Einleitung zur Serie

Die sogenannte »Alte Musik« hat großes Pech mit ihrer Etikettierung. Wer will schon alt sein? Gemeint war der Begriff ursprünglich mal als Kampfansage an das musikalische Klassik-Establishment, eine Abgrenzung, ein Ausrufezeichen des »wir-sind-anders«. Etwas subversiv-alternativ, manchmal vielleicht auch naiv. Inzwischen hat sich die Alte Musik selber ins Establishment geschlichen, in die Hochschulen, die Konzertsäle und die Medien.

Unendlich viele Aufnahmen Alter Musik sind erschienen, Dutzende mehr oder weniger stark unterschiedliche Vergleichsaufnahmen der Hauptwerke, selbst Musik von Komponisten aus der dritten Reihe ist vielfach eingespielt worden, Entdeckungen werden immer seltener.

Vielleicht ist es deshalb wichtig, im Dschungel der Vielfalt etwas Orientierung zu bieten. Dies ist die dritte Folge von FAT CREAM, einer Reihe, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder enzyklopädischen Charakter erhebt. Sie ist kompromisslos aus Lieblingsstücken, Lieblingsaufnahmen, Lieblingskünstlern oder autobiografisch gefärbten Hörerlebnissen zusammengestellt. 

Musik, die glücklich machen kann, Musik die mir wichtig erscheint, für mich wichtig ist oder war. Und Klangwelten, in die man hineingezogen wird. Die spannende Frage an mich selber dabei ist: Gibt es Aufnahmen, die auch über längere Zeiträume hinweg alle Moden, sich verändernde Hörgewohnheiten, technische Errungenschaften und Geschmacksentwicklungen überdauern? Welche Aufnahmen haben das Potential eines »Klassikers«? Mit dieser Fragestellung durchforste ich jetzt neuerdings mein Gedächtnis wie meine Alte-Musik-CD-Sammlung und befrage Freunde und Kolleg/innen. Und begegne altvertrauten musikalischen Begleitern wieder, die ich fast vergessen hatte – obwohl ich ihnen viel zu verdanken habe.


Georg Philipp Telemann: Bläserkonzerte

Musica Antiqua Köln, Reinhard Goebel (Leitung)
Archiv Produktion, 1987

Zugegeben, mit dieser Folge habe ich mich etwas gequält. Es sollte eine wirkliche Lieblings-CD sein , die zum Jahreswechsel passt. Eine Aufnahme, die einen Meilenstein darstellt und gleichzeitig immer noch ein bisschen in die Zukunft weist. Mit Musik, die beschwingt und das Potential zum Glücklich machen hat. Wahrscheinlich zu viel verlangt für einen im Aussterben begriffenen Silberling, auf dem 70 Minuten Musik für die Ewigkeit eingeschlossen sind. Noch dazu mit Alter Musik.

Und was macht man, wenn man sich nicht entscheiden kann? Wenn das Angebot zu groß und unübersichtlich ist? Wenn man auf gar keinen Fall eine falsche Wahl treffen möchte? Man nimmt einen Klassiker. Wie beim Cocktail trinken oder Pizza bestellen … 

In der Alten Musik macht man auf jeden Fall nichts falsch, wenn man in dieser Situation zu einem Produkt des legendären und inzwischen aufgelösten Ensembles Musica Antiqua Köln greift. Denn zumindest die Aufnahmen aus den 80er und frühen 90er Jahren versprechen fast ausnahmslos erstklassige, aufregende Musik, die auf absolut außergewöhnliche Weise gespielt wurde; nicht zu verwechselnde Ausnahmetracks, die innerhalb von vier Takten aus Dutzenden inzwischen vorliegenden Vergleichsaufnahmen herauszuhören sind. Sie setzen Maßstäbe in der Interpretation und sind gleichzeitig Dokumente einer Zeit,  vor deren Hintergrund sie auch als klingende Korrekturen der Musikgeschichte zu deuten sind.

In diesem Fall also: Telemann. Georg Philipp Telemann um genau zu sein, der erst in Magdeburg, dann als Direktor der Kirchenmusik in Hamburg einer der produktivsten Komponisten seiner Zeit war. Und auch einer der bedeutendsten. Von Bach geschätzt, Pate dessen später ebenfalls berühmt gewordenen Sohnes Carl Philipp Emanuel, von Zeitgenossen weithin gerühmt – aber von der Musikgeschichte lange Zeit als »Vielschreiber« von zu langer und langweiliger Blockflötenkammermusik geschmäht. Dieses Bild ist inzwischen korrigiert: Telemann war einer der einfallsreichsten und originellsten Komponisten des 18. Jahrhunderts, der neben Kantaten, Opern, Oratorien und Kammermusik auch viele lautmalerische, impulsive, hochvirtuose und farbenreiche Instrumentalmusik ersann.

Als eines der frühesten, flammendsten und wichtigsten Plädoyers für diesen Komponisten darf die heute zu empfehlende Aufnahme von 1987 gelten. Eines der darauf zu findenden Konzerte, das Doppelkonzert für Block- und Traversflöte, ist inzwischen ein Klassiker der Alten Musik und gehört zum Kernrepertoire der meisten Barockorchester. Es ist ein in Besetzung und Form ungewöhnliches Stück, das wie viele andere Instrumentalstücke Telemanns eindeutig von Volksmusik inspiriert ist. Mein persönliches Highlight aber als klangliche Entdeckung ist das Konzert für zwei Chalumeaux. Dieses Instrument habe ich auf dieser CD überhaupt das allererste Mal gehört. Es besteht aus einem zylindrisch gebohrten Rohr, sieben Grifflöchern auf der Vorderseite, einem Daumenloch auf der Rückseite, zwei Klappen und einem Doppelrohrblatt wie bei einer Klarinette. Es gilt als historischer Vorläufer der Klarinette, der sanfte Klang aber erinnert mehr an ein Duduk, das armenische Nationalinstrument. Auf jeden Fall bezaubernd und manchmal sehr anrührend. Alte Musik at its best. ¶

... gründete nach Stationen als Techniker, Barockgeiger, Musikwissenschaftsstudent und Konzertagenturbetreiber gemeinsam mit Jochen Sandig 2006 das Radialsystem in Berlin. Er war Künstlerischer Leiter des Radialsystems, des Musikfest ION in Nürnberg und ist Intendant der Köthener Bachfesttage. Außerdem leitet er gemeinsam mit Hans-Joachim Gögl die Montforter Zwischentöne in Feldkirch/Vorarlberg.