Rise and Fall
Der Olymp der Premium-Marken ist dünn besiedelt. Einen festen Platz hatte dort lange Zeit die Deutsche Grammophon. Sie umwehte die Aura des Originals, des guten Geschmacks und des hohen Wertes. Wer eine Aufnahme der Deutschen Grammophon kaufte, hatte das Gefühl, eine Referenz zu erwerben. Nicht immer hielt die Qualität der Produkte, was die Marke versprach. Aber selbst für diejenigen, die in der Popkultur Initiation und Identifikation fanden, blieb die Deutsche-Grammophon-Schallplatte der Eltern ein auratisches Produkt.
Das Narrativ der Krise ist oft erzählt worden und nicht nur für die DG gültig: Der Absatzeinbruch der Plattenverkäufe, das Überangebot an Aufnahmen und Künstler*innen auf dem Markt, die Interpretationssättigung, die Entmystifizierung des Stars. Möglichkeiten und Geschäftsmodelle, aus der Digitalisierung ökonomisch Kapital zu schlagen, wurden verschlafen. Auch das Kernprodukt der DG reichte irgendwann nicht mehr aus, um den großen Überbau, Gehälter, Vorschüsse, Marketing-Ausgaben, zu finanzieren. Das Label reagierte darauf, indem es sich vom klassischen Geschäft immer häufiger entfernte, um neue Käufer zu erreichen. Die Alleinstellungsmerkmale des Gelben Labels lösten sich zunehmend auf. Die treuen Fans wandten sich ab, viele interpretierten die Crossover-Projekte als mangelnde Wertschätzung gegenüber denen, die das Label jahrzehntelang getragen hatten. Wenn man sich heute in den Foren der Klassik-Aficionados umschaut, dann begegnet einem nur selten so viel Verärgerung und Unmut wie gegenüber der DG.
Hüter der Marke, Verkäufer der Marke
Die Deutsche Grammophon verkauft Tonträger, und die sind ein ganz anderer Markt als die meist subventionierten Livekonzerte. Wer in diesen Tagen mit einem Plattenhändler spricht, der vom Klassikgeschäft etwas versteht, muss einsehen: Die Ausdifferenzierung und Segmentierung der Produktpalette ist alternativlos. Gleichzeitig zerdehnen extreme Geschmacks-Pole im Premiumbereich den Markenkern. Einige DG-Präsidenten haben sich an diesem Dilemma abgearbeitet. Der Engländer Mark Wilkinson, von 2012 bis 2015 im Amt, hatte im Bereich der strategischen Weiterentwicklung auf Crossover-Projekte wie Schiller und Indie-Classical-Künstler aus dem angloamerikanischen Markt gesetzt. Mitglieder erfolgreicher Indie-Bands, der Gitarrist Bryce Dessner von The National, Richard Reed Parry von Arcade Fire, Jonny Greenwood von Radiohead, brachten bei der DG Platten mit eigenen Kompositionen heraus. Die zugrundeliegende Hypothese: Wer gerne Arcade Fire hört, begeistert sich auch für die Minimal-Music-Kompositionen des Gitarristen. Die Gleichung ging nicht auf, meist verschwanden die Künstler nach einer Aufnahme wieder. Gleichzeitig entwickelte sich unter Wilkinson der Umsatz auch im Kernbereich der klassischen Musik nicht so wie erwartet, insbesondere auf dem wichtigen deutschen Markt, obwohl die Pianisten Daniil Trifonov und Grigory Sokolov unter Vertrag genommen wurden.

Kurz bevor Wilkinsons Nachfolger Clemens Trautmann im Dezember 2015 offiziell seine Position als neuer Chef der DG antrat, trafen wir uns zu einem Gedankenaustausch in einem Berliner Café. Wir sprachen darüber, wo wir in der Klassikszene gerade Energie wahrnehmen, über Musiker*innen mit Profil, spannende Orte. Der Eindruck war, dass sich Trautmann von der Strategie seines Vorgängers verabschieden wollte.
Die Besetzung von Trautmann ergab Sinn. Als ausgebildeter Klarinettist brachte er die musikalische Prägung mit, als ehemaliger Geschäftsführer des Immobilienportals Immonet gleichzeitig betriebswirtschaftliche Erfahrung und Führungskompetenz. Trautmann, so war der Eindruck, wolle wieder mehr auf Ernsthaftigkeit, künstlerische Substanz, Entwicklungsperspektiven setzen.
Was gibt es Neues im Gemischtwarenladen?
Anderthalb Jahre später wirkt es so, als habe die Realität ihn eingeholt. Einige etablierte Stars konnten (zurück-)gewonnen werden; Murray Perahia und Andris Nelsons; Lang Lang kam von Sony zurück zur DG. Daniel Hope ist inzwischen seit zehn Jahren bei der Deutschen Grammophon und dürfte das sein, was man einen Leistungsträger nennt: Bringt mindestens einmal im Jahr ein neues buntes Themenalbum raus, ist sympathisch, vielseitig einsetzbar, kann international vermarktet werden. Noch größere Erfolge am Plattenregal feiern aber Crossover-Künstler wie Jay Alexander, der die heile Welt der Nachkriegssehnsucht (Geranien, Italien) mit dem evangelischen Kirchengesangbuch vermählt. Für ihn und Künstler wie Fernando Varela, der eine aus Funk und Fernsehen bewährte Mischung aus DSDS-Pop und Tenorstimme produziert, gibt es nicht das gelbe Qualitäts-, sondern das Nebenlabel Panorama.
Die vorderste Front des DG-Marketings, wenn es neu oder interessant sein soll, bilden weiterhin ›genreüberschreitende‹ Projekte, die teilweise noch weitaus seichter und unverhohlener kommerziell motiviert sind, als vieles, was unter Wilkinson in diesem Bereich versucht worden war. Neben einigen profilierten Protagonisten wie Jarvis Cocker, Chilly Gonzales oder Jóhann Jóhannsson stehen Projekte, die auch nicht mehr Substanz als das haben, was auf dem Panorama-Label erscheint: Wenn die Spex über das italienische EDM-Duo Tale of Us schreibt, »natürlich können Tale Of Us nicht einmal der Wohlfühl-Neoklassik von Ludovico Einaudi das Wasser reichen«, dann kann man diese Bewertung auch auf die Musik des »sanften Riesen« Joep Beving übertragen. Warum wird diese Art Gedudel nicht auch auf ein anderes Label ausgegliedert? Weil sie für ein diffuses vordergründiges Zeitgeist-Gefühl steht und: weil sie auf dem Streamingmarkt gut ankommt. Jemand wie Jay Alexander, aktuell auf Platz 1 der Deutschen Klassikcharts, kommt bei Spotify momentan nicht über 930 Hörer hinaus, der sanfte Riese schafft anderthalb Millionen.
Bis wohin reicht das Dach des Gemischtwarenladens DG? Zumindest scheinbar nicht mehr bis zu einem Segment, in dem Ambition, Substanz und künstlerisches Profil den Zuschlag bekommen. Ein Kompass, der nicht zuerst und zuletzt von den Magnetfeldern des Marketings ausgerichtet wird, scheint der DG im Zuge eines organisationalen Brain Drains abhanden gekommen zu sein. Vor allem die Signings jüngerer Exklusivkünstler*innen machen in dieser Hinsicht ratlos. Einerseits am Reißbrett entworfen, gleichzeitig aber in Modellen und Koordinatensystemen, die merkwürdig veraltet erscheinen. Das zieht sich meist von der Auswahl des musikalischen Repertoires bis zur ästhetischen und kommunikativen Verpackung.
Bei einigen ist zumindest die Frage der Zielgruppe geklärt, wie bei Trautmanns erstem Signing, dem südkoreanischen Pianisten Cho Seong-Jin, Gewinner des Chopin-Wettbewerbs 2015. Die Eilveröffentlichung mit Höhepunkten aus Chos Wettbewerbsbeiträgen hatte in Korea kurz zuvor einen hysterischen Boom ausgelöst und war gleich nach Erscheinen an die Spitze der Charts geschossen – nicht nur der Klassik-Charts, es schlug auch alle K-Pop Boygroups.
Aber schon beim gefälligen Debüt-Album des isländischen Pianisten Víkingur Ólafsson scheint die Strategie verschwommen. Musikalisch sind die Klavieretüden von Philip Glass für die Max-Richter-Fans zu anstrengend, für die Kunstmusik-Liebhaber zu langweilig. Bleibt der Exotismus. »Bei DG ist uns längst klar, dass Island ein Synonym ist für erstklassige musikalische Kreativität«, sagt Trautmann in der Hauszeitschrift KlassikAkzente. Diese Erkenntnis kommt genau 20 Jahre nachdem isländische Musiker*innen und Bands den Indie und Elektronika-Berich eroberten. Inzwischen ist die Brand »Made in Iceland« auch im letzten Mainstream-Winkel ziemlich abgewetzt.
Die Stars von morgen
Dann gibt es die Kategorie »Attraktive Musiker mit nischigen Instrumenten oder markanter Erscheinung«. Hier gesellt sich die Akkordeonistin Ksenija Sidorova zum Mandolinisten Avi Avital oder dem Geiger Nemanja Radulović. Bei deren Vermarktung und Repertoireauswahl stehen (nationale und Gender-)Stereotype im Vordergrund, die zu Assoziationsclustern gebündelt werden: »Mandoline, Urlaub, Venedig, Latin Lover« (Avital), »Balkan, Feurig, Teufelsgeiger, Ungarischer Tanz« (Radulovic), oder »Frau, Verführung, Rot, Carmen« (Sidorova).
Die DG selbst macht die Unterscheidung in »Künstler mit Karriereperspektive auf dem Live-Konzertmarkt« und »Event-Künstler« sichtbar in der Verpackung: Während Ólafsson und Cho die eher klassisch-seriöse Haltung einnehmen, überwiegen bei den anderen laszive Posen, venezianische Postkartenidylle und aufs Bild gebannte Wildheit. Das Entwicklungspotenzial eines Nemanja Radulović im klassischen Konzertgeschäft ist begrenzt. Er wird nicht von den großen Orchestern und Dirigenten eingeladen, mit ihm lässt sich aber ein gewisser Event-Appeal vermarkten. Dieser hält an, solange der Reiz des Neuen trägt. Deswegen ist die Deutsche Grammophon in dieser Kategorie auf Nachschub angewiesen.
Was tut sich neues im A&R-Bereich? Im Juni 2016 wurde der 15-jährige schwedische Geiger Daniel Lozakovich verpflichtet. Das Wunderkind-Ding funktioniert zwar immer noch, aber Ausdruck von Ambition und Kreativität ist es nicht. Vor allem steht es nicht für ein Investment in eine künstlerische Perspektive.
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Während Lozakovich aber ohne Frage ein große Begabung ist und bereits jetzt auf höchstem technischen Niveau spielen kann, steht das beim jüngsten Neuzugang, der französischen Cellistin Camille Thomas, in Frage. Längere Zeit war bei der Deutschen Grammophon der Posten des cellistischen Exklusivkünstlers verwaist. Warum nun ausgerechnet Camille Thomas als erste Exklusivkünstlerin-Cellistin der DG die Nachfolge eines Mischa Maiskys antritt, gibt Rätsel auf. Thomas ist weitgehend unbekannt. Sie spielte bislang meistens mit kleineren Orchestern in Frankreich und Belgien, hat kein klares künstlerisches Profil, steht bei keiner der großen Londoner Agenturen unter Vertrag.
Das alleine sagt erst einmal nichts aus. Wenn man sich aber anhört, was es von ihr an Mitschnitten gibt, kommt man ins Grübeln. Es sind zu einem Großteil die üblichen Potpourri-Schmalz-Häppchen des Cello-Repertoires. Und ziemlich offensichtlich gibt es hier ein qualitatives Gefälle zu den vielen guten Cellist*innen, die in den letzten zehn, zwanzig Jahren den Markt geflutet haben, einer Zeitspanne, in der das Cellospiel allgemein einen extremen Qualitätssprung vollzogen hat. Der Journalist Harald Eggebrecht, der in seinem Buch Große Cellisten schöne Porträts gezeichnet hat, schrieb zu einem Rezital von Thomas im Februar in München von »Monotonie, Klangfarbenarmut und willkürliche[n] Lokaleffekte«, einem in den tiefen Registern mulmig grummelnden und in den hohen Lagen angestrengten Ton. Natürlich sind Musikkritiker-Urteile subjektiv und manchmal sogar falsch und Instrumentalist*innen haben gute und schlechte Tage. Wenn man sich aber Videos von Thomas anschaut, kann man leicht nachvollziehen. Die Reaktion mehrerer Musiker*innen, die wir zum Exklusivvertrag befragt hatten (und die nicht namentlich genannt sein wollen), schwankten zwischen Unglauben und bedauernden Schlüssen auf das dahinterstehende Kalkül der Plattenfirma. »Ich habe versucht mich an meiner Fachblindheit zu packen, manchmal sehen wir ja den Wald vor lauter Bäumen nicht, aber so eine Entscheidung ist schon frustrierend.«
Im Hintertreffen
Schon gibt es kaum noch die Erwartung, bei einer Neuerscheinung der DG könnte einem kein holzschnitthaftes Marketing-Drehbuch, sondern Risiko, Überraschung, Neugier, Feuer entgegenspringen. Selbst gegenüber anderen Majors ist man ins Hintertreffen geraten, von den Projekten kleinerer Independent-Labels ganz zu schweigen. Natürlich hat die DG noch großartige Künstler*innen wie Lisa Batiashvili und Daniil Trifonov. Aber mittlerweile ist auffallender, wer nicht da ist. Musiker, bei denen sich Begabung, musikalische Substanz und Karriereperspektive mit Charisma oder Kommunikationstalent (und -bereitschaft) verbinden, wie Nils Mönkemeyer, Barbara Hannigan, Philippe Jaroussky, Mirga Gražinytė-Tyla oder Igor Levit. Polarisierende Einspielungen wie Teodor Currentzis’ Aufnahmen von Mozarts Da-Ponte-Opern (Sony) gab es auch schon länger nicht. Platzhirsche der Quartett-Szene wie Artemis, Belcea oder Hagen sind nicht (mehr) bei der DG, die vielversprechendsten jüngeren Formationen des boomenden Streichquartett-Markts wie Ebène, Jack, Kuss, Chiaroscuro, Schumann oder Armida auch nicht. Junge, aber schon etablierte und selbstbewusste Musikerinnen wie Anna Prohaska machen mittlerweile lieber bei anderen Labels ihr eigenes Ding. Warum setzt man nicht auf eine großartige Geigerin wie Alina Ibragimova? Wollten Leute wie Patricia Kopatchinskaja oder Pekka Kuusisto, um nur mal bei spannenden Geiger*innen zu bleiben, zu denen sich auch haufenweise Geschichten erzählen lassen, nicht zur DG oder wurden sie nie gefragt?
Wenn es über eine Aufnahme von »some of the most beautiful [works] in the repertoire« hinaus wenig künstlerischen Risiko- und Entwicklungsspielraum gibt, ist klar, dass es mittlerweile nicht mehr für alle erstrebenswert ist, bei der DG unterzukommen. »Künstlerisch ist die DG eigentlich irrelevant geworden«, erzählt uns ein Konzertveranstalter. »Die müssen alles Mögliche auf den Markt schmeißen, ein Pferdchen kommt vielleicht durch.« Das Label als Durchlauferhitzer.
Auch unter Cellisten fallen einem auf Anhieb interessantere Solist*innen ein. Wenn man allein die Generation der heute um die 30-jährigen nimmt (die noch nicht, wie zum Beispiel Sol Gabetta, bei der Major-Konkurrenz sind), dann bleiben immer noch Hochkaräter wie Johannes Moser, Nicolas Altstaedt, Maximilian Hornung, Christian Poltéra, Julian Steckel, Valentin Radutiu, Marie-Elisabeth Hecker, Harriet Krijgh, Astrig Siranossian, Gabriel Schwabe, Jay Campbell. Viele hatten damit gerechnet, dass die DG Kian Soltani unter Vertrag nimmt, Protegée von Daniel Barenboim, oder Pablo Ferrández, der von Anne-Sophie Mutter gefördert wird. Es ist nicht so, dass die DG diese Leute nicht kennt. Einige standen auf ihrem Radar, mit manchen war man schon im Gespräch.

Ist es der Mutterkonzern Universal, der dafür sorgte, dass es im Falle einiger talentierter, charismatischer, kreativer Cellisten nicht über Kontaktaufnahmen hinausging? Welche Botschaft an junge Musikerinnen vermittelt der überhebliche Umgang mit klugen, eigenwilligen Künstlern, von dem uns viele Musiker*innen erzählt haben? Wieviel von der Authentizität und künstlerischen Glaubwürdigkeit, die man mit dem Gelben Label immer heraufzubeschwören versucht, bildet die Basis des professionellen Handelns an der Stralauer Allee? Wer vertraut dort darauf, dass sich Substanz und künstlerische Autonomie langfristig auch ökonomisch durchsetzen können? Wenn es diese Person gibt, auf welche Widerstände stößt sie?
Mit diesen Fragen findet man sich schnell in der Rolle des Naivlings, des Realitätsverweigerers. »Die Aufgabe der Deutschen Grammophon ist es nicht, die Kritiker des Preises der Deutschen Schallplattenkritik zufrieden zu stellen. Der Laden muss leben. Und das kannst du nicht von Pierre-Laurent Aimard«, wie eine ehemalige Führungskraft der Deutschen Grammophon uns kürzlich erzählte.
Vielleicht ist der operative Druck, kurzfristig Erfolg zu haben, den Laden am Laufen zu halten, so groß, dass der Blick über das unmittelbar Marktgängige hinaus den Betriebsablauf stört. Wenn man sich umhört, dann erzählen einem viele, dass es in der DG nur noch wenige gibt, die für die Musik, für ihr Produkt brennen, die überzeugt von dem sind, was sie tun. »Stärker als in früheren Zeiten muss sich auch zur Person des Künstlers, zu seiner Motivation, seinem Antrieb eine authentische Geschichte erzählen lassen. Und ein Künstler der Gegenwart sollte über eine gewisse Kommunikationsgabe auf und hinter der Bühne verfügen, also etwa in sozialen Netzwerken präsent sein«, wie Trautmann jüngst in einem Interview mit der NZZ Auskunft gibt. Warum bemüht sich die Deutsche Grammophon nicht um echte Geschichten? People don’t buy what you do, they buy why you do it heißt es im erfolgreichsten Ted-Talk aller Zeiten. Gibt es eine Angst vor echter Motivation?
Frühstücksfernsehen
Man kann die Kritik nicht nur an das Label richten. Wie gesagt, Tonträger zu verkaufen ist schwer genug, nur wenig Güter haben im Zuge der Digitalisierung mehr an Wert verloren als Musikaufnahmen. Die Zukunft der klassischen Musik diskutieren die meisten anhand neuer Konzertformate. Die Abhängigkeit von der Aufmerksamkeitswirtschaft der Medienwelt steigt. Ein Projekt der Bild-Zeitung, die Drohnen über Konzentrationslager fliegen und Bilder übertragen ließ, durfte Camille Thomas bereits live begleiten. Clemens Trautmann war bis vor seinem Start bei der DG Büroleiter beim Springer-Vorstandsvorsitzenden Mathias Döpfner, die Kontaktaufnahme war also leicht. In der Bild steht nun, Camille Thomas sei »der große neue Star der Klassik«. Aber auch bei den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten und Kultursendern hat man stets den Eindruck, sie nähmen mangels eigener Geschmackskoordinaten die Anrufe und Empfehlungen der Major Labels gerne entgegen. Anne-Sophie Mutters Club-Album produziert das ZDF gleich mit. »Es ist als kleineres Label mit unbekannteren Künstler*innen fast unmöglich, dort zu landen. Da sind Formate wie das Frühstücksfernsehen fast noch offener als die Kultursendungen«, wie uns der Chef eines deutschen Labels erzählt. Die DG begründet ihr jüngstes Signing mit der fesselnden Wirkung, die Camille Thomas in eben diesen Fernsehsendungen in Deutschland und Frankreich ausgeübt habe.
In der Kommunikation nach außen beschwört die DG nach wie vor die eigene Tradition. Vielleicht geht es ihr damit ähnlich wie den Spielern des HSV, wo das Image des Dinos und die tickende Uhr (»So lange schon in der ersten Liga!«) als lähmend empfunden werden. Vielleicht ist es zuviel des Anspruchs, gleichzeitig das älteste und das erfolgreichste Klassiklabel zu sein. In diesem Sinne ist der Deutschen Grammophon eine Erneuerung durch Krise mehr zu wünschen als die Ausdehnung des Immergleichen. ¶