Bisher traf ich stets die Protagonist/innen des Betriebs – diejenigen, die im Rampenlicht auf der Bühne stehen. Heute treffe ich einen Schreiber. Jemanden, der die Musik reflektiert und kuratiert. In welcher Sprache wird nicht verraten. Nennen wir ihn Beorge Gernard Shaw. Wir verabreden uns in München, er ist auf Durchreise. Wir setzen uns an die Isar in die strahlende Wintersonne.
Musik und Sucht. Wann hat es angefangen?
(Lacht) Naja. Das war wohl, als ich vor der Pubertät damit begonnen habe, Gitarre zu spielen. Erst mal war es ein Hobby. Mein Vater wandte sich gegen mich, als ich dem Rock den Rücken kehrte und Jazz spielte. Zu intellektuell. Das trieb mich an. Ich wollte ihm zeigen, dass das gute Musik ist. Dafür musste ich üben und tat es. Und ich wurde im nahen Jazzclub auch schnell erfolgreich. Ich war ja erst 13. Und da gab es Leute, die wegen mir kamen. Die mir hinterher sagten, dass sie toll finden, wie ich mich entwickle. So mit 14 Jahren habe ich nach der Schule bestimmt sechs Stunden mein Instrument geübt. Und dass es echt auch zu einer Sucht nach Musik – und nicht nach Anerkennung durch sie – wurde, zeigte sich in Situationen, in denen ich bestimmt eine Stunde über der Gitarre zusammengesunken saß und nur einzelne Noten spielte, sie ausklingen ließ und einfach zuhörte. Das hat mich in andere Welten gebeamt. Lustigerweise hab ich mit 20 die Gitarre stehen gelassen. Damals war mir das nicht so klar, aber es war halt einfach zu viel. Ich war abhängig gewesen, ich musste mich davon befreien. Ich verglich es damals mit einer Beziehung: ›Es war einfach zu eng.‹
Hat sich das dann auf andere Gebiete verlagert?
Ich dachte früher immer, dass ich kein Suchtmensch bin, aber ich hab da tatsächlich verschiedene Dinge sehr nah an mich rangelassen. Das war einmal der Alkohol für ein Vierteljahr. Und der Sex, das wohl größte Thema. Meinen Umgang mit Musik kann ich heute glaub ich gut kontrollieren, so wird man wohl Musikkritiker! Ich kann mir meine Exzesse lassen, wenn ich mal wieder ein Album entdeckt habe, das mich endgültig beseelt.

Was war das mit dem Sex?
Nun ja. Als Gitarrist hast du viel Sex (lacht) und ich war sehr jung. Im Jazzclub waren aber die Besucher und Besucherinnen mindestens im Studentenalter. Darüber hab ich mich natürlich gefreut. Sex war sehr früh ein Kommunikationsmittel für mich, ganz im positiven Sinne. Ich erinnere mich gerne daran, wie mich ein Mann und eine Frau, beide so Ende 20, nach der Session mit zu sich nahmen. Da war ich 16. Man lernt so viel über Utopien, utopische Hoffnungen. Ich konnte mich früh in eine Welt hineinträumen, weil sie teils auch Realität wurde. Nun gut, den utopischen Zustand erreichst du dann doch nicht, zumindest nicht auf Dauer, aber das sucht man dann immer wieder. Das wird zur Sucht. Neben meinen Musiklisten hab ich zeitweise auch Liebhaberlisten geführt. Der Verwaltung wegen. Und um wenigstens als Liebhaber etwas Anerkennung zu bekommen, die du als Kritiker nie bekommst.
Wie meinst du das?
Erstens sind die Honorare so beschissen, dass du dir selber nicht sagen kannst, den Text schreib’ ich des Jobs wegen. Du bist von der ideellen Anerkennung abhängig, du machst das deswegen. Und weil sich vielleicht aus einem publizierten Text neue Jobs ergeben. Insgesamt also sehr unbefriedigend. Da ist das direkte Feedback einer Person, die man beglückt hat, ein schönes Pflaster.
Es gibt da noch eine musikalische Erfahrung, die viel bei mir ausgelöst hat. So mit 20 lief ich durch die Heimatstadt und hörte plötzlich in der Ferne Apparition de l’Église éternelle von Olivier Messiaen, dieses massive, blockhafte Orgelstück. Es war helllichter Tag, ich kannte das Stück nur von der Aufnahme, es war mir auch noch nicht besonders aufgefallen. Ich hörte also diese Klänge und es packte mich so sehr, dass ich anfing, in die Richtung zu gehen, wo sie herzukommen schienen. Ich ging schneller und schneller, bis ich wusste, aus welcher Kirche es kam. Am Ende rannte ich und saß dann mit bebendem Herzen in einer dieser Kirchenbänke und entstieg der Welt. So intensiv hatte ich das noch nie wahrgenommen. Der Techno der Frühzeit, diese komplexen Resonanzen im Kirchenraum, wenn in dem Stück die Cluster so 20 Sekunden lang gehalten werden und der Bass wummert, genial. Was für eine Erfahrung von Ganzheit! Besser als alle Drogen, nur der Sex ist vielleicht vergleichbar. (Lacht) Ich hab das natürlich dann auch kombiniert. Heute spricht man ja auf einmal von Slow Sex. Aber wie in der Musik wollte ich da mit meinen Partnerinnen und Partnern Sex für die Ewigkeit. Guten Ambient an: Terre Thaemlitz. Und dann für zwei, drei Stunden ineinander verweilen, sich auf ein Level bringen, dabei reden, aber den Körper ganz gezielt auf dem Level halten, mal etwas anfahren, zurücknehmen, nie kommen, zumindest als Mann. (lacht)

Du lädst das extrem auf.
Ja, für mich sind das ganz konkrete Utopien, die ich erfahren habe, die ich in der Welt so eher selten finde, deswegen muss ich das in die Hand nehmen. Völlige Verbindung mit oder Aneignung von Musik, wo ich Kommerz, Konkurrenz, Virtuosität und all diese menschlichen Zustände nicht mehr wahrnehme. Und die völlige Aneignung eines Menschen, wo ich das Vorher und Nachher vergesse, die Sozialität, sogar das Geschlecht und all den Mist, der zwischen den Geschlechtern herrscht. Wenn du einmal gemerkt hast, ich kann das selber erzeugen, dann machst du das immer wieder.
Und wo ist jetzt die Kehrseite?
Naja, du machst das immer wieder, richtest dein Leben darauf ein, so dass du dem nachgehen kannst. Der Freiberuf ist perfekt dafür. Dann musst du nur noch eine Liste von Liebhaberinnen und Liebhabern mit OkCupid und Co. zusammenstellen und mental stets gewappnet sein auf den nächsten musikalischen Kick, der einem bei der ständigen Suche über den Weg laufen kann. Die Musik beschwert sich darüber nicht. Aber wenn es um Menschen geht, wird es anders. So wie der Alkoholiker vielleicht seine leere Flasche in den Altglascontainer werfen kann, eine Neue kauft und es so aussieht, als wäre es seine Erste, so geht es beim Sex nicht. Zum Glück hab’ ich immer genug Menschlichkeit bewahrt, um das auch nicht so zu handhaben. Ich hab dann gemerkt, dass es mir halt nicht mehr allein um die Erfahrung, um den Gegenstand, die Musik, den Menschen geht, sondern nur um meinen Zustand; darum, mich auf ein Level zu bringen. Das fühlte sich dann echt nach Verschleiß an. Und Sucht. Die Dinge werden Mittel zum Zweck.

Wie hast du dich davon gelöst?
Ich hab von einem auf den anderen Tag aufgehört und einen ganz schön harten Entzug durchgemacht. Das hatte ich vorher nicht erahnt. Es ist eine mentale Sache. Du spürst das Bedürfnis, die Kopfhörer aufzuziehen, wieder den Track zu hören, der dir das Kribbeln bereitet. Du willst das Handy in die Hand nehmen und eine der Nummern kontaktieren. Ständig mentale Flashbacks, eintrainierte Verhaltensweisen, die sich auftun. Ich nahm auch plötzlich menschliche Verhaltensweisen ganz anders wahr. Bei einem Besuch einer Londoner Bühne, wo sich natürlich viele sehr hippe, schicke Boys und Girls einfinden, wird man angeflirtet, und es hat mich angewidert. Meine Nüchternheit hat gesagt, ›Oh Gott, bist du einsam da drüben, wieso brauchst du das, mich anzuflirten?‹
Die Musikkritik ist dann nochmal ein besonderer Ort für mich geworden, um in gesunder Distanz Werke zu betrachten, einzuordnen und zu bewerten. Das ist ein gutes Training, ein guter Ersatz, um die Musik nicht so nah an mich ran zu lassen und trotzdem weiter genießen zu können. In der Erotik ist so eine Distanzierung erst mal so nicht möglich, soll ich anderen zuschauen und bewerten? Alleine zuhause oder mit der Partnerin. Das ist echt, intim und man hat Sex gar nicht des Sexes wegen. So ein Umgang mit der Musik wäre ja natürlich toll.
Im zweiten Teil der Interviewreihe hat mir ein Pianist erzählt, dass er – ich übersetze das mal in meine Worte – die kapitalisierte Arbeitsform, hier der Star, da das Publikum, aufgeben wollte, um Platz zu machen für wirkliche Begegnungen.
Ja, die Haltung kann ich auch gut verstehen, aber andersrum geben solche Arbeitsteilungen einem ja auch Sicherheiten, Möglichkeiten distanziert zu bleiben, sich nicht darin zu verlieren. Dieser Pianist scheint dann besonders gut mit seiner eigenen Person umgehen zu können. Sich in Arbeitsteilungen zu flüchten, ist aber irgendwie auch eine Krankheit unserer Zeit.
Was würdest du sagen? Bist du Profi im Musikbusiness geworden, weil du diesen besonders intensiven Bezug zur Musik hast?
Wie meinst du das?

Naja, so wie wenn der Drogendealer auch selbst Drogen nimmt.
Ah. Die Dealer, die am meisten Geld machen, sind wahrscheinlich die, die selbst nicht abhängig sind (lacht). Nun ja, kann schon sein. Bei mir läuft es natürlich im Verborgenen ab, nicht so wie bei den Musikern und Musikerinnen auf der Bühne. Aber wie ich eben meinte, die Sucht war eher im Privaten und das Schreiben lehrt mich einen guten Abstand zum Gegenstand. Aber ich genieße es natürlich, über das zu schreiben, was ich liebe, wofür ich lebe. ¶