gewohnt, zu gestalten, so wie Liszt es einmal darstellte: ein Baum mit Blättern, da kommt der Wind, die Blätter bewegen sich, aber der Baum steht immer noch, die Bewegungen sind organisch. So stelle ich mir das auch bei diesem Stück vor. Bei Debussys Spiel ist nicht alles wahnsinnig akkurat, aber dafür hat es eine unglaubliche emotionale Kraft. Auch die, die meinen, das allgemeine technische Niveau im Instrumentalspiel habe sich so verbessert, sollten sich mal Debussy anhören.

Was bedeutet es für Sie, wenn es ein Stück gibt, das der Komponist selbst gespielt hat? Ist es Orientierung, Verpflichtung, Provokation, bedeutet es überhaupt irgendwas?

In diesem Fall bedeutet es auf jeden Fall viel. Es ist eine Mahnung an den Interpreten, ›guck mal, wieviel hinter den Noten steht‹. Es ist eine geschriebene Sprache, die im Fall von Debussy auch sehr präzise ist. Manche Töne oder Akkorde haben drei oder vier Vortragsbezeichnungen. Aber trotzdem bleibt es eine tote Seite, man muss das Stück wecken, es muss etwas ganz Persönliches im Sinne der Partitur werden.

Musiker sagen oft, ›für mich steht der Wille des Komponisten über allem‹ … wenn es Stücke gibt, die der Komponist selbst aufgenommen hat, ist das dann der Wille?

Manchmal gibt es auch zwei Aufnahmen des Komponisten, die ganz unterschiedlich sind. Mit Schostakowitsch gibt es eine Aufnahme seiner Cellosonate mit Shafran und eine mit Rostropowitsch. Die mit Shafran ist bedeutend langsamer. Aber wenn wir nicht in diesen Kriterien hören, sondern fragen, ›was will uns Debussy mit dieser Interpretation sagen?‹, dann höre ich eine unglaubliche Farbigkeit, einen Sinn fürs Erzählen, einen Sinn für Kontraste, das sind die Sachen, die wichtig sind. Der will mir sagen, wieviel in diesem Stück drinsteckt. Das bestärkt einen auch in der eigenen Suche. Ich würde es vielleicht nicht so machen, aber ich höre, dass ich unbedingt in diese erzählerische Richtung und in die Klangwelt hineintauchen muss, um diesem Stück gerecht zu werden. Das finde ich inspirierend. Ob dann Takt 3 oder 4 lauter oder leiser ist, als in der Partitur steht, finde ich nicht widersprüchlich.

Jean-Rodolphe Kars (1971)

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Das ist eine ganz andere Herangehensweise. Vielleicht kurz zur Person Jean-Rodolphe Kars, weil man ihn kaum kennt. Kars hat mit 19 einen Preis beim Leeds Wettbewerb gewonnen, hat daraufhin vor allem in Frankreich schlagartig Karriere gemacht, bei den Proms gespielt, hat viel französische Musik, vor allem Messiaen, aber auch Mozart sehr schön gespielt. Und dann irgendwann kam the big call und er ist Priester geworden. Er lebt heute in einer Klosterkirche im Burgund. Wir haben ihn sozusagen an den Katholizismus verloren. Ich habe diese Aufnahme gewählt, weil er das Stück anders sieht, eher wie ein Bild, ein Tableau, das an der Wand hängt. Andererseits ist er so ein Meister des Klangs. Er wird der Vielschichtigkeit der Partitur total gerecht, jede Schicht ist transparent, das macht er wie kein anderer. Als hätte er nicht zehn Finger, sondern das beste Orchester der Welt zur Verfügung. Er kann die Farbe hervorrufen, die er möchte. Das Tempo ist anders, das Erzählerische hat mehr Distanz als bei Debussy, er hat andere Rückschlüsse gezogen, aber alles funktioniert innerhalb dieser Klangwelt. Es ist wirklich rund. Es ist alles schlüssig, es macht alles Sinne, und er ist einen völlig anderen Weg gegangen. Hier ist für mich inspirierend zu sehen, dass diese Musik die Suche nach einem Orchesterklang verträgt, zum Beispiel beim letzten Akkord: Kaum einer schafft es wie er, den wie Hörner klingen zu lassen.

Bilder der Partitur von Marcel Ciampi, die später seine Schülerin Cécile Ousset und nach ihr deren Schüler Francesco Piemontesi geerbt hat. In der Partitur finden sich noch Eintragungen von Debussy selbst, der mit Ciampi an den Préludes gearbeitet hat.
Bilder der Partitur von Marcel Ciampi, die später seine Schülerin Cécile Ousset und nach ihr deren Schüler Francesco Piemontesi geerbt hat. In der Partitur finden sich noch Eintragungen von Debussy selbst, der mit Ciampi an den Préludes gearbeitet hat.

Was ich bei ihm bemerkenswert finde, ist die größere körperliche Zurückhaltung im Spiel, aus der aber eine unglaubliche Spannung entsteht, die vielleicht noch stärker ist, als wenn er sich voll hineingeschmissen hätte.

Absolut, zum Beispiel bei diesem repetierten b am Anfang. Bei Debussy sind die viel freier, er bleibt unglaublich stark im Metrum, aber das schafft eine große Spannung. Man spürt, dass irgendwas passiert, weiß aber nicht, was es ist. Vielleicht etwas Unheimliches, vielleicht eine Idée fixe, die ihm durch den Kopf schwirrt. Wir wissen nicht, was seine Geschichte ist, aber sie scheint eher sinister.

Arturo Benedetti Michelangeli (1978)

Das ist Ende der 70er aufgenommen. Irgendwas ist passiert. Die Aufnahme hat Verdienste, es gibt eine Geschliffenheit, eine Perfektion im Sinne der Realisation, auch im Sinne der Texttreue, die beeindruckend sind. Vielleicht hat es damit zu tun, dass es damals einen Boom der Plattenindustrie gab. Man hatte erstmals die Möglichkeit, über das manuelle Schneiden Produkte zu schaffen, bei denen man das Endresultat kontrollieren konnte. Ich glaube, man spürt das ein bisschen, dieses ›wir wollen den Text festhalten für später und in der reinsten Form auf den Markt bringen‹. Mich persönlich beeindruckt diese Aufnahme nicht. Ich werde nicht mitgenommen davon, bei aller Geschliffenheit, bei aller Perfektion, bei aller Texttreue finde ich doch, dass die Richtung zu sehr darauf fixiert ist. Für mich fällt dieser Versuch zu modernistisch aus. Er passt eher zu einer Musik, die vielleicht dreißig, vierzig Jahre später geschrieben wurde, aber nicht zu Debussy. Das erzählerische Element, das dramatisch Erzählerische bei Debussy und dieses Farbuniversum bei Kars, fällt hier aus. So verstehe ich das Stück aber nicht, bei aller Bewunderung für Michelangeli und seine Verdienste.

Im Vergleich zu den vorherigen beiden Aufnahmen weht einen hier eine unglaubliche Kühle an …

… absolut …

… trotzdem gilt die Aufnahme für viele als ›Referenzaufnahme‹, was auch immer das sein mag.

Ich habe mich auch immer darüber gewundert, warum das als absolute Referenz gilt. Ich fand Michelangeli bei anderen Sachen passender, bei Ravel, im 4. Rachmaninow-Konzert, ich finde die ganz frühen Aufnahmen der Paganini-Variationen von Brahms absolut unerreicht in dieser Perfektion. Aber gerade bei dieser Musik, die zu einem großen Teil auf Sinnlichkeit beruht – wenn man die abstellt, wird es ein Stück ärmer. Ich habe immer gedacht, ›na ja, vielleicht werde ich doch noch warm damit irgendwann‹, aber bis heute ist das nicht passiert.

Cécile Ousset (1985)

Dank ihr habe ich das Stück überhaupt gelernt. Man merkt, dass es ein Mittelweg zwischen der Kühle Michelangelis und dem Erzählerischen von Debussy selber ist. Es hat mehr Sinnlichkeit, es hat mehr Körper, es hat mehr Poesie, aber es geht ihr auch um eine gewisse Perfektion und Geschliffenheit. Ich weiß noch, dass ihr diese zwei Aspekte wichtig waren, als wir an dem Stück gearbeitet haben. Bei Debussy schwang bei ihr immer ein wahnsinniger Respekt mit, in dem Sinne, dass sie sich als Teil einer Linie verstand, die direkt von Debussy ausging: Ihr Lehrer, Marcel Ciampi, hat selbst noch mit Debussy an diesen Stücken gearbeitet. Man spürte bei ihr die Freude, Teil dieser Kette zu sein, aber auch, dass man damit keinen Mist bauen darf. Sie hat einen schönen dunklen Klang, alles aus den Schultern, gefedert, eine unglaubliche Pedaltechnik. Das repetierte b am Anfang, das ich bei Debussy selber ein bisschen zu lang finde, dämpft sie noch ein bisschen ab, darin war sie eine große Meisterin. In den dramatischeren Momenten spielt sie wirklich mit vollem Körpereinsatz, nicht wie Michelangeli mit dem Kopf.

»Marcel Ciampi hat in der Partitur mit verschiedenen Farben gearbeitet, immer, wenn er sich die Stücke nach ein paar Jahren wieder vornahm, hat er eine neue Farbe benutzt.«
»Marcel Ciampi hat in der Partitur mit verschiedenen Farben gearbeitet, immer, wenn er sich die Stücke nach ein paar Jahren wieder vornahm, hat er eine neue Farbe benutzt.«

Was wirkt bei Ihnen aus dem Unterricht mit ihr ins Heute nach?

Bei ihr habe ich alles von der Pike auf gelernt. Ich kam zu ihr als ich 14 war. Ich wollte damals viel sagen, konnte es aber technisch nicht umsetzen, weil ich viel zu verspannt war. Ich bekam sogar eine Sehnenscheidenentzündung, es war ganz schlimm. Sie spielte damals ein Recital im Tessin. Ich war zufällig da, und sah und hörte sofort, dass bei ihr vom Gedanken bis zur Realisation kein Prozent verloren ging. Ich bin am Ende des Konzerts zu ihr hingegangen und habe ihr das gesagt. Sie hat gesehen, dass ich gelitten habe. Ein paar Monate später habe ich ihr in Frankreich vorgespielt. Sie hat mir dann ganz deutlich gesagt: Du hast Talent, aus dir kann was werden, aber es gibt zwei Möglichkeiten: Die erste ist, du hörst auf Klavier zu spielen für ein halbes, dreiviertel Jahr. Wir machen in dieser Zeit nur Technik und bringen alles in Ordnung, was jetzt nicht in Ordnung ist. Oder aus dir wird nie ein Pianist. Ich habe ihr vollkommen vertraut. Andere wären vielleicht am Boden zerstört gewesen, aber ich war so froh, dass mir jemand die Wahrheit sagt, während alle anderen um mich herum immer nur gesagt haben, ›mach dir keine Sorgen‹ – aber ich machte mir Sorgen, ich wusste, es fehlt was. Im Prinzip schulde ich ihr alles. Ich spiele ihr jetzt vielleicht ein, zwei Mal im Jahr etwas vor, ab und zu kommt sie zu Konzerten oder Generalproben, wenn ich sie brauche ist sie da.

Stimmt es, dass Sie von ihr eine Partitur der Preludes geerbt haben, in der noch Eintragungen von Debussy sind?

Ja, es ist die Partitur, die sie selbst von Marcel Ciampi geerbt hat. Bei dem Stück schreibt Debussy nichts, aber vor allem im zweiten Buch gibt es öfter Eintragungen die Atmosphäre oder den Charakter eines Stücks betreffend. Das finde ich natürlich spannend, dass man durch zwei Menschen hindurch mit Debussy verbunden ist, dass alles gar nicht so weit auseinander liegt. Ciampi ist kurz vor meiner Geburt gestorben, und er kannte in seiner Jugend noch Debussy! Er hat in der Partitur mit verschiedenen Farben gearbeitet, immer, wenn er sich die Stücke nach ein paar Jahren wieder vornahm, hat er eine neue Farbe benutzt. Die Schrift Debussys ist hingegen ganz dünn.

»Das finde ich natürlich spannend, dass man durch zwei Menschen hindurch mit Debussy verbunden ist, dass alles gar nicht so weit auseinander liegt.«
»Das finde ich natürlich spannend, dass man durch zwei Menschen hindurch mit Debussy verbunden ist, dass alles gar nicht so weit auseinander liegt.«

Ein riesiger Auraschweif.

Total, auch eine große Verantwortung.

Jetzt müssen wir natürlich auch Ihre eigene Aufnahme hören.

Oh nein, das ist so schwer, darüber was zu sagen.

Francesco Piemontesi (2014)

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Müssen wir da jetzt durch? Ich habe ungefähr zehn Jahre gebraucht zwischen dem ersten Mal spielen und der Aufnahme. Ich finde, die Linie zu Céline Ousset ist doch erkennbar, auch, wenn es eine persönliche Richtung einschlägt. Ich habe versucht, es noch mehr als sie von dieser Geschliffenheit zu befreien, noch um einiges freier zu sein, manchmal auch mit der Expression etwas zu übertreiben, wenn der Windausbruch kommt, ihm wirklich die Körperlichkeit zu geben. Ein Kompromiss zwischen Strenge und Freiheit, zwischen Körperlichkeit und allein-sprechen-lassen, ohne zu viel Kram reinzumachen. Ich habe mit Ousset einmal über Träume gesprochen. Sie hat mir erzählt, dass sie oft in dunklen Farben träumt, während Träume bei mir oft sehr hell sind. Vielleicht klingt es deshalb bei mir auch heller, mehr nach Glocken als bei ihr.

»Oussets Lehrer, Marcel Ciampi, hat selbst noch mit Debussy an diesen Stücken gearbeitet. Man spürte bei ihr die Freude, Teil dieser Kette zu sein, aber auch, dass man damit keinen Mist bauen darf.«
»Oussets Lehrer, Marcel Ciampi, hat selbst noch mit Debussy an diesen Stücken gearbeitet. Man spürte bei ihr die Freude, Teil dieser Kette zu sein, aber auch, dass man damit keinen Mist bauen darf.«

Was würden Sie heute anders machen?

Ich würde mich unglaublich freuen, noch einmal eine analoge Aufnahme zu machen mit älteren Mikrofonen. Dieser ganze digitale Kram, immer mehr Präzision und Kühle im Klang, ist für uns Künstler auf jeden Fall ein Desaster. Wenn sie sich die Liszt-Aufnahmen von Kempff aus den 1950ern anhören, das finde ich bis heute den schönsten Klavierklang, den es gibt. Und zwar, weil er immer noch irgendwas in der Luft hängen lässt. Man bekommt nicht alle Parameter des Stückes, wir bekomme nicht alle Informationen des Klanges, es gibt diese Grauzone, unser Ohr muss selbst etwas rekonstruieren, wir müssen selber einen Teil der Arbeit machen, damit die Aufnahme schön klingt. Zum Beispiel hier bei Voiles am Anfang, diese doppelte Tonleiter: Im Konzert würde ich es noch mehr verschweben lassen, weniger präzise, so eine Art glissando. Ich habe das auch probiert während der Aufnahme. Wenn sie das mit der modernen Aufnahmetechnik machen, dann klingt es einfach wie nicht gekonnt. Es klingt so, als würden sie sich vergreifen und nicht geübt haben. Diese extreme Fokussierung auf jeden Parameter des Klangs beraubt uns der Magie.

Es wundert mich ohnehin, dass gerade in der klassischen Musik nicht wieder mehr analog aufgenommen wird, dass man noch nicht weggekommen ist von diesem sterilen Tonstudio-Klangideal.

Andersrum habe ich Experimente gesehen, in denen man zum Beispiel versucht hat, frühen Aufnahmen von Cortot, die teilweise so wunderbar sind, das Rauschen wegzunehmen. Bei der restaurierten Aufnahme denkt man, der Mann kann nicht spielen, der schummelt nur die ganze Zeit! Bei den Originalaufnahmen, mit den Grauzonen, merken Sie, wie eine Welt entsteht. Und ich glaube, der Mann war klug genug, um das zu wissen. Er hat damit gespielt. Es ist traurig zu sehen, wie so ein steriler Klang die ganze Poesie zerstört. Und genauso klingt es für mich, wenn ich in ganz modernen Sälen spiele. Der Saal in Hamburg hat so viele Millionen gekostet, aber er ist so dermaßen trocken. Die zweite Klaviersonate von Boulez kann ich mir da fantastisch vorstellen, aber es ist leider zu präzise. Der Saal ist architektonisch so sinnlich, aber die Klangästhetik bleibt kalt. Ich hoffe, man kommt irgendwann weg von diesem modernistischen Klangideal.

Walter Gieseking (1953)

Der Kreis schließt sich. Ich finde, das ist eine ähnliche Sicht auf das Stück wie bei Debussy, im Sinne der Freiheit, des Erzählerischen. Es hat auch eine ähnliche Wirkung. Aber er macht ganz andere Dinge mit dem Tempo und den Rubati. Der erste Lauf ist bei ihm überhaupt nicht präzise, aber mit dieser Art von Klangerzeugung stört das überhaupt nicht. Vor allem im ersten Teil hat es mehr Unruhe in sich, aber eine unglaublich starke erzählerische Kraft. Merken Sie, wie viel die Klangeinstellung macht, wie viele Phantasiemöglichkeiten sie in uns weckt? Ich mag es auch, im Konzert ganz weit weg zu sitzen und von unerwarteten Klängen überrascht zu werden. Gerade das macht es doch so spannend, man weiß nicht was kommt. Diese Manie, ›Ich will im Konzertsaal alles hören wie auf der Platte zu Hause‹ ist Quatsch ohne Ende. Im musikalischen, klangtechnischen Sinn ist Fortschritt manchmal nicht das Beste. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com