Der Regisseur ist unter einem Flügel aufgewachsen. Nun erhebt er sich für VAN über alle elitären Eitelkeiten. Vor einem Jahr lief sein Film Kreuzweg im Wettbewerb der Berlinale und gewann prompt einen Silbernen Bären. Im Moment befindet er sich beim Schneiden seines neuen Films, einer Komödie, es geht um Neonazis und es ist nicht die Verfilmung von Er ist wieder da.

Boreades de Montreal: Across the Universe (Beatles)

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Vom Schriftsteller Egon Friedell kann man irgendwo recht unvermittelt ein Plädoyer fürs Publikum und seinen Geschmack lesen. Also gegen den Hang des besser gestellten Intellektuellen, das Eingängige allein schon aufgrund seiner Eingängigkeit als minderwertig abzutun, da es sich, so Friedells Argumentation, auf lange Sicht doch meistens als das Haltbarere erwiesen hat. Ich schließe mich an und will in dieser Liste einige Lanzen brechen für den Gassenhauer, den Schmachtfetzen, den Ohrwurm und die schöne Melodie. Letztere zu schreiben ist nämlich unerhört schwierig, im Grunde sogar unmöglich. Man kann es sich nicht vornehmen, es muss einem geschenkt werden, und wenn man es herbei zwingen will, kommt banales Gedudel heraus, von dem die Welt leider voll ist. Across the Universe ist keines der bekanntesten, aber eins der schönsten Beatles-Lieder, und dass es in dieser seltsamen Barockversion nicht in sich zusammenfällt, sondern noch an Innigkeit gewinnt, spricht sowohl für den Song als auch für dieses kanadische Alte-Musik-Ensemble, das sich eigentlich nur mal einen Spaß erlauben wollte und mittlerweile drei Beatles-Platten eingespielt hat.

Robert Schumann: Kinderszenen

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Irgendwann in den 1980ern: Meine Mutter spielt Klavier, ich sitze unter dem Flügel am Boden und male irgendwelche Bilder von Raumschiffen und Vulkanausbrüchen. Der Flügel hat gegenüber dem Klavier ja zahlreiche Vorteile, aber einer der größten, an den kaum jemand denkt: Kinder finden unter ihm eine Art Höhle, wo sie sich verstecken können und alles voller Musik ist. So war meine Kindheit. Meine Mutter beharrt darauf, dass kaum jemand Schumanns Kinderszenen richtig spielt, und ich muss ihr recht geben: Die allermeisten Pianisten schmieren sich da ordentlich Bedeutung aufs Brot und könnten nicht falscher liegen. Meine Mutter empfiehlt außerdem den fast vergessenen Alfred Cortot. Ich schließe mich ihr einfach mal. Übrigens ist der ganz Zyklus eigentlich nur eine einzige Melodie, alle Stücke sind Variationen auf eine absteigende Tonfolge. Wer es weiß, hört es auch deutlich.

Dvorak: Legenden op. 59, X. Andante

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Juni 2014: Ich soll einen konzertanten Opern-Potpourri-Abend ein wenig szenisch aufmöbeln und verbringe daher eine lustige Woche in St. Petersburg. Das Programm besteht aus lauter Gassenhauern, aber zwischen all den Bohèmes und Onegins und Cavalleria Rusticanas hat Vladimir Fanshil, der Dirigent, dieses Stück platziert. Wir leisten uns inszenatorisch jeden Quatsch, lassen Bilderrahmen auf der Bühne und Discokugeln im Publikum herumspazieren und teilen Knicklichter aus, zwischendurch fahren wir kreuz und quer durch die Stadt auf der Suche nach Pultleuchten und falsch gedruckten Programmheften, es sind die sogenannten weißen Nächte, man fällt nachts um zwei ins Bett und erwacht vormittags aus todesähnlichem Schlaf, vor der Eremitage ist plötzlich ein riesengroßer Militäraufmarsch, in der Eremitage hängen vier Millionen Bilder, und dazu läuft immer dieses Stück.

Mike Oldfield: Incantations (Part One)

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1992: Alle hören Mariah Carey oder Nirvana, ich entdecke aus irgendeinem Grund das Frühwerk von Mike Oldfield. Den kennt man heute nur noch als grauenhaften Event-Beschaller, dabei hat er in den 1970er und 80er Jahren einige wirklich unerhörte Musik geschrieben. Seine ersten drei endlosen Instrumentalsuiten aus den 70ern kann man noch als Hippie-Kiffer-Gedudel abtun, dabei tut sich hier strukturell deutlich mehr als bei anderen psychedelischen Zeitgenossen, deren Werke spätestens dann ziemlich flach klingen, wenn man sie mal auf dem Klavier nachspielt. 1981 kam dann diese Doppel-LP, deren erster Teil sich in kühl-minimalistischer Nonchalance um ein einziges Thema dreht – den Quintenzirkel. Immer weiter im Kreis herum. Musik, die aus der Welt hinauswill und in mathematische Räume hinein. Irgendwann nervt es, aber großartig ist es trotzdem.

Qntal: Palästinalied (Walther von der Vogelweide)

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Das Stück ist von 1995, aber eigentlich das älteste Exponat in meiner Ohrwurmsammlung, denn Walther von der Vogelweide schrieb es im elften Jahrhundert. Lang bevor »Mittelalter« zum trashigsten Musikgenre der Gegenwart wurde, gründete der Münchner Komponist Ernst Horn neben seiner Erstband Deine Lakaien dieses Ensemble, das die Musik des Mittelalters mit Experimentalelektronik zusammenbrachte, was zwei Platten lang erstaunlich gut funktionierte. In fünf Minuten geht die Reise hier von heilignüchterner Gottesverehrung mitten hinein in eine Schlacht, auf deren Höhepunkt dann auch noch John Bonhams berühmtes und oft gesampeltes Schlagzeugsolo aus Led Zeppelins When the Levee breaks erscheint. Diese vier Takte sind selber der kürzeste Gassenhauer der Welt, total zu Tode gespielt, ein Jahr zuvor hatten Enigma ihnen mit Return to Innocence schon den Rest gegeben, aber Ernst Horn macht es trotzdem, weil er es kann.

Guillemots: Little Bear

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Noch so ein Popmusiker, der mit mehr als einem Bein in der Klassik steht. Der Engländer Fyfe Dangerfield und seine Band Guillemots begegneten mir zuerst 2006 in Haldern, und ihr verschwenderischer Umgang mit himmelstürmenden Melodien ließ alles andere, was auf diesem Festival spielte, klein und grau aussehen. ›Die werden die Welt erobern‹, dachte ich und lag falsch. Dafür durften wir den Soundtrack zu 3 Zimmer Küche Bad komplett mit Fyfes Werken bestücken. Fast noch schöner als die bislang vier Guillemots-Platten, die ein wenig zur Überproduziertheit neigen, ist sein Soloalbum von 2009. Fyfe ist der größte Chaot, den ich kenne, und braucht ungefähr zwei Jahre, um eine E-Mail zu beantworten, aber wenn einer solche Lieder schreibt, könnte so was kaum egaler sein.

Brahms: 2. Klavierkonzert, III. Andante

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März 2009: Wir drehen in Duisburg Renn, wenn du kannst, einen Film über einen Rollstuhlfahrer, seinen Zivi und eine Musikstudentin. Die Cellistin im Film ist nicht gut genug für eine Solokarriere, sie ist Tuttischwein, und eigentlich will sie auch nur dieses Stück spielen und dann unauffällig als Tuttischwein weitermachen.

Als sich in der Vorbereitung der Dreharbeiten herausstellt, dass sämtliche Plattenfirmen für die Verwendung ihrer Aufnahmen prohibitive Preise aufrufen, finden wir zum Glück jemanden an der Folkwang-Schule, der uns ein Orchester zusammenstellt und die gewünschten Passagen einspielt. Man kann für Filme Flugzeuge in die Luft schicken, Schiffe bauen und Städte errichten (und wieder abstürzen lassen, versenken und dem Erdboden gleichmachen), aber für einen Film ein Orchester zu gründen, das hat seine ganz eigene Schönheit. Unsere Aufnahme kann man nur im Film hören, aber diese hier von Arturo Toscanini (wer da Klavier spielt, das verrät Spotify nicht) erscheint mir interessant, weil da ein ungewöhnlich flottes Tempo angeschlagen wird, das man bei diesem Stück heute kaum mehr hört. Heute tendiert man eher dazu, es hochromantisch mit ganz viel Vibrato breitzutreten. Dabei steht da: Andante. Denn es ist ein Spaziergang.

Weihnachtsoratorium Schlußchor

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Er müsste nicht Bach heißen, sondern Meer! Der Quell, aus dem alles kommt! Der Meister, neben dem die Genies aussehen wie hyperaktive kleine Jungs! Die polyphone Hand Gottes! Und so weiter. Es fühlt sich fast schon dämlich an, ihn für seine Ohrwurmqualitäten zu preisen, das Wort und auch der Sachverhalt sind doch weit unter seiner Würde. Aber es ist so, machen wir uns nix vor, diese unglaubliche Melodienseligkeit, die gerade auch das Weihnachtsoratorium zum Evergreen gemacht hat, sie ist einmalig, und wie hier das todtraurige »Oh Haupt voll Blut und Wunden« mit Pauken und Trompeten zum triumphalen Freudengesang umkonstruiert wird, das ist von einer so selbstverständlichen Leichtigkeit, dass man im nie aufhörenden Widerstreit zwischen Freud und Leid auf einmal sehr geneigt ist, ersteres zum Sieger zu erklären. Außerdem erfreut der Text »Nun seid ihr wohl gerochen« immer noch den hyperaktiven kleinen Jungen in mir, der Spaß an Wortverwechslungen hat, und das wird sich auch wohl nicht mehr ändern.