Teil zwei unserer Serie Sex, Drugs & Kunstmusik! Komponieren, Musizieren und Musik hören. Wo ist es Lifestyle und wo wird es zur Sucht? Mit welchen Narrationen kann man seine Leidenschaft im Musikbetrieb ausleben? Wo kommt man an Grenzen? Und was sucht man eigentlich in der Musik? Unser Autor Bastian Zimmermann befragt Personen aus dem klassischen Musikbetrieb zu ihrem ganz persönlichen Suchtverhalten.
Auch heute treffe ich ein Exemplar der eindeutig männlichen Gattung. Eine Frau hat sich bisher noch nicht bereit erklärt, woran mag das liegen? Wer etwas beitragen möchte, kann sich gerne hier melden. Informationen werden diskret behandelt. Ok, nennen wir unseren heutigen Gast also Giedrich Fulda. Er ist um die 50, hat in den großen Häusern dieser Welt Solokonzerte gegeben und ist bekannt für seine ungewöhnlichen Konzertprogramme, aneckenden Kommentare und aufopfernden Aufführungen. Wir treffen uns über Skype. Er ist erkältet, hängt in der Ecke seiner Küche und raucht eine Zigarette nach der anderen.
VAN: Gibt es in deinem Leben ein besonderes Musikstück, an dem du dein süchtiges Verhalten veranschaulichen kannst?
Giedrich Fulda: Nein, ich glaube nicht, dass ich das an einzelnen Stücken festmachen kann. Wenn ich eine Sucht habe, dann eben die nach immer neuen Stücken, neuen Richtungen. Ich bin jemand, der die Routine zutiefst verabscheut, ich habe eine richtige Allergie dagegen. Schon deswegen kann ich mich nicht an bestimmte Stücke klammern. Meine Herkunft ist die klassische und zeitgenössische Musik, aber gerade deshalb habe ich schon als 13-Jähriger nach neuer Musik gesucht: Rock, Punk, Jazz. Dann gab es den Hip Hop, dann die afrikanischen Trommeln, nordostnigerianische Ritualmusik, und wer weiß, was noch kommt.

An was dachtest du als Erstes, als ich dich anfragte, über Musik und Sucht zu sprechen?
Sucht ist für mich eine generelle Haltung, ein Habitus, den man zu beinahe allem haben kann. Es ist die Unfähigkeit, die Dinge aus einer Freiheit heraus zu tun. Ich habe sehr viel ausprobiert in meinem Leben. In der Musik, aber auch in anderen Bereichen des Lebens: mit Drogen oder sexuell. Das ist weder gut noch schlecht an sich. Eigentlich finde ich das gut. Was aber den Unterschied macht: als Mensch sollte man keine Angst vor der Leere haben, man sollte dazu fähig sein, das Leben mit keiner Tätigkeit vollstopfen zu müssen. Vielleicht mag es überraschend sein, aber mein Vorbild ist ein idealer, heidnischer Mönch, so wie ich ihn mir jetzt aus meiner sekulären Weltanschauung heraus vorstelle: Wenn er eine Tätigkeit ausübt, dann macht er das nicht, um die Stille, um die Leere zu übertönen, er lernt stattdessen durch seine Tätigkeit etwas mehr über die Stille, über die Leere. Mir gefällt das Motto der Benediktiner: Ora et labora. Bete und arbeite. Ich muss aber an mir schon feststellen, dass ich viele Dinge, die ich tue, auch die, die ich am liebsten tue, nicht nur aus einer Freiheit heraus mache, sondern aus einem Zwang. Und wenn du nach irgendwas süchtig bist, spürst du es richtig in deinem Körper, wenn es nicht da ist. Und in der Musik, der mit Abstand größten meiner Süchte, weil da auch meine Lebensdefinition mit drinsteckt, da fühle ich, dass ich zugrunde gehe, wenn ich mein Instrument zu lange nicht habe. Ich fühle mich wie eine Blume, die kein Wasser hat.
Es ist ja auch nicht nur schlecht. Verlangen hat ja auch was Positives, so wie beim Hunger. Wenn wir kein Essen haben, geht es uns richtigerweise auch schlecht. Und das würde ich nicht als Sucht bezeichnen. Das ist lebenswichtig, und ich habe nichts dagegen, dass Musik mir lebenswichtig ist. Aber es gibt eine Grenze zwischen Verlangen und Sucht. Und das Erspüren dieser Grenze ist eine nicht immer lösbare Aufgabe.
Erinnerst du dich an einen Moment, an dem du am Verwelken warst?
Es gab eine Phase in meinem Leben, so um die 27 oder 28, wo ich an meiner Musik sehr stark gezweifelt habe, und dadurch war der Bezug zu meinem Instrument sehr betrübt. Es war schwierig für mich zu spielen, zu arbeiten. Und da habe ich angefangen, mit einigen Drogen zu experimentieren, auch mit chemischen, nicht mehr so leichten Drogen. Ich hatte dann lange furchtbare Panikattacken, gelangte in eine der dunkelsten Ecken meines Lebens. Heraus kam ich übrigens ganz allein, ohne psychologische, ärztliche oder gar pharmazeutische Hilfe. Im Nachhinein ist das aber auch für mich der Beweis dafür, dass auch die Musik eine echte Sucht gewesen war. Und ohne Musik hatte ich mein Suchtverhalten einfach auf die stofflichen Drogen verlagert. Drogen interessieren mich jetzt nicht mehr wirklich, aber dass sich meine Haltung zur Musik wesentlich geändert hat, bezweifle ich. Ein bisschen vielleicht, als Indikator dafür glaube ich zu sehen und zu hören, wie auch mein Spiel lockerer, freier wird: Vielleicht spiele ich doch mehr aus einer Freiheit heraus als zuvor.
Hast du durch dein Spiel schon Partner oder Freunde verloren?
Nee, das nicht. Es ist schon so, wenn die Musik so ein unheimliches Zentrum in deinem Leben darstellt: entweder du bleibst alleine oder du hast einen sehr verständnisvollen Partner. Ich hab da Glück gehabt. Drogen dagegen können zwei Menschen wirklich trennen. Aber zum Glück lässt sich meine Haltung zum Musizieren gar nicht mit Alkohol oder Drogen vereinbaren. Ich brauche unbedingt einen freien Kopf. Das war vielleicht meine Rettung in Hinblick auf den Drogenkonsum. Wenn ich wie Miles Davis mit Drogen noch besser spielen könnte, wäre ich wahrscheinlich jetzt schon gestorben. (lacht)

Du hast die Leidenschaft deiner Kindheit oder Jugend irgendwann professionalisiert. Gibt es für dich heute die Vorstellung eines Lebens ohne Musik, als einen imaginären Fluchtpunkt?
Ich bin in der tiefsten Provinz aufgewachsen und habe mich schon als Kind sehr unwohl gefühlt in meiner Umgebung. Ich war unglaublich nervös, hatte viele körperliche Ticks. Der Kinderarzt hat gesagt, ich muss beschäftigt werden. Ich wurde dann zum Sport geschickt und so. Ich hatte fürchterliche Angst davor. Da war ich so sieben Jahre alt. Und während sie das mit mir getan haben, habe ich mich in eine kleine Spielzeugorgel vernarrt. Und an der war ich stundenlang am Spielen, ohne dass die Eltern es gemerkt haben. Erst nach einiger Zeit fiel es auf, da konnte ich aber schon einige Stückchen, die ich mir selber beigebracht hatte. Und da haben sie mich gefragt, ob ich Musikunterricht haben will. Auch weil sie gedacht haben müssen, ich bin anders, und ich würde mit einem normalen Job in der Gesellschaft zugrunde gehen. Da war sofort eine massive Flucht in die Musik, niemand musste sagen, geh’ ans Klavier. Ich habe nicht so diszipliniert geübt, wie man es von mir wollte, aber ich habe sehr viel und lang gespielt, komponiert, improvisiert. Ich hatte schon vor der Pubertät ganz schnell meine eigene Welt.
Und zu den Fluchtgedanken: Ich denke immer wieder ans Aussteigen, phasenbedingt. Aber es geschieht weniger wegen der Musik, als vielmehr wegen der Professionalisierung von Musik. Das hat mit den Ansprüchen zu tun, die ich an mich stelle, und auch mit den Ansprüchen, die andere an mich stellen. Dieser Druck ist von einer eigentlich sehr unmusikalischen Natur. Wenn wir uns immer darüber bewusst wären, warum wir überhaupt Musik erfunden haben, gäbe es den Druck, zumindest in dieser Form, nicht. Ich beschäftige mich gerade mit Todesritualen aus Nigeria, die sechs Monate andauern und die für die Gesellschaft wahnsinnig wichtig sind, denn wenn einer stirbt, müssen sich Hierarchien und Beziehungen ganz neu ordnen, und das wird durch lange Rituale mit Musik begleitet. Das Musikmachen ist für diese Menschen so immanent, so wichtig und gleichzeitig nicht wichtigtuerisch, denn sie dient etwas noch Wichtigerem, Höherem. Die Musik ist für das Leben da und nicht das Leben für die Musik. So kann man auch den Unterschied beschreiben zwischen dem Suchtverhalten, dem Leben für die Droge Musik, und der Tätigkeit als ›Beten und Arbeiten‹: Musik für Leben und Tod.
Ist das deine persönliche Form von Entzug? Denn du lebst ja in dieser, der ›westlichen‹ Welt.
Entzug als Isolation mag ich nicht. Als Weg zur Unabhängigkeit: Ja! Jedenfalls sollten wir unsere Tätigkeiten, und dazu zähle ich auch das Musikmachen, als eine Möglichkeit ausüben, zu freieren Menschen zu werden. Wie gesagt, sobald man ein Profi ist, werden das Freie und das Unfreie ineinander furchtbar verwoben. Man muss den eigenen Status verteidigen oder aufbauen, da spielt die Sucht nach Anerkennung, nach Ruhm, mit hinein und so weiter. Aber das bedeutet für mich einen Betrug an der Musik.
Wie hast du dann zu deinem heutigen Umgang mit der Sucht, dieser mönchischen Haltung, gefunden?
Ich bin überhaupt kein Mönch. Wenn ich eine religiöse Einstellung habe, dann vielleicht ein bisschen wie bei Pasolini: Kirche ja, wenn man drinnen Orgien veranstalten kann. Wenn Musik eine Religion ist, dann eine zutiefst erotische. Es ist, wie in der Kirche ficken.
Wie verbindet sich das?
Mein Wunsch ist es, dass die Absicht verschwindet. Mache ich die Musik oder werde ich im gleichen Maß auch von der Musik ›gemacht‹? Im ersten, traurigen, Fall bin ich bei der allerersten Stufe des Ego geblieben, ›aus mir‹ nicht herausgekommen. Beim Sex ist es das Gleiche: Ist die andere Person eigentlich eine aufblasbare Puppe, ist sie nur eine Projektionsfläche? Indem man für den Anderen da ist, geht man über das kleinkarierte Ich hinaus. Deswegen hab ich auch kaum noch One-Night-Stands, weil mich das Fehlen eines echten Miteinanders eigentlich total deprimiert.

Du hast mir von anderen Situationen mit Sexarbeitern erzählt?
Ah, das ist etwas ganz Anderes. Da gibt es eine ökonomische Abmachung, da täuscht man sich nicht ein Miteinander vor. Es ist eine besonders ›greifbare‹ Form von Pornographie in 3D. Und mit den Jungs leb ich sexuelle Formen aus, die ich mit meinem Partner nicht ausleben will. Das ist aber eigentlich Onanie. Und ich bin ein begnadeter Onanierer. Ich tue es unglaublich gerne und das kann auch mitunter viel zu viel werden. Ich könnte einen ganzen Tag vor dem Computer onanieren. So viel zum Suchtverhalten. Aber mit Fremden Sex haben, das empfinde ich als eine gegenseitige Ausbeutung oder als eine ungleiche Ausbeutung. Der eine erwartet dann doch was, und der andere tut so als ob oder ignoriert es. Das finde ich zutiefst unfair, danach bin ich leer und traurig.
Gibt es eine ähnliche Traurigkeit oder Einsamkeit nach Konzerten?
Eigentlich ja. Und ganz besonders, wenn es der schöne Erfolg war, bei dem du das Gefühl hast, das war gerade etwas Relevantes für dich, dann entsteht eine Leere hinterher. Die ist aber nicht zu vergleichen mit dem schnellen Sex, bei dem man sich ausgebeutet hat, sondern es ist eher mit der postkoitalen Tristesse vergleichbar, die man auch in einer wichtigen Beziehung haben kann. Doch, wenn man mit seinem Partner schon 20 Jahre lang zusammen ist, wird das ›danach‹ schöner und schöner. Als Musiker stelle ich mir drei Möglichkeiten des Älterwerdens vor: Austrocknung, Klischee seiner selbst (auch eine Form der Austrockung), organische Transformation. Am Leben bleibst du nur im dritten Fall. Die ganz aufgeregte, herzklopfende Leidenschaft, die man als junger Musiker vor dem Konzert hat, das teilweise ein ganzes Konzert lang anhaltende Lampenfieber, das verschwindet irgendwann mal. Und als das bei mir allmählich wegfiel, hatte ich auch erstmal Angst davor, meine musikalische Kraft zu verlieren, da ich meine glühende Musikerfahrungen mit dem Lampenfieber eng verknüpft hatte. Stattdessen entwickelt sich mit der Zeit eine tiefere, ruhigere und klarere Form der Hingabe. Viele Menschen und Musiker, die älter werden, vermissen ihre jugendliche Leidenschaft, oder sie tun so, als ob sie sie noch hätten. Oder sie fangen im hohen Alter an, das Konzert in Lederjacke zu spielen. Ich kaufe die mir aber erst mit 79. (lacht) ¶