Unser Autor nähert sich der Klavierkunst des Pianisten Ervin Nyiregyházi, lässt sich von Iván Fischer persönlich bei der Aussprache des Namens helfen und transkribiert ein Chopin-Prélude neu.
Psychische Erkrankungen sind nicht lustig. Zumal, wenn die Werke beziehungsweise Interpretationen psychisch erkrankter Künstler:innen Objekte offensichtlicher Gafferei werden. Der große Pianist Vladimir Horowitz litt immer wieder unter schweren Depressionen und musste teilweise auftrittslose Pausen einlegen, die viele Jahre dauern konnten. Anfang der 1980er Jahre verabreichte man ihm offenbar Antidepressiva, die entweder nicht wirkten oder noch einer besseren individuellen Einstellung harrten. Zeuge dieser – herzzerbrechend traurigen – Krise ist ein Konzertmitschnitt aus den frühen 1980er Jahren; wir erleben dort einen Horowitz, der bei lyrischen Sätzen den gleichen Pianissimo-Innigkeits-Zauber der Jahrzehnte zuvor zu entfalten imstande ist; bei kraftvollen und virtuosen Passagen allerdings greift Horowitz quasi ständig daneben, knallt Forte-Akkorde völlig außer Kontrolle unwillens auf die Klaviatur – und scheint uns schreiend (aber zu leise) anzuflehen: »Ich will nicht! Lasst mich!« Man kann sich kaum vorstellen, dass es der Wunsch des Pianisten war, in dieser schwierigen Phase Recitals zu geben.
Aber: Gibt es jenen – wahrscheinlich klein wie ein Nadelöhr strukturierten – argumentativen Punkt, an dem man psychische Erkrankung und künstlerischen Ertrag im Sinne eines »Gewinns« als ein Zusammengehöriges zu denken vermag? Kann eine psychische Krankheit etwas sein, auf das sich ernsthaft die Größe, oder sagen wir einschränkend: die Besonderheit eines Oeuvres aufbaut? Gehen wir dieser abenteuerlichen Frage ein wenig nach; und nehmen den Fokus weg von Horowitz (1903–1989), um im Hier und Jetzt ein Schlaglicht auf einen Pianisten zu richten, der zur exakt gleichen Zeit wie Horowitz lebte. Denn gerade bei einem Pianisten wie Ervin Nyiregyházi (1903–1987) ist das Abwägen der Gewichte im Umfeld des Fragens nach Genie und/oder Scharlatanerie und/oder »Wahnsinn« wohl ein nicht wegzudenkendes Problem.
»Seine pianistische Virtuosität wurde überdeckt von einer dissonanten Symphonie voller Neurosen.« – so liest man über Nyiregyházi. Aber kennt jemand diesen Pianisten überhaupt noch? Trotz einer bei Schott 2007 veröffentlichten Biographie und zahlreicher – krass skurriler Aufnahmen – bei YouTube ist Nyiregyházi fast völlig vergessen. Ervin Nyiregyházi wurde am 19. Januar 1903 in Budapest geboren; mit einem für unsere Münder kompliziert auszusprechenden Nachnamen. In der gleichen Stadt, 48 Jahre später, am 20. Januar 1951 erblickte Dirigent Iván Fischer das Licht der Welt. Ich fragte Fischer, ob er Nyiregyházi kennen und mir bei der Aussprache von dessen Nachnamen behilflich sein würde. Fischer wusste mehr als nur das. Was für eine angenehme Art und Weise, in die (unaufgeräumte) Welt Nyiregyházis hineinzugeraten…
Man hielt Nyiregyházi tatsächlich für einen »zweiten Liszt« und in frühen Lebensjahren für ein »Wunderkind« à la Mozart. Schon früh wurde er in dieser ihm aufoktroyierten Determination Opfer sich selbst ruhmversprechender Trittbrettfahrer:innen etwaiger Couleur. So kam Nyiregyházi unter die Fittiche des durchaus nicht ganz unbedeutenden Psychologen Géza Révész (1878–1955). Révész zufolge sei Nyiregyházi als Kind komponierender Frühaufsteher, Absoluthörer, Gedächtniskünstler, Schachgenie, Präzisionsfanatiker, ein – immerhin – liebenswürdiger Selbstüberschätzer und »manisch-kreativ« gewesen. Vater Ignácz – Sänger im Chor der Oper Budapest – starb, als Ervin zwölf Jahre alt war. Biograph Kevin Bazzana beschreibt, wie der junge Ervin in eine pathologische Beziehung zu seiner Mutter hineingeriet, von der Nyiregyházi später behauptete, sie hätte ihn als Kind sexuell missbraucht.
Bereits seit seinem siebten Lebensjahr erhielt Nyiregyházi Unterricht an der Franz-Liszt-Musikakademie in Budapest und wuchs pianistisch im Zeichen Lisztschen Virtuosentums auf; Liszts Musik nahm bis zum Ende von Nyiregyházis Leben nicht nur den größten Raum in seinem Repertoire ein, sondern spielte auch im Hinblick auf Interpretationsästhetik, Blattspiel-Tatzigkeit und massiven Improvisationsdrang eine maximal bedeutende Rolle. Der Liszt des 20. Jahrhunderts. Nicht ganz falsch.

1914 zog Ervins Familie nach Berlin. Hier studierte Nyiregyházi bei zwei absoluten Größen der Klavierpädagogik: bei Ernst von Dohnányi (1877–1960) und Frederic Lamond (1868–1948). Tatsächlich muss das Talent Nyiregyházi über die Maßen auffällig, erstaunlich, ja: eklatant gewesen sein; jedenfalls ermöglichte man Nyiregyházi, am 14. Oktober 1915 Beethovens drittes Klavierkonzert mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Arthur Nikisch zu spielen. (Zwar existieren Aufnahmen mit Nikisch und den Philharmonikern aus dieser Zeit, doch das Konzert mit dem zwölfjährigen Nyiregyházi wurde offenbar nicht aufgezeichnet.) Ebenfalls mit den Philharmonikern unter Nikisch trat Nyiregyházi als Solist mit Liszts Klavierkonzert A-Dur in Erscheinung.
1920 zog Nyiregyházi nach New York – und bestritt bereits am 18. Oktober des Jahres sein Carnegie-Hall-Debüt. Einige Kritiker feierten ihn als »Genie«, hoben seine brillante Technik und seine Geläufigkeit hervor; andere blieben äußerst skeptisch und nörgelten lautstark, Nyiregyházi würde mit jeder seiner Interpretationen das genaue Gegenteil der jeweiligen Komponistenintention verwirklichen. (Häufig wird Nyiregyházi deshalb mit dem Exzentriker Glenn Gould verglichen.)
Neben New York lebte Nyiregyházi außerdem in Los Angeles und San Francisco – zeitweise als Obdachloser auf der Straße und wohl lange Jahre ohne Zugang zu einem Klavier, auf dem er hätte üben könne. Die eigentlich ziemlich traurige Geschichte nahm schon Mitte der 1920er Jahre seinen Anfang. Erstes Zeichen der Misere war eine haarsträubenden Klage: 1926 brachte Nyiregyházi seinen Manager vor Gericht, weil dieser ihn nicht ausschließlich als Solist, sondern auch als Klavierbegleiter für Sänger:innen und Instrumentalist:innen »missbräuchlich« vermittelt hatte.
Während seiner Zeit in Los Angeles war Nyiregyházi mit einigen Hollywood-Größen befreundet – und geriet in einen (ja nicht immer ganz unangenehmen) Strudel aus Sex, Alkohol und Dauer-Party hinein. Insgesamt zehn Mal war Nyiregyházi verheiratet; und häufig endeten diese Beziehungen zu Frauen in heftigen Rosenkriegen. (Eine seiner Ehefrauen versuchte, ihn zu ermorden. Eine weitere Gattin Nyiregyházis war Sex-Arbeiterin; beide heirateten nach sechs Tagen amouröser »Eingewöhnungszeit« in Las Vegas.)
Der Klaus Kinski des Klavierspiels litt dabei – trotz »übersteigerten Selbstbewusstseins« – an pathologischem Lampenfieber. Im Zusammenwirken mit Alkoholismus und einer (wie Bazzana vermutet) immer stärker sich offenbarenden Borderline-Störung, die ursächlich der unterdrückenden Erziehung seiner Mutter zuzuschreiben sei, befand sich Nyiregyházis künstlerische Karriere bereits mit Ablauf der 1920er Jahre am Ende jeglichen Seins.
Erst Anfang der 1970er Jahre tauchte Nyiregyházi, der Berichten zufolge streckenweise mit Maske am Klavier konzertierte, nach rund zwanzig Jahren ohne größere Bühne aus der selbstgewählten (?) Versenkung wieder auf; angeblich, weil er die Arztrechnungen seiner neunten Ehefrau nicht mehr bezahlen konnte. Nyiregyházi wurde noch einmal gefeiert – und erhielt einen Plattenvertrag bei der CBS. In den frühen 1980er Jahren unternahm Nyiregyházi mehrere Tourneen durch Japan, wo er als exzentrische Kultfigur am Klavier verehrt wurde. Ervin Nyiregyházi starb am 13. April 1987 an den Folgen einer Krebserkrankung in Los Angeles.
Der Pool an Nyiregyházi-Anekdoten ist schier unendlich. Man weidet sich genüsslich an Lust und Leid eines offenbar getriebenen Menschen. Doch wie – oder sagen wir besser: als was – lässt sich das Klavierspiel Nyiregyházis beschreiben? Genie oder Scharlatanerie? Immerhin stellt ihn uns Bazzana als »einen der größten und eigenwilligsten Pianisten des 20. Jahrhunderts« vor. Überprüfen wir das.
Unter den zahlreichen Aufnahmen, die bei YouTube aufpoppen, sind nicht nur Interpretationen häufig eher weniger bekannter Werke von allerdings durchweg sehr bekannten romantischen Komponisten, sondern auch eine haarsträubend lustig-gruselige Improvisation über populäre Themen; Nyiregyházi, der angeblich über 2.000 eigene Werke komponierte, panzert hier krachend zulangend, entgleisend-entgleißend, dem Wahnsinn gefühlt sehr nahe über Melodien von Puccini, Gounod und andere Pop-Schlager drüber. Nice to have. (Mit zwei Flaschen Rotwein intus.)
1974 entstand die Aufnahme eines Ausschnitts des langsamen Satzes von Beethovens Hammerklaviersonate. (Man lese hier die Noten mit.) Vielleicht wurde der Beginn des Ganzen aus irgendeinem Grund abgeschnitten; aber eher nicht. Nyíregyházi lässt den ersten Takt einfach weg. Dann wird es für zweieinhalb Takte durchaus »normal«. Nyíregyházi trifft den Beethoven-Ton dieses mächtigen Satzes dieser mächtigen Sonate: vollgriffig doch lyrisch, »sentimento«, doch nicht in Selbstmitleid zerfließend. Am Ende des vierten (bei Nyíregyházi dritten) Taktes wird es jedoch arhythmisch. Nyíregyházi verlängert Akkorde und improvisiert eher über Beethoven als dass er interpretiert. Vieles löscht der Pianist aus der Partitur und vereinfacht Zusammenhänge; etwas bedenklich. (Horowitz warf man dagegen einst vor, er würde manche Töne hinzufügen, verdoppeln…). Dieser Mitschnitt wirkt, als hätte man Nyíregyházi ans Klavier gezwungen, um mal »was von Beethoven« hören zu lassen. Schwierig. Extreme Subjektivität: fehlgeleitet. Und traurig.
Schuberts Wanderer-Fantasie C-Dur D 760 (Noten zum Vergleich: hier) wummert los; Berserker-Erdichtungen. Nyíregyházi haut Bass-Grätschen verdoppelnd in den bodenlosen Keller einer Wanderung voller Terror und Wahnsinn. Dabei nimmt der Pianist das plötzliche »Piano« in Takt 14 mega ernst; und holt völlig musikalisch »aus dem Nichts« aus. In Takt 18 jedoch wird aus dem »Pianissimo« der – wie fast immer bei Schubert – daktylisch-puckernden Akkorde ein stämmiges »Mezzoforte«; und – viel bemerkenswerter als das – alles im unvorhergesehenermaßen doppelt so langsamen »Tempo«. Irre, beängstigend; aber höchst interessant. Unvergleichlich eigentlich. Brausende Aufregung, allüberall.
Die dritte Sonate f-Moll op. 5 von Johannes Brahms (Noten) erscheint als ein massives Epos; »Brahms, der Intellektuelle«: nope! Das kracht; da kratzen Schwerter gerüsteter Ritter aneinander. Nyíregyházi wirft sich mit allem, was er hat, ins Zeug. Ein Klavierspiel der »romantischen Schule«, die »Genauigkeit« fein ausdifferenziert: linke und rechte Hand dürfen sich in dieser Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts durchaus mal ganz unabhängig voneinander begegnen; das schaukelt sich so subtil zurecht. Ausdruck ist alles!
Liszts Mephisto-Walzer No. 1 (Noten: hier; früherer Interpretationsvergleich ohne Nyíregyházi: hier) wird in den Händen Nyíregyházis zu einem herrlichen, subjektivistischen Pathologie-19.-Jahrhundert-Boomer-Cringe. Nyíregyházi verhakt sich grollend-schmollend auf den Akkorden; markiert bis ins Mark. Das hat Attacke, das hat Grimasse; das ist so wunderschön krank. (Jetzt also doch: Entschuldigung.) Da trappelt nicht irgendetwas zunächst noch scheinheilig mephistophelisch tanzend auf uns zu. Das ist widerlich, wie das ganze Lenau-Gedicht vor Alter-Weißer-Männer-Phantasien nur so strotzt. Klar, das »Piano scherzando« bekommt Nyíregyházi nicht hin. Weil er es vermutlich nicht: will. Da klatscht es am Ende von Phrasen clusterartig hienieden; sich selbst überwerfend, wütend, gemein, unelegant. Der angeblich »überliebesbedürftige« Nyíregyházi: hier ist er Faust; hier will er… Nun ja. (Man lese zeitgleich nicht diesen verdammten Text, sondern Klaus Kinskis sagenumwobene Biographie Ich brauche Liebe!).
Das Prélude cis-Moll op. 28 No. 10 von Frédéric Chopin dagegen schnurrt mit katzenliebhaberischer Kraulattacke erstaunlich trocken und beschwingt ab. Nyíregyházi rhythmisiert den sich stets kurz dazwischendängelnden Regen aus Triolen und Duolen völlig gegen den Strich. Das kommt dem Charakter eines Tangos im 3/4-Takt gleich. Bei den »nachdenklichen Inseln« entsaftet Nyíregyházi jegliches Tempogefühl aus der ganzen Angelegenheit – und ritardiert mächtig; fügt Töne hinzu, lässt entscheidende Töne weg. Zur besseren Sichtbarmachung habe ich – extra für euch – die Interpretation Nyíregyházis so notiert, wie sie unser neuer Freund auf die 88 Tasten gepockt hat.
Abschließend also die Frage: War Ervin Nyíregyházi ein Genie oder ein Scharlatan? Die Antwort muss, wie immer, lauten: ja. ¶