»Die deutsche Geschichte ist Mendelssohn viel schuldig geblieben«, erklärt Jürgen Ernst, der Direktor des Mendelssohn-Hauses, direkt nach der Begrüßung in der Goldschmidtstraße 12 in Leipzig. Damit spielt er nicht nur auf die antisemitische Diffamierung und musikwissenschaftliche Geringschätzung an, die Felix Mendelssohn »lange in eine Ecke verbannte, in der Windstille herrscht«, wie Volker Hagedorn es in seiner VAN-Kolumne formuliert. Auch sein Wohn- und Sterbehaus wurde erst 1997 zum »Mendelssohn-Haus«, zu einem Ort, an dem Felix überall präsent ist: Als Komponist, Dirigent, Klaviervirtuose, Kulturpolitiker und als Geist des Menschen, der täglich durch genau diese Flure lief (übrigens: vorbei an wunderschön gestrichenen bunten Wänden, deren heutige Farbe den unter der Tapete gefundenen Originalfarbresten nachempfunden ist). Zum Vergleich: Das Beethoven-Haus in Bonn gibt es seit mittlerweile fast 130 Jahren.
So sehr diese Äußerung stimmt, reizt sie mich vor allem zur Gegenfrage: Wie viel ist die deutsche Geschichte dann erst Fanny Hensel schuldig geblieben, Felix’ vier Jahre älterer Schwester? »… und wo ist Fanny?«, fragten auch die Besucher*innen des Mendelssohn-Hauses 20 Jahre lang immer wieder. Seit dem 4. November lautet die einfache Antwort: Im 3. Stock.
Also: Raus auf die schöne alte Treppe und rein in die nächste Ausstellung – über Kurt Masur. Denn ebenfalls seit dem 4. November befindet sich im 2. Stock des Mendelssohn-Hauses das Internationale Kurt-Masur-Institut. Ganz davon abgesehen, wie interessant und wichtig Kurt Masur war als Person, als Künstler, als Mentor …, ergibt sich aus dieser Masur-Hensel-Mendelssohn-Wohngemeinschaft für mich vor allem: das Nachdenken über Erinnerung. Denn Erinnerung ist nicht einfach da, sie wird geschaffen, von Menschen, von Orten. Von Menschen wie Kurt Masur, auf dessen Initiative hin das Mendelssohn-Haus überhaupt erst saniert und als Museum geöffnet wurde. Von Orten wie diesem Haus, die Künstlerinnen und Künstler brauchen, um lebendiger Teil des kulturellen Gedächtnisses zu bleiben.

Erinnerungsorte verleihen einer Person – oder in Fannys Fall einer Künstlerin – Relevanz, machen sie sichtbar auch über den konkreten Ort hinaus. Und hier gibt es bei der Komponistin einiges aufzuholen. »… und wo ist Fanny?« hätte man eigentlich auch längst mit Blick auf Konzertprogramme, CD-Einspielungen oder Vorlesungen zur Einführung in die Musikgeschichte fragen müssen.
Dass hier in Leipzig jetzt dauerhaft eine ganze Etage Fanny gewidmet ist, ist also großartig. Sie selbst war hier nachweislich einmal zu Besuch – natürlich im 1. Stock, bei Felix.
Der Eingang zur Fanny-Ausstellung in der 3. Etage ist dem Treppenaufgang zum »Gartenhaus« in der Leipziger Straße 3 in Berlin nachempfunden, in dem Fanny Hensel lebte, musizierte, komponierte und zu den »Sonntagsmusiken« einlud. Wer hier an eine niedliche Gartenlaube denkt, liegt völlig falsch. Fannys Heim befand sich zwar im Garten des elterlichen Wohnhauses, bestand aber aus zahlreichen Räumen (unter anderem Fannys Musikzimmer), einem Atelier für ihren Mann, den Maler Wilhelm Hensel, und vor allem einem Konzertsaal, in dem 300 Gäste Platz fanden. Hier organisierte Fanny ab 1831 alle zwei Wochen »Sonntagsmusiken«, zu denen der Saal zum Teil rappelvoll war, unter anderem mit Gästen wie den Brüdern Humboldt, Hegel, Droysen, Zelter, Liszt und Clara und Robert Schumann. Auf dem Programm standen neben Werken von Felix Musik von Beethoven, Bach, Mozart, Haydn, Weber, Chopin und anderen, selten eigene Werke von Fanny. Die spielte dafür Klavier oder dirigierte das Orchester oder den kleinen Chor. »Öffentlich«, also in bezahlten, für alle (Solventen) zugänglichen Konzerten außerhalb des Bekanntenkreises aufzutreten, war für Fanny als sehr wohlhabende, gutsituierte bürgerliche Frau nicht vorgesehen. Die Ausstellung beginnt also mit dem sinnbildlichen Betreten des Raums, den Fanny sich für die Musik schuf.
Im (imaginären) Gartenhaus angekommen, scheinen von der Wand 12 aufwendig vom Ehemann Wilhelm Hensel bemalte Notenblätter, die jeweils ersten Seiten der 12 Stücke des Klavierzyklus’ Das Jahr, den Fanny 1841 komponierte und im Dezember ihrem Ehemann schenkte. Das Jahr wird hier im 3. Stock als Abbild der »gemeinsam verbrachten Zeit« des Künstler-Paares gelesen – und gehört, denn in jedem Ausstellungsraum erklingen Stücke aus dem Zyklus. »Aus jedem Monat gibt es ein Ereignis, anhand dessen wir ein Thema beleuchten«, erklärt mir die Leiterin des Museums, Cornelia Thierbach. »Im Mai ist sie zum Beispiel gestorben. Deswegen wird nicht im Dezember die Geschichte ihres frühen Todes thematisiert, sondern im Mai. Oder im August, da ist Goethe geboren, da nehmen wir dieses Stück zum Anlass, um die Goethe-Mendelssohn-Familienbeziehungen zu beleuchten.«
So ergibt sich ein schöner Erzählbogen, um Fanny in ihren unterschiedlichsten Rollen anzutreffen: Als Schwester, die für Felix und sein musikalisches Schaffen unglaublich wichtig war, als Teil eines sehr modernen Künstlerehepaares, als Netzwerkerin, als Säule eines musischen und intellektuellen Freundeskreises, als Mutter eines Sohnes, als Musikerin, als Dirigentin – und als Komponistin, die von ihrem Ehemann sehr unterstützt, von ihrem Bruder aber eher ausgebremst wurde. Der ließ zwar einige Stücke Fannys unter seinem Namen drucken, stand einer Drucklegung ihrer Werke unter ihrem eigenem Namen aber skeptisch gegenüber. »Wir wollen dem Ganzen jetzt aber nicht die Sicht des 21. Jahrhunderts überstülpen«, sagt Thierbach, »und von der armen Unterdrückten sprechen, sondern versuchen, sich in die Zeit reinzuversetzen.« So sollen hier im 3. Stock durch eine »Briefwolke« die Mitglieder der Familie Hensel/Mendelssohn, die, wie für bürgerliche Familien im 19. Jahrhundert üblich, fleißige Briefeschreiber*innen waren, selbst für sich sprechen, was tatsächlich sehr gut und kurzweilig funktioniert.

Grundsätzlich finde ich auch die Idee, ein Werk Fannys als roten Faden ins Zentrum der Ausstellung zu stellen, sehr gut – zumal Das Jahr auch für Fanny selbst einen sicherlich hohen Stellenwert hatte, so sorgfältig, wie sie es überarbeitete, von Wilhelm verzieren und dann binden ließ. Der September aus dem Jahr gehört außerdem zu den wenigen Stücken, die Fanny noch zu Lebzeiten (allerdings mit einem anderen Titel) unter eigenem Namen in Druck geben ließ. Zu oft steht in Fanny-Darstellungen sonst die – ohne Zweifel unglaublich interessante – Frau im Mittelpunkt, nicht die Kunst. Aber auch in der Ausstellung gibt es noch Luft nach oben. Das Jahr erscheint hier eher als rührendes, sehr persönliches Lebensresümee einer Frau, die inhaltlich viel zu erzählen hat. Wie sie das musikalisch macht, interessiert weniger.
Dass die Stücke im Jahr auch einzeln funktionieren, untereinander aber unterschiedlichste Bezüge bestehen (hier wird im besten Sinne eines Zyklus’ groß gedacht), dass die Behandlung der Harmonie zum Teil abgefahren ist, dass auch hier Bachs Matthäus-Passion, die ja erst die Mendelssohns wieder auf die Spielpläne brachten, zitiert wird – für ein solches Reden über Fannys Musik ist hier auf der 3. Etage noch kein Platz.
Wofür es Platz gibt: Einen extra Selfie-Raum, beziehungsweise nennt man das hier Tableau Vivant. Vorbild ist ein Partyspaß aus dem Hause Mendelssohn: Berühmte Szenen aus der Literatur wurden zum Teil gemalt, zum Teil durch verkleidete Gäste dargestellt. Lustig anziehen ist auch heute noch spaßig, das Foto macht sich nachher gut auf Instagram. Alles in allem eine schöne Idee für einen besonders interaktiven Museumsraum zum Mit-nach-Hause-nehmen (in Foto-Form). Etwas bitter ist nur der direkte Vergleich zum interaktivsten und spektakulärsten Raum in der Felix-Ausstellung im Erdgeschoss.
Im »Effektorium« kann man sich berühmte von Felix komponierte Werke von einem Lautsprecherorchester vorspielen lassen. Man kann einzelne Instrumentengruppen ansteuern, aus der Perspektive der Musiker*innen lauschen, verschiedene Raumakustiken oder die Einspielungen unterschiedlicher Dirigenten (ja, nur Männer) vergleichen. Und vor allem kann man selbst dirigieren, bzw. eher Harry-Potter-mäßig mit einem Stab vor dem Sensor im »Dirigierpult« wedeln. Die Musik reagiert im Tempo. Das ist offensichtlich etwas für kleine genau wie für große Spielkinder – und für den Kollegen, der sich beschwert, dass der Apparat nicht erkennt, ob er »auf Viertel oder Halbe dirigiert«. Jede*r kann also genau das machen, was er oder sie am liebsten tut. In meinen Augen wirklich ein kleiner Museums-Coup. Und bei allem ganz klar im Zentrum: Die Musik, das offene Ohr. Und Felix als musikalisches Brain. Im direkten Vergleich dazu im interaktiven Raum im 3. Stock: Fanny als großartige Gastgeberin von tollen Partys. Hm.
Überhaupt habe ich das Gefühl, dass die Ausstellung es vor allem schafft, mir Fanny sehr persönlich, als interessanten, facettenreichen, beeindruckenden Menschen nahezubringen – und das wirklich auf eine sehr gelungene Art. Die Ehrfurcht vor den Werken, wie sie in den Felix-Etagen spürbar wird, fehlt hier. Das kann, wer will, auch schon aus den Namen heraushören, die die Mitarbeiter*innen des Hauses hier beim Reden über die Kunstschaffenden verwenden: Fanny heißt »Fanny« – nahbar, persönlich, auf keinen Fall, darauf legen alle Wert, »despektierlich« gemeint – und Felix heißt »Mendelssohn« – der respekteinflößende, große Künstler.
Fanny als Person habe ich also gefunden im 3. Stock der Goldschmidtstraße 12 – von ihrer Musik allerdings nur einen sehr kleinen Teil. Aber auch hier besteht Hoffnung: Es ist geplant, von möglichst vielen Werken Fannys Einspielungen aufzutreiben und diese in die »Phonothek« einzuspeisen, wo man im Mendelssohn-Haus schon jetzt alle (zumindest offiziell) von Felix geschriebenen Werke hören kann. Eventuell besteht die Möglichkeit, einige Stücke extra erstmalig einzuspielen. Vielleicht wirkt das dann sogar bis in die Kreise, die über die Programmgestaltung von Konzerten oder CD-Produktionen entscheiden. Denn wie die Erinnerung ist auch der »Kanon großer musikalischer Werke« nicht einfach da. Wie wandelbar so ein Konzert-Kanon ist, haben nicht zuletzt Felix und Fanny gezeigt, indem sie Bach mit der Aufführung der Matthäus-Passion 1829 aus der Versenkung holten und auf die Konzertprogramme der Zeit setzten.
Bis ich endlich zum Beispiel Fannys Cantate für die Toten der Cholera-Epidemie 1831 im Konzert hören kann, dauert es wahrscheinlich noch etwas. Es bleibt also genug Zeit, um in ein paar Monaten nochmal nach Leipzig zu fahren, durch den 3. Stock zu schlendern und vor allem durch die Phonothek zu hören, die sich dann eventuell noch etwas gefüllt hat. Und um ein Gruppenbild mit Fanny zu machen. Das habe ich in dem ganzen Trubel nämlich vergessen. ¶