Für die Inszenierung von Händels Oper Lucio Cornelio Silla begeben die Sänger/innen sich mit kleinen Schritten ins Reich der barocken Schauspielkunst. Ein Probenbesuch.

Text und Fotos: · Datum 09.11.2016

Die Männer des Continuo-Teams sehen aus wie politisch engagierte italienische Fabrikarbeiter aus den 60er-Jahren, sie haben die Haltung einer gut abgehangenen Jazz-Band und spielen Händel, als ob sie Goldfäden webten. Mittendrin sitzt Dorothee Oberlinger, sie ist Blockflötistin, und das ist ihre erste eigene Opernproduktion. Wir sind im Zentrum für Alte Musik in Köln-Ehrenfeld, im großen Proberaum. Vor wenigen Tagen haben sie erst angefangen mit den Proben, dies ist einer der ersten mehr oder weniger ununterbrochenen Durchläufe.

Gegenüber des Continuo-Teams sitzen die Sänger/innen. Der Geiger und Countertenor Dmitry Sinkovsky hat die Hauptrolle, aber unter den jungen Sänger/innen aus Deutschland und England ist keine/r, der ihm gesanglich nicht gleichkommt; vielleicht ist das aber auch die spezielle Schwierigkeit seiner Rolle: . Und das innerhalb von Händels Harmonien und Melodien, von denen der amerikanische Musikkritiker Alex Ross einmal schrieb, es gäbe nichts in der Musik, das in seiner Schönheit unaufhaltsamer ist. Und um das Unheil zu vermitteln, steht ihm nur der Klang seiner Stimme zur Verfügung. Nur der Klang seiner Stimme? Nein! Ein kleines Repertoire an Bewegungen, Gesten und Gesichtszügen etabliert sich noch zaghaft zwischen dem Text mit seiner wahnwitzigen Handlung und der Musik. Deswegen sitzt auch Margit Legler im Raum, sie hat den Gesangsstimmen in der Kürze der Zeit ein paar Bewegungsabläufe, Gesten verpasst; zur historisch informierten Aufführungspraxis kommt die barocke Schauspielkunst, hier wird historisch inszeniert.

Keri Fuge und Philipp Mathmann als Flavia und Lepido.
Keri Fuge und Philipp Mathmann als Flavia und Lepido.

Der Auftritt bei den Tagen Alter Musik am kommenden Sonntag in Herne ist die erste von drei Stufen einer Mission, für die neben dem WDR auch noch die Kunststiftung NRW und die Internationalen Händel-Festspiele Göttingen als finanzierende Produzenten fungieren. Dorothee Oberlinger ordnet diese erste Stufe irgendwo zwischen halbszenisch und konzertant ein. Die zweite Stufe sind dann die Internationalen Händelfestspiele in Göttingen 2017, da gibt es schon Kostüme und mehr als nur angedeutete Gesten. Das volle Programm mit Bühne gibt es dann erst 2018 bei den Schlossfestspielen Ludwigsburg, dann ist die Oper auch eine Oper, dann kommen die Bewegungen im Raum hinzu.

An einer Stelle der Probe sagt Philipp Mathmann, der den Lepido, einen Kontrahenten Sillas, spielt: »Ein paar Key Points fehlen schon noch«. Im Libretto wird ein Brief überreicht, hier aber herumgestanden. Idee: Vielleicht könne man den Brief tatsächlich überreichen. Das geht, muss aber »gestellt« werden, in einer Ad-Hoc-Mini-Probe mit Margit Legler: Die Gesten, die Haltung zueinander, die Mimik werden kurz besprochen.

Die Wienerin war gerade Balletttänzerin an der Wiener Staatsoper geworden, als sie vor etwa 25 Jahren, bei einem Gastspiel der Pariser Oper mit der Barocktanzpionierin Francine Lancelot, für Barockmusik und Barocktanz entflammte. Später als sie auch noch ausgebildete Sängerin war, fiel ihr auf, dass die Sänger/innen »auf der Bühne in ihren Bewegungen einfach nicht schön aussahen«. Sie kam dann in ihren Studienaufenthalten, Begegnungen, Arbeitsbeziehungen und auch in der Arbeit mit ihrem Mann, dem Dirigenten, Pianisten und Musikwissenschaftler Reinhold Kubik, immer tiefer an die Quellen der szenischen Aufführungspraxis und der Schauspielkunst. Hier verlaufen große Linien von rhetorischen Darlegungen Quintilians (*35) bis in das 20. Jahrhundert. Es haben sich grundlegende Vorgaben entwickelt, wie die, dass man sich als Darsteller auf der Bühne eben nicht mit parallel stehenden Beinen präsentiert, dass es Asymmetrien gibt, und Regeln für diese Asymmetrien. Es geht um Übereinstimmung, Harmonie von Text, Musik und Schauspiel. Im besten Fall, sagt Frau Legler, hilft das dem Zustauer, zu verstehen, worum es geht, auch wenn er den Text nicht kennt.

Anna Dennis als Medella, Sillas Frau. Hinten mit Partitur: Dorothee Oberlinger; links, verdeckt: Titelheld Silla, gespielt von Dmitry Sinkovsky.
Anna Dennis als Medella, Sillas Frau. Hinten mit Partitur: Dorothee Oberlinger; links, verdeckt: Titelheld Silla, gespielt von Dmitry Sinkovsky.

Das funktioniert schon hier, mit blutigen Anfängern, bisweilen erstaunlich gut. Man liest zwei, drei Sätze der wirklich verwickelten Handlung voraus und kann sich dann in etwa vorstellen, was gerade so abgeht: Die versuchte Annäherung und das empörte Abwenden, innigsten Schmerz und innigste Freude, Entschlüsse und existenzielles Erwägen, Erstaunen und absolute Erwartung, Reue und Strenge. Um den schlechten Charakter von Silla darzustellen, kann ein/e Mitspieler/in sich zum Beispiel ihm zuwenden, ihn betrachten und anschließend abwenden. Sehr simpel, aber wirksam, und wenn es mit Text und Gesang kombiniert wird, auch ein Vergnügen zum Anschauen, es gibt diese Momente bereits. Dorothee Oberlinger meint zur aktuellen Herausforderung: »Man merkt, dass es mühevoll ist – dass sie auf verschiedenen Ebenen nachdenken müssen. Zum großen Teil sind es keine italienischen Muttersprachler, sie müssen sich immer wieder die Aussprache und den Sinn von dem was sie sagen, in Erinnerung rufen, plus, dass es stimmlich passt, plus, dass sie die passende Geste machen, und das wirkt am Anfang ziemlich hölzern. Wenn das jemand jahrelang macht, dann ist er wie ein improvisierender Musiker, der Ornamente in seinem Gepäck hat.«

vertical, horizontal, forward, Stellung und Formung der Hand, Höhe des Armes, Stellung des Armes im dreidimensionalen Raum, es gibt eine ausgearbeitete, grundlegende Notation, mit der muss man anfangen, und – ohne Namen zu nennen – Margit Legler findet, dass wenn jemand große Karriere als Stage Director macht, dann muss man so etwas können, weil sich die Dinge dann anders anfühlen. Manche Stücke sind noch in zeitgenössischer Notation erhalten. Gilbert Austins Chironomia (1753 - 1837), oder Abhandlung über die rhetorische Darbietung ist eines von Margit Leglers Handbüchern und ganz oben zu sehen auf dem Titelbild dieses Artikels.
verticalhorizontalforward, Stellung und Formung der Hand, Höhe des Armes, Stellung des Armes im dreidimensionalen Raum, es gibt eine ausgearbeitete, grundlegende Notation, mit der muss man anfangen, und – ohne Namen zu nennen – Margit Legler findet, dass wenn jemand große Karriere als Stage Director macht, dann muss man so etwas können, weil sich die Dinge dann anders anfühlen. Manche Stücke sind noch in zeitgenössischer Notation erhalten. Gilbert Austins Chironomia (1753 – 1837), oder Abhandlung über die rhetorische Darbietung ist eines von Margit Leglers Handbüchern und ganz oben zu sehen auf dem Titelbild dieses Artikels.

Margit Leglers Blick ist immer noch etwas pikiert darüber, dass diese Kunstform untergehen konnte, aber genau so ernsthaft entschlossen wirkt sie, die Lücke zu füllen. »Es gibt Anfangsgesten, Schlussgesten, distinguished gestures, zur Variation des Textes. Und die Mimik natürlich, jede Geste beginnt mit den Augen, das Gesicht setzt fort, es folgt vielleicht ein Fußwechsel, dann die Geste, es ist ein Paket.« Und hier verbindet sich die barocke Schauspielkunst mit der historische informierten Spielpraxis: Komm mir nicht damit, dass du dich emotional in irgendwas hineinversetzen willst, es gibt den Text. Den Libretto-Text, über den der Komponist die Ebene der Partitur gelegt hat und dann das acting als dritte Ebene; das hat die Aufgabe es zusammenbringen. Die Emotion, die lässt du im Zuschauer entstehen, nicht im Darsteller. Die Darsteller spielen für das Publikum, deswegen sollen sie es anschauen, etwa, wenn sie die Bühne betreten. Manche haben das heute bei der Probe schon raus, und so habe ich – ich sitze der Reihe der Sänger/innen gegenüber – viel Augenkontakt mit singenden Menschen.

Dorothee Oberlinger findet es »extrem produktiv« auch für die musikalische Ebene, »weil man sich neue Gedanken machen muss zum Text, der ja Poesie ist, die die Musik wiederum übersetzt hat«. Händels Oper besteht ganz typisch aus Rezitativen, die zügig die Handlung vorantreiben, und Da-Capo-Arien mit nur wenigen Worten. Bisher sind nur die Rezitative mit Gesten unterlegt, und Oberlinger sagt:

… schon das hilft dem Sänger, sich klar zu machen: ›Wo bin ich, warum singe ich das jetzt‹ und so bereitet er sich auf den Affekt der Arie vor, und dann ist die Arie viel logischer. Auch der Umgang mit diesem unregelmäßigen Sprachfluss, dass es manchnmal stockt, dann wieder unglaublich schnell vorangeht, die Leute sich ins Wort fallen, dass die Stimme variiert, vom Schreien, bis zum Singen, das kann man mit den Gesten sehr gut unterstreichen.

[…]

Für mich erschlägt bei Opernaufführungen oft die Inszenierung die Musik, dann schaue ich das wie einen Film und höre nicht mehr so auf die Musik. Hier ist das Ziel, dass die Musik von diesen Gesten getragen, erhoben wird.

Gefragt, ob hier ein ähnlich historisch informierter Boom zu erwarten ist, wie bei den Barock-Musiker/innen, meint Margit Legler, es sei sehr schwierig, das Regietheater bemühe sich nicht um diese Dinge. Außerdem fehlen Orte, wo man das studieren kann.

Ganz links steht Margit Legler. Man achte auf die Fußpositionen der Darsteller/innen.
Ganz links steht Margit Legler. Man achte auf die Fußpositionen der Darsteller/innen.

Vielleicht sind die Charaktere weniger »individuell«, aber es scheint auch eine Freiheit auf. Die Freiheit, nicht jede Emotion von einer übergeordneten Regieerzählung filtern zu lassen. Sich nicht in große Zusammenhänge einzuspinnen, sondern im Jetzt zu sein: Der Affekt kommt, man lässt ihn raus und dann wieder gehen. So erlebe ich das auch als Zuschauer, nehme Anteil, verstehe emotional, worum es geht – ertappe mich sogar dabei, wie ich die Mimik nachvollziehe – und bin dann frisch für den weiteren Verlauf. Den Fluss des Lebens voll auskosten, im Guten wie im Schlechten, dem Schicksal entgegen.