Kompletter Enthusiasmus für getrocknete Mango!

Unsere Tochter ist vier Jahre alt und unfassbar begeisterungsfähig. Ihre Begeisterung kann aus dem Nichts zu einer ernsthaften Besessenheit werden. Als sie das erste Mal Schokoladeneis aß, wollte sie einen Sommer lang nichts anderes mehr, das Gleiche passierte bei ihren ersten Pommes mit Ketchup, bei ihrer ersten sauren Gurke. Erste Sahne. Malzbier. Kompletter Enthusiasmus für getrocknete Mango! Wenn eine neue Großartigkeit auftaucht, ist meine Tochter kurz skeptisch, dann probiert sie, überlegt und dann gibt es kein Zurück mehr, dann schnurrt die Euphoriemaschine. Momentan ist Lakritz ihr Ding.

Kulturprodukte verschlingt meine Tochter ebenso begeistert. Das erste Pippi Langstrumpf-Filmchen. Der kleine Wassermann. Das erste Mal Peter und der Wolf. Am liebsten würde sie den ganzen Tag mit Peter und der Wolf zubringen. Und mit der Hexe Knickebein. Und mit Fredrik Vahle, Michel aus Lönneberga, der Maus und dem Elefanten und Chilly Gonzales. Könnte ihre Mutter ihr bitte noch etwas auf dem Klavier vorspielen, während sie saure Gurken isst und die Onkel-Tobi-Bücher durchblättert? Der Tag meiner Tochter hat gar nicht genug Minuten für all das Zeug, das sie liebt. Wohldosierung ist ihre Sache nicht. Wenn man sie fragt, was ihr am besten gefällt, antwortet sie: »Alles!«

Binge Watching.

Warum ich das erzähle? Weil ich vermute, dass diese psychologische Konstitution in der Familie liegt. Und weil genau das der Grund ist, warum ich noch nie in der Philharmonie gewesen bin. Warum ich mich bisher immer von der Philharmonie ferngehalten habe. Ich weiß, was passiert, wenn mir etwas gut gefällt, nämlich das, was passierte, als ich mit Breaking Bad anfing, mit The Sopranos und The Wire. Binge Watching. Ich bin dann tage- oder wochenlang vor lauter Begeisterung für nichts zu gebrauchen außer für die jeweilige Fernsehserie, eine Schriftstellerin, eine Band, einen Regisseur. Wahrscheinlich bin ich da wie meine Tochter. Sie ahnt es noch nicht, aber es gibt viel zu viele Dinge für viel zu wenig Zeit. Zumindest war das der Gedankengang, den ich mir über die Jahre zurechtgedacht hatte.

»Es war eine bemerkenswerte Situation, die man sonst nur aus Büchern oder Filmen kennt: Hitler wacht fünfzig Jahre nach Ende des Kriegs in Prenzlauer Berg auf, Tarzan kommt nach New York, Marty McFly steht plötzlich im Jahr 1955.«

Als ich neulich also zum ersten Mal die Berliner Philharmonie betrat, hatte ich gehörigen Respekt. Ich hatte diesen Ort gemieden, seit ich in Berlin wohne, zuvor hatte ich jahrelang das Leipziger Gewandhaus umlaufen, die Laeiszhalle in Hamburg und die Metropolitan Opera in New York. Jetzt stand ich in der Lobby, Ende dreißig und zum ersten Mal in einer Konzerthalle. Es war eine bemerkenswerte Situation, die man sonst nur aus Büchern oder Filmen kennt: Hitler wacht fünfzig Jahre nach Ende des Kriegs in Prenzlauer Berg auf, Tarzan kommt nach New York, Marty McFly steht plötzlich im Jahr 1955.

»Debüt im Deutschlandradio Kultur«

In der philharmonischen Empfangshalle war es heller als erwartet. Eigentlich war ich mit drei Freunden verabredet, die hier ständig Konzerte besuchen und sich immer über mich lustig machten, wenn sie fachsimpelten und ich ahnungslos daneben saß. Ich sah mich um. Die Menschen waren gut gekleidet, aber nicht zu gut, vereinzelte Smokings, ab und zu Sandalen. Daniel Brühl stand unbeachtet an der Garderobe. Eine Art Steward drückte mir höflich nickend ein Programmheft in die Hand, das Programm heute Abend hieß passenderweise »Debüt im Deutschlandradio Kultur«. Es gibt die Konzertreihe seit 1959, und ich war noch nie dagewesen. Heute sollte das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin Jean Sibelius’ Finlandia spielen, Edward Elgar, Aaron Copland und Béla Bartók. Dirigieren würde ein junger Finne, der laut Programmheft schon überall auf der Welt dirigiert hatte. Die Solistinnen waren noch jünger, aber ihre Lebensläufe waren ebenso lang und gespickt mit Namen und Orten und Preisen.

»Finlandia hatte ich zehn Jahre zuvor in einem Autoradio gehört, bei Minus zwanzig Grad in einem ramponierten Mitsubishi unterwegs nach Rovaniemi.«

Es ist nicht so, dass ich gar keine klassische Musik höre. Ich kannte sogar zwei der vier Stücke, die heute auf dem Programm standen. Sogar die Komponisten. Aaron Copland zum Beispiel spielte eine Rolle in einem Gedicht des amerikanischen Lyrikers Gerald Stern, Both of Them Were 65. Das Gedicht handelt von Sterns Mutter und Copland, die sich im Rentenalter begegnen, eine jüdische Seniorin aus Pittsburgh, die Caruso liebt, und ein politischer Komponist. Es geht um ein alternatives Leben, ein Was-Wäre-Gewesen-Wenn, wenn der junge Gerald Stern von Copland in New York aufgezogen worden wäre, nicht von einem Textilhändler in Pittsburgh, eine Kindheit mit Noten und Instrumenten und Politik. Und Finlandia hatte ich zehn Jahre zuvor in einem Autoradio gehört, bei Minus zwanzig Grad in einem ramponierten Mitsubishi unterwegs nach Rovaniemi, am Neujahrsmorgen 2001, kein Scherz. Anscheinend läuft Sibelius an finnischen Neujahrsmorgen im Radio. Das Programmheft nannte es »Finnlands zweite Nationalhymne«. Gerald Stern ist so ein Autor, von dem ich alles lesen musste. Finnland hat gutes Lakritz.

Das Gestimme verstummte

Als meine Freunde kamen, gingen wir hinauf in den Saal und nahmen unsere Plätze ein. Auch hier war es eigentümlich hell, ich hatte mit Theater- oder Kinolicht gerechnet, mein Platz lag direkt hinter Daniel Brühls. Mikrophone hingen an langen Kabeln von der Decke, die Musiker stimmten und schraubten und fiedelten mit ihren Instrumenten herum, die kakophonische Versprechung einer großen Harmonie. Die Zuschauer raunten leise, blätterten zielstrebig in den Programmheften, die Zeigefinger an den Lippen. Männer in zu großen Anzügen gingen zielstrebig von links nach rechts und wieder zurück. Der Saal sah aus, wie man sich vor fünfzig Jahren einmal die Zukunft vorgestellt hatte, und wie sie dann tatsächlich geworden war. Irgendwann trat einer der Anzüge auf die Bühne, das Gestimme verstummte. Der Mann sprach mit perfekter Radiostimme einen Einführungstext, der für die Zuhörer der zukünftigen Radiosendung bestimmt war. Er sprach, als stünde er tatsächlich hinter einer vierten Wand, der Sendetermin lag zwei Tage und drei Minuten in der Zukunft, und wir hingen leicht schief in der Gegenwart.

Das Konzert selbst: ich glaube, es war gut. Es blieb ein Eindruck von funktionierender Mechanik. Als hörte ich CD auf einer teuren Anlage, dachte ich, und mir war klar, dass dieser Gedanke kompletter Unfug war – meine Ohren konnten nur den Unterschied nicht erkennen. Der finnische Dirigent betrat die Bühne, verneigte sich, begrüßte das Orchester. Er dirigierte und befolgte alle Codes, die er zu befolgen hatte. Nach den Stücken verneigte er sich nach Mustern, die alle kannten, trat ab und kam wieder, grüßte, trat ab und kam wieder, grüßte, trat ab und kam wieder. In der Pause wurde vor allem über seinen Lockenkopf gesprochen. Wild. Frei. Unkonventionell. »Punk« sagte jemand, »This guy’s a rebel«. Die Kleider der Solistinnen fand man: gewollt. Zu knapp. Zu eng. Zu rot. Das Bier in der Pause war angemessen kühl.

Ich kam mir vor wie ein Anthropologe in einer rätselhaften Ethnie. Wie ein Biertrinker unter Sommeliers.

Die Philharmonie ist eine Welt mit eigenen Regeln, die man als Laie zwar bemerkt, aber ihnen nicht in Echtzeit folgen kann. Ich kam mir vor wie ein Anthropologe in einer rätselhaften Ethnie. Wie ein Biertrinker unter Sommeliers. Wie ein Kind. Wie Alf. Was ich erinnere: eine seltsam verlorene, verlegene Übersprungsbelustigung, weil ich keine Einordnungsmöglichkeiten für das Gesehene und Gehörte hatte. Also lächeln. Mir fehlten die Bewertungsmaßstäbe, ich rätselte darüber, welche Gefühle die anderen Zuschauer zeitgleich mit mir empfanden: Begeisterung für die Darbietung? Begeisterung für die Technik? Empörung über die Technik? Wann waren die Sätze zu Ende? Wann war wie zu klatschen, zu husten, aufzustehen? Alle schienen alles auswendig zu kennen, nur ich nicht. Man entwickelt eine Beziehung zu seinen Sitznachbarn, weil man sich irgendwie orientieren will. Daniel Brühl applaudierte an unerwarteter Stelle, also applaudierte auch ich. Das schien zu passen.

Später Bier in der Kantine, die aussah wie eine Kantine eben aussieht. Zwischen Kleidungskisten, Instrumentenkisten und rollenden Equipmentschränken standen Musiker und tranken, die Eltern und Freunde der Solistinnen waren da, der Dirigent kam frisch geduscht aus der Umkleide und sah ohne Frack und Frisur aus wie ein Durchschnittsfinne Ende zwanzig. Es gab Kartoffelsalat und Bockwurst.

Sie kannten sich aus

Meine Freunde hoben die Gläser und redeten über die Musik, die wir gerade eben gehört hatten. Ich beneidete sie, weil sie zu etwas Zugang hatten, was mir noch ein Rätsel war. Sie kannten sich aus, ich hörte zu. Wenn ich das nächste Mal hingehe, weiß ich immerhin, wann ich applaudieren muss. Nicht schlecht für den Anfang. Und ich gehe da wieder hin, keine Frage. Ich bin da wie meine Tochter. Als ich gefragt wurde, was mir am besten gefallen habe, sagte ich: »Alles.« ¶