Einleitung zur Serie

Die sogenannte »Alte Musik« hat großes Pech mit ihrer Etikettierung. Wer will schon alt sein? Gemeint war der Begriff ursprünglich mal als Kampfansage an das musikalische Klassik-Establishment, eine Abgrenzung, ein Ausrufezeichen des »wir-sind-anders«. Etwas subversiv-alternativ, manchmal vielleicht auch naiv. Inzwischen hat sich die Alte Musik selber ins Establishment geschlichen, in die Hochschulen, die Konzertsäle und die Medien.

Unendlich viele Aufnahmen Alter Musik sind erschienen, Dutzende mehr oder weniger stark unterschiedliche Vergleichsaufnahmen der Hauptwerke, selbst Musik von Komponisten aus der dritten Reihe ist vielfach eingespielt worden, Entdeckungen werden immer seltener.

Vielleicht ist es deshalb wichtig, im Dschungel der Vielfalt etwas Orientierung zu bieten. Dies ist die dritte Folge von FAT CREAM, einer Reihe, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder enzyklopädischen Charakter erhebt. Sie ist kompromisslos aus Lieblingsstücken, Lieblingsaufnahmen, Lieblingskünstlern oder autobiografisch gefärbten Hörerlebnissen zusammengestellt. 

Musik, die glücklich machen kann, Musik die mir wichtig erscheint, für mich wichtig ist oder war. Und Klangwelten, in die man hineingezogen wird. Die spannende Frage an mich selber dabei ist: Gibt es Aufnahmen, die auch über längere Zeiträume hinweg alle Moden, sich verändernde Hörgewohnheiten, technische Errungenschaften und Geschmacksentwicklungen überdauern? Welche Aufnahmen haben das Potential eines »Klassikers«? Mit dieser Fragestellung durchforste ich jetzt neuerdings mein Gedächtnis wie meine Alte-Musik-CD-Sammlung und befrage Freunde und Kolleg/innen. Und begegne altvertrauten musikalischen Begleitern wieder, die ich fast vergessen hatte – obwohl ich ihnen viel zu verdanken habe.


My mind to me a kingdom is

Stephen Stubbs (Leitung, Laute), David Cordier (Countertenor), Ensemble Tragicomedia; Hyperion Records (1988)


Anon: My mind to me a kingdom is (Text: Sir Edward Dyer); Stephen Stubbs (Leitung, Laute), David Cordier (Countertenor), Ensemble Tragicomedia • Link zum Album bei Hyperion Records

Die heutige Ausgabe von Fat Cream ist inspiriert durch die aktuellen Ereignisse der letzten Wochen. Seit einigen Jahren kooperiere ich mit einem wunderbar modernen Arts Space in Istanbul, gelegen an der berühmten Fußgängerzone im Ausgehviertel Beyoğlu, unweit vom Taksim Platz und Gezi Park. In den letzten Wochen haben wir an einem neuen gemeinsamen Projekt gearbeitet, ein musikalisches Austauschprogramm zwischen Berlin und Istanbul.

Seit den ersten Stunden des Putschversuches habe ich mehrmals am Tag die Nachrichten verfolgt. Schnell wich bei mir wie bei meinen türkischen Freunden die Erleichterung über das Scheitern der Militärs dem Entsetzen über die nachfolgenden »Säuberungsaktionen« der Regierung. Quasi über Nacht wurden Zehntausende aus dem Staatsdienst entlassen oder sogar inhaftiert. Zeitungen und Radiosender wurden geschossen, kritische Journalisten verhaftet. Uns erreichten über private Kanäle Berichte, nach denen Menschen wegen regierungskritischer Facebook-Posts polizeiliche Vorladungen erhalten haben. Mitarbeiter öffentlicher Institutionen dürfen nicht mehr ausreisen. Tausende Pässe wurden gesperrt. Inzwischen regiert nur noch die Angst. In den letzten zwei Wochen haben wir keine Projektpapiere mehr per Mail ausgetauscht. Es ging unter anderem um die Istanbuler Protest- und Queer-Szene. Undenkbar. Telefoniert wurde nur noch über private Handys, möglichst kurz. Das gemeinsame Projekt musste abgesagt werden. Was ist das für eine Welt? Die Restaurants in Istanbul sind leer, niemand weiß, wie es weitergeht. Die Kulturmanager bangen um ihre Jobs. Inzwischen erreichen mich Mails mit Kooperationsanfragen türkischer Künstler – es ist nicht einfach ein Visum für Deutschland zu bekommen.

Was hat das alles mit Alter Musik zu tun? In den letzten Tagen ist mir eine sehr alte Aufnahme wieder in den Sinn gekommen. Ich besitze sie nicht einmal. Sie erschien im Juni 1989, nur wenige Wochen vor dem Fall der Mauer. Ein seltsamer Zufall. Die Titelzeile und die Melodie dazu gehen mir seit Wochen nicht mehr aus dem Kopf:

My mind to me a kingdom is / Such present joys therein I find

Die Musik ist von unbekannter Herkunft, das zu Grunde liegende Gedicht ist von dem englischen Adligen Sir Edward Dyer (1543–1607). Allein mit seinen Gedanken, in der großen weiten Welt der Fantasie. Die Aufnahme des Ensembles Tragicomedia um den amerikanischen Lautenisten Steven Stubbs entführt in eine entfernte Welt voller Melancholie und Sehnsucht. Eigentlich passt die Musik eher zu einem winterlichen Kaminfeuer. Andererseits ist der Rückzug in die eigene Gedankenwelt offenbar ein aktuelles Thema. Und die Musik ist großartig. ¶

... gründete nach Stationen als Techniker, Barockgeiger, Musikwissenschaftsstudent und Konzertagenturbetreiber gemeinsam mit Jochen Sandig 2006 das Radialsystem in Berlin. Er war Künstlerischer Leiter des Radialsystems, des Musikfest ION in Nürnberg und ist Intendant der Köthener Bachfesttage. Außerdem leitet er gemeinsam mit Hans-Joachim Gögl die Montforter Zwischentöne in Feldkirch/Vorarlberg.