Zu Besuch beim Borusan İstanbul Filarmoni Orkestrası in Istanbul

Text Tobias Ruderer

Seit dem Jahr 2000 gibt es das Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra, und seit ein paar Jahren werden die Spuren einer internationalen Rezeption breiter. Das aus einem Kammerensemble hervorgegangene Orchester ist eigentlich ein Kulturprojekt, ins Leben gerufen von Borusan Sanat (Borusan Arts and Culture), der Kulturstiftung der Borusan Holding, mit Tochterfirmen in Logistik, Stahl und Energie. Im letzten Jahr war das BIFO (Borusan İstanbul Filarmoni Orkestrası) bei den BBC Proms, es erschien die dritte CD-Einspielung, Rimsky-Korsakovs Scheherazade (außerdem Musik von Balakirev, Erkin, Ippolitov-Ivanov). In diesem Jahr schließlich ging eine Einladung an VAN, sich das einmal vor Ort anzuschauen. Ich habe dankend angenommen und gut gelebt. Zwei Konzerte habe ich besucht: ein Sinfoniekonzert in der Istanbul Lütfi Kırdar (ICEC), einem Kultur- und Kongresszentrum und eines im Borusan Music House, einem schicken Altbaugebäude in der İstiklal Caddesi (»Unabhängigkeitsstraße«), dem Epizentrum des europäisch geprägten Teils der Stadt unweit des Taksim-Platzes. Ich sprach mit Ahmet Erenli, dem Direktor von Borusan Sanat auf der Suche nach Konflikten, traf allerdings auf große Entspanntheit.

VAN: Polyphone westliche Musik einem türkischen Publikum näherzubringen ist eines der Ziele Ihres Orchesters. Wie weit sind Sie damit seit der Gründung gekommen?

Weit war diese Musik eh nie vom türkischen Publikum, auch zu osmanischen Zeiten. Der Bruder von Donizetti (Guiseppe) war Kapellmeister (sagt es auf deutsch) am osmanischen Hof. Viele Opern von (Gaetano) Donizetti selbst wurden direkt nach der Uraufführung in Mailand in Istanbul aufgeführt. 

Vielleicht ist westliche Kunstmusik nicht in allen Städten so groß wie in Deutschland, aber sie war immer nah bei uns und Teil der türkischen Kultur. Das Presidential Symphony Orchestra (in Ankara) ist zum Beispiel 160 Jahre alt. 

Sie halten als Kulturmanager Vorlesungen an Universitäten und laden die Studenten zu den Konzerten ein. Was für Zugänge gibt es dort?

Also erst einmal sind mir die staatlichen Hochschulen in dem Zusammenhang lieber. Da ist das Niveau höher als an den privaten Stiftungsuniversitäten, die Studenten sind mit größerer Begeisterung dabei. Sie kommen gerne zu uns ins Konzert, auch wenn es nur ein, zwei Mal im Jahr ist. Natürlich gibt es auch hier dieses Image von klassischer Musik: Klassische Musik ist für die Oberklasse, klassische Musik ist immer feierlich. Dabei kriegt man für 10 Euro Tickets für Sinfoniekonzerte!

Gibt es in Istanbul ein Publikum, das die Sinfoniekonzerte besucht und gleichzeitig auch mit den zeitgenössischen, experimentelleren Sachen etwas anfangen kann, die im Borusan Music House passieren?

Ehrlich gesagt kommt das selten vor. Obwohl, bei den beiden Schwestern Labèque als Solistinnen gab es Leute, die waren am Freitag in der Philharmonie und am Samstag im Music House; Philip Glass ist auch klassisch und so ein Brückenkopf. Aber eigentlich ist es so, dass das Publikum total anders ist, sobald wir Neue Musik machen.

Katia und Marielle Labèque waren am 19.11. die Solistinnen beim Sinfoniekonzert im Kongresszentrum: Ausnahmsweise dirigierte nicht der seit 2009 amtierende Chefdirigent Sascha Goetzel, sondern Gürer Aykal. Man kann sich gut vorstellen, dass er auf diesem Podium grundlegende Pionierarbeit vermittelt hat, es ist alte Schule in jeder Geste, und das Orchester ist nett zu ihm. Beim Mozart-Divertimento lässt er abweichend von der Partitur im letzten Satz eine Streicherin die auf einem Ton bleibende Melodie akzentuieren, was zwar etwas komisch rüberkommt, sich aber als genialer Ohrwurm-Schachzug erweist. Bei der 1. Sinfonie von Mendelssohn wirkt es manchmal, als komme aus dem Orchester die Einladung: »Komm Papa, ich führ dich mal durch meine neue Wohnung«, und er lässt sich mitreißen. Der Abend beginnt allerdings mit einem Klavierkonzert von Philip Glass, einer europäischen Uraufführung, die aber nicht so genannt werden soll, weil neben Borusan auch noch das Orchestre de Paris, die Göteborger Sinfoniker und das Orquesta Nacional de España das Werk mitbeauftragt haben. Philip Glass ist ein anderes Thema oder vielleicht auch gar keins.

Am zweiten Abend ist ›Minimalist Dream House‹ (siehe Bild oben) im offenen, steilen Borusan Music House. Die französischen Landsleute David Chalim (Gitarre, Gesang), Alexandre Maillard (E-Bass) und Raphel Seguinier (Schlagzeug, Syntie) sind bei den beiden Schwestern zu Gast und spielen Musik aus der Grauzone; ›Minimal‹ ist dabei nur ein Ausgangspunkt. Es gibt zum Beispiel wunderschöne kleine Klavierstücke von Satie, Cage und Pärt, die – wer sonst – am Ende des ersten Teils Philip Glass in 4 Movements wieder gleichgültig glattbügelt. Eine solide Manifestation von Terry Rileys In C leitet den zweiten Teil ein. Danach wird die populäre Avantgarde (Eno, Radiohead, Sonic Youth) mit sehr guten Eigenkompositionen der drei jungen Franzosen kombiniert. Die beiden Mitte-60-jährigen Schwestern sitzen an zwei Flügeln vor der Band und haben ein fantastisches Gespür für Soundwände, Soundschichten, Interferenzen.

Gibt es Konflikte zwischen der traditionellen türkischen Kultur, die von Erdogan immer weitergetrieben wird und ihrer Orientierung Richtung Westen?

Nein, es ist schon so, dass unser Publikum sich stark Richtung Westen orientiert, während der Rest der Türkei etwas konservativer ist, aber was soll’s?

Fürchten Sie nicht darum, dass man Ihrer Arbeit irgendwann von offizieller Seite die Legitimation entzieht?

Nein, wenn das geschieht, dann hätte sich die Welt auch an anderen Stellen komplett verändert.

Glauben Sie nicht, dass es Einflussnahmen aus der Kulturpolitik geben könnte?

Na ja, ich habe die türkische Kulturpolitik noch nie gesehen – und damit meine ich nicht nur diese Regierung. Das war schon immer so, seit meiner Kindheit: Ich habe noch nie von türkischer Kulturpolitik gelesen, nichts darüber gehört. Die Regierun
g bezahlt die Gehälter der staatlichen Orchester, das ist es dann auch. Aber sie nehmen auch keinen Einfluss, das heißt aus meiner Sicht kann in der Musik jeder tun, was er will.

Es gibt nur wenig festangestellte Musiker/innen beim Orchester, die meisten werden projektweise dazu geholt. (Das Jahresbudget liegt derzeit bei 8 Millionen Dollar.) Dennoch, so erklärt mir Ahmed Erenli, ist das Niveau und das Profil des BIFO ausgeprägter als das der anderen türkischen Klangkörper, die ausschließlich mit Gastdirigenten arbeiten, in denen es so etwas wie einen Künstlerischen Leiter nicht gibt. Was beim Sinfoniekonzert vielleicht deswegen ebenfalls etwas überholt, zu alt, zu eng für das BIFO schien, war der Saal, in dem früher Ringerwettbewerbe ausgetragen wurden. Die Akustik war nicht besonders gut, trug nicht weit, vieles erhärtete, verschloss sich, bevor es verhallte.

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In Istanbul war zu hören, dass Sie mit dem Gedanken spielen, ein neues Konzerthaus zu bauen …

Wissen Sie, das ist schon fast immer unser Traum. Es ist aber so schwierig, Baugrund im Zentrum der Stadt zu finden. Klar, wenn wir mal was finden, dann denken wir darüber nach; aber jetzt ist es ohnehin noch zu früh.

Wäre es nicht schwierig, eine Baugenehmigung zu bekommen?

Das vielleicht nicht, aber es wäre schon schwierig hinzubekommen, dass die Halle nur für klassische Musik genutzt würde. Jeder will so einen Ort mieten in der Türkei, es würde als Luxus angesehen, etwas nur für Musik zu haben.

Musiker/innen haben bei den Protesten am Taksim-Platz gespielt? 

Ja klar.

Das gab keine Probleme?

Nein, der Leiter eines Orchesters aus Antalya – ich weiß nicht mehr, ob es das Opern- oder das Staatssymphonie-Orchester war – hat uns allerdings auch über eines seiner Mitglieder rechtzeitig vor einer der Räumungen gewarnt, insofern hatte das keine großen Folgen. ¶


Zwischen dem 12. und dem 19. Februar ist das Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra auf Tour in Wien und durch Deutschland. Mehr in unseren Februar-VANstaltungen.

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