Eric Schneider ist Professor an der Universität der Künste Berlin, wo er eine Liedklasse leitet. Aus dem Bergischen Land stammend studierte Schneider Klavier und Mathematik in Köln. Heute begleitet er am Klavier regelmäßig Sängerinnen und Sänger wie Anna Prohaska, Matthias Goerne, Christine Schäfer und Christiane Oelze. Zu später Stunde, bei italienischem Rotwein und Zigaretten aus Dubai, hat Schneider mit Arno Lücker über die Schönheit des Schubert-Lieds gesprochen.

Eric Schneider Foto © Peter Adamik
Eric Schneider Foto © Peter Adamik

VAN: Eric, hat Franz Schubert das Kunstlied erfunden?

Eric Schneider: Ja, das kann man so sagen. Mozart und Beethoven haben es nicht erfunden. Das Lied war bei denen eher eine Begleiterscheinung. Es gibt wahnsinnig gute Haydn-Lieder. Der hat da eine gewisse Direktheit reingebracht. Die Bezeichnung ›Erfinder‹ stört mich allerdings ein wenig, denn das Kunstlied ›erfindet‹ man nicht, aber es ist durch Schubert zu einer großen Sache geworden. Ohne ihn wäre das undenkbar gewesen.

Was ist denn bei Schubert anders als bei Liedern von Mozart oder Beethoven?

Ich würde fragen: Was ist bei Schubert das Gute, was Mozart und Beethoven so nicht gesucht haben? Es gibt natürlich von Beethoven tolle Lieder wie An die Hoffnung. Mozart hat überhaupt nur ungefähr vierzig Lieder geschrieben. Es gibt bestimmte Parameter, warum Schuberts Lieder so groß sind. Und die kann man benennen. Eines davon ist, dass Schubert immer einen volksliedhaften Tonfall gefunden hat. Beispielsweise in seinem Lied An den Mond:

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Andere Lieder, wie Rastlose Liebe, Versunken oder Der Wanderer,  haben diesen volksliedhaften Tonfall wiederum nicht. Dann gibt es das Parameter des Umgangs mit Tonarten. Bei Schubert beleuchten Tonarten wirklich Stimmungen, eine Modulation von Dur nach Moll passt bei ihm wirklich zum Text. Der Stimmungsumschwung findet sich in der Harmonik häufig im Zusammenhang mit einem Stimmungsumschwung im Text. Das hat Schubert mehr interessiert als seine Vorgänger. Und auch mehr als seine Nachfolger. Dabei hat Schubert so eine Art zu modulieren, die gar nicht groß auffällt. Man ist plötzlich in einem ganz anderen Land und weiß gar nicht, wie man dahin gekommen ist. Das ist anders als bei Beethoven, wo man diesen Prozess der Modulation wirklich fühlt. Und natürlich gibt es Sänger und Pianisten, die das bei Schubert gar nicht so richtig realisieren, die das gar nicht so darbieten, dass es auch für den Hörer spürbar wird. Das Wesentliche liegt aber woanders – und das entzieht sich dann eher dem sprachlichen Zugriff. Ich sollte in einem Konzert Schuberts Schwanengesang begleiten und probierte alleine im Saal das Lied Ständchen. Das ist nämlich heikel zu spielen. Der Saaldiener kam herein und bat darum, dass ich das Lied noch einmal spiele. Er würde das Lied gerne für seine Frau aufnehmen. Ich fragte: ›Wieso denn?‹ und bekam die Antwort: ›Das geht so sehr ans Herz!‹

Welche Motivation mag Schubert beim Komponieren von doch irgendwie neuartigen Liedern verspürt haben?

Das ist eine interessante Frage. Aber wir wissen das natürlich nicht. Was wir wissen ist, dass es ihm aus der Feder floss. Er komponierte völlig unreflektiert aus dem Unbewussten heraus. Es geschah einfach. Er hatte einen Draht nach oben, wie es viele andere große Komponisten nicht hatten. Ist es uns aber überhaupt erlaubt, nach seiner Motivation zu fragen? Ich könnte spekulieren und sagen: Vielleicht war es das Bedürfnis, andere mit seinen Liedern zu beeindrucken. Schubert war so ein Begleiter-Typ. So wie ich auch. Mit dem Bedürfnis, andere zu erfreuen. Aus einem eher schwachen Selbstbewusstsein heraus. Aber vielleicht greift das alles schon zu weit …

Aber hat Schubert seine Lieder für die Nachwelt oder für den privaten Freundeskreis komponiert?

Ich glaube, dass er die Lieder für seine Freunde geschrieben hat. Wenn er an die Nachwelt gedacht hätte, dann er hätte er so etwas überhaupt nicht komponieren können. Dazu ist das, was er geschaffen hat, viel zu direkt, viel zu aufrichtig. Aber er hat durchaus an seiner eigenen Vervollkommnung gearbeitet. Dafür gibt es ein wichtiges Zeugnis. Er wusste ja nun nicht, dass er so früh sterben würde. Er hat noch einen Jahr vor seinem Tod Kontrapunkt-Unterricht genommen, weil er das Gefühl hatte, da unterbelichtet zu sein. Das weist ja darauf hin, dass er sich mit sich selbst konfrontiert hat, dass er sich vervollkommnen wollte.

Sein erstes Lied schrieb Schubert 1811, mit vierzehn Jahren: Hagars Klage. Steckt in diesem Lied schon alles drin?

Hagars Klage ist für mich keines der großen Schubert-Lieder, aber es ist auch nicht schlechter als spätere Lieder. Es lohnt sich, dieses Lied im Konzert aufzuführen. Im Grunde ist es aber eigentlich kein Lied, sondern eine dramatische Erzählung, eine Ballade.

Genau, es gibt ja ein paar Balladen von Schubert, die aber trotzdem unter dem Label ›Lied‹ laufen. Zum Beispiel Der Taucher. Über 20 Minuten lang! Ist das trotzdem irgendwie ein Lied oder ist die Ballade dann als musikalisches Werk eine ganz eigene Form?

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Immer, wenn ich Balladen von Schubert gespielt habe, habe ich das nicht so genossen. Da gibt es viele rezitativische Anteile … Nein, gehört nicht zu meinen Favoriten. Irgendwie funktioniert ein Kunstlied, das über fünf Minuten lang ist, nicht so richtig.

Warum?

Mir wird das gerade zum ersten Mal überhaupt bewusst. In diesem Moment. Die Frage nach dem ›Warum?‹ kann ich nicht beantworten. Ich weiß nur, dass mir beispielsweise die Architektur von Brahms-Violinsonaten etwas gibt, was mir Lieder nicht geben können.

Aber ist Brahms nicht ›zu‹ perfekt?

Es ist jedenfalls schmissig und man kann sich so richtig schön reinlegen.

Zurück zu Schubert: Warum ist ein Lied wie Die Post aus der Winterreise so genial?

Erst einmal wegen der Unbeschwertheit und Kälte des Vorspiels. ›Kälte‹ ist vielleicht übertrieben, aber Unbeschwertheit stimmt auf jeden Fall. Das Posthorn spielt unbeschwert vor sich hin. Der Sänger berichtet aber etwas darüber, dass ihm das Herz stehen bleibt. Er singt von einer ziemlich zerrissenen Situation. Und das Posthorn verändert sich in dem Moment, wo der Sänger einsetzt. Alles in einer unglaublichen Klarheit. In dem ganzen Lied singt der Sänger übrigens 18 Mal die Worte ›Mein Herz‹.

Letzte Frage. Welches Schubert-Lied würdest du Lied-Neueinsteigern empfehlen?

Der Doppelgänger aus Schuberts letztem Werk, dem Schwanengesang. ¶

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... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.