Über die Uraufführung beim Essener NOW! Festival für Neue Musik
»Word Up!« Dieses Jahr beackert das Essener NOW! Festival für Neue Musik das riesige Feld »Musik und Sprache«. In seiner Uraufführung Lagune erweitert es der Iraner Amen Feizabadi durch Videokunst. Ricarda Baldauf über den Probenbesuch.
Es ist kalt. Furchtbar kalt. Die Straße schlängelt sich vorbei an riesigen Backstein- und Betonkolossen, an verrosteten Stahlträgern und überwucherten Eisenbahnschienen, die schon lange nirgendwo mehr hinführen. Es nieselt, nicht viele Menschen sind hier unterwegs und noch seltener taucht ein Auto hinter der nächsten Kurve auf. Dieser abgelegene Ort atmet 150 Jahre Industriegeschichte, er besitzt eine raue Erhabenheit und eine besondere Art von Stille. Im Salzlager der Kokerei Zollverein in Essen finden heute Abend die letzten Proben zu Amen Feizabadis Musiktheater Lagune statt.
»Dieser Ort strahlt eine ganz besondere Atmosphäre aus: bestimmte Gerüche, eine bestimmte Melancholie, geheimnisvoll und mysteriös.« Was wie eine perfekte Umschreibung der Zeche Zollverein klingt, meint einen völlig anderen, weit entfernten Ort. Im Norden des Irans am Kaspischen Meer liegt die Lagune von Anzali, mit der Amen Feizabadi, 1983 geboren in Teheran, auch Persönliches verbindet. Zu einer gewissen Zeit habe er bei seinen Besuchen dort ständig die gleichen Gesichter entdeckt, nun sei er aber schon länger nicht mehr da gewesen. Kurz vor der Generalprobe seines Stückes wirkt der Komponist, Regisseur und Videokünstler ruhig, geerdet, nur eine Spur von Anspannung in seinen Bewegungen.
Eine Lagune behält ihre Geheimnisse für sich. Sie ist ein vom Meer abgekapseltes eigenes Ökosystem, analog zur Konzeption des Stückes. »Ein Ort, der Anfang und Ende in sich trägt, mit der einzigen Möglichkeit, in die Tiefe zu gehen«, beschreibt Feizabadi. Die von ihm und Arash Sarkohi erdachte Geschichte kreist um Bahram, Elnaz und Bahar, die sich auf der Suche nach einem Boot zufällig an der Lagune begegnen. Da der neurotische Fährmann und Erzähler der Geschichte immer nur genau drei Menschen an drei bestimmten Tagen der Woche auf seinem Boot mitnimmt, müssen sie zusammen reisen. Jeder hat ein anderes Ziel: Bahram ist aus dem Gefängnis geflohen und sucht in der Lagune wie besessen seinen verlorenen Gürtel, die Journalistin Elnaz versucht sich auf der Flucht vor Zensur in Sicherheit zu bringen und die schwangere Bahar ist bei ihrem Vater in Ungnade gefallen, sie will sich mithilfe eines Steins ertränken.

Im riesigen Salzlager sind drei Zuschauertribünen aufgebaut, die sich im Dreieck gegenüber stehen. Die grauen Betonwände verbreiten Kälte, die Holzdecken scheinen hier fehl am Platz. In der Mitte hängen drei Videoleinwände, die zu jeweils einer Tribüne ausgerichtet sind. Jede der Leinwände zeigt Bilder in leicht unterschiedlichen Perspektiven. Die Stimme des Fährmanns schallt aus den ringsum aufgestellten Lautsprechern, erst nach einigen Sekunden ist sie in der Dunkelheit verhallt. Neben dem Spieler der Kamâncheh, einer iranischen Geige, und einem bis obenhin gefüllten Strohsack ist der Fährmann auf dem Schauplatz ganz allein. Die Musiker sitzen auf den Tribünen hinter den Zuschauern. Bahram, Bahar und Elnaz existieren nur auf der Leinwand: dort erscheinen die deutschen Übersetzungen der auf Persisch gesprochenen Dialoge und gelegentliche Detailaufnahmen ihrer Augen, Wangen, Münder, doch wirklich sehen tut man sie nie. Dreh- und Angelpunkt bleibt der Fährmann, der im Laufe des Stückes immer fanatischer zu werden scheint. Damit er sich nicht das belanglose Gequatsche der Reisenden anhören muss, erfindet er selbst für sie einen Namen und eine Geschichte. Dabei philosophiert er über seine Schöpfungen: Was ist Ursache, was Wirkung? Bringt der Name das Schicksal mit sich oder bestimmt das Schicksal den Namen? Durch das glaubwürdige, weil nicht überdrehte Spiel von Folke Paulsen, wird es immer ungewisser, was man noch von Bahars, Bahrams und Elnaz’ Geschichte glauben kann.
Das »Musiktheater für Dialoge, Musikensemble, Bilder, Kamâncheh und einen Erzähler« ist nicht das Spektakel, nach dem es sich anhört. Feizabadi lässt jedem Medium — Musik, Sprache, Video — Raum, nur in seltenen Momenten kommen sie alle gleichzeitig zusammen. Vielmehr kommentieren und beeinflussen sie sich, denn jedes erzählt in anderer Art und Weise. Alles begann mit der Sprache: »Wie die drei Charaktere sich unterhalten, mit welcher Energie, mit welchem Timing und welchen Pausen sie die Sätze aussprechen, das war die Hauptreferenz für die musikalischen Texturen und die Motive im Stück.« Die Musiker/innen kommen dabei ohne Dirigenten aus, jeweils zwei von ihnen sitzen auf den Tribünen hinter den Zuschauern. Feizabadis Musik transportiert vor allem Atmosphäre: mit sich überlagernden Liegetönen, die der Reihe nach von den Instrumenten weiter gegeben werden und so um die Zuschauer kreisen, durch das wehmütige Schaben der Kamâncheh oder das flinke Umherhuschen der Flöte. Dabei soll die Musik nicht verkopft sein, sondern das »natürliche Gefühl eines Menschen für Dynamik, Energie, Entwicklung« ansprechen, so Feizabadi.
Die Instrumente werden über Lautsprecher verstärkt. Sie tragen den Klang in die Weite des Salzlagers. Weg von einem, obwohl die Musiker nur wenige Meter entfernt sitzen. Eine merkwürdige Art von Distanziertheit entsteht, unterstrichen durch das quasi ausgelagerte Geschehen an der Lagune von Anzali, wo sich das Schicksal von drei Menschen verflicht, die vielleicht nur als Geschichte im Kopf des Fährmanns existieren. Das Salzlager wird eine Art Nicht-Ort. Bis ihn die Kamera am Ende des Stückes auf die Video-Leinwand bringt, in blaues Licht getaucht und begleitet von den zitternden Klängen der Instrumente. Als man nach der Aufführung die schwere Stahltür zur Außenwelt aufstößt, ist es schon dunkel, doch es nieselt immer noch. ¶