Bei der Musik geht es potentiell um das Schöne, um Kreativität und das Versprechen von Erhabenheit. Doch kann Musik sich auch mitschuldig machen? Kann sie böse werden und hat das Böse eine Musik?Bettina Stangneth ist Philosophin und Autorin des Essays »Böses Denken«. Sie führt das Böse nicht auf Religiöses oder die politische Ordnung, sondern auf Strukturen des Denkens, Fühlens und Falsch-Verstehens von Vernunft zurück. Von einem Platz hoch oben in den Gefilden der Erlösung hat Claus Bantzer lange gewirkt, als Organist und Kirchenmusikdirektor an der Kirche St. Johannis Harvestehude in Hamburg. Als Dirigent hat er zudem eng mit der Hamburger Camerata zusammengearbeitet. Außerdem dabei: Bernhard Gander, Komponist. Der Wiener Standard hat über ihn geschrieben: In einem Ministerium für zeitgenössische Musik wäre der Osttiroler Chef der Sektion »schweres Metall«.Das Gespräch wurde kuratiert vom Ensemble Resonanz und VAN, moderiert von Tobias Ruderer und ist hier in gekürzter Fassung wiedergegeben.

TOBIAS RUDERER: BERNHARD, DEINE MUSIK HAT TITEL WIE ›DIRTY ANGEL‹, ›LOVELY MONSTER‹, ›RELOADED‹, ›FOURCHANNIBALLADS‹, ›COLD CADAVER WITH THIRTEEN SCARY SCARS‹. HAT DAS ETWAS MIT DEINER SOZIALISIERUNG ZU TUN?
Bernhard Gander: Bevor ich zur Klassik gekommen bin, habe ich Metal gehört. Ich komme vom Land, meine Musik war zunächst Tanzmusik und Volksmusik, weil ich aus einem völlig unklassischen Haushalt komme. Ab 10 Jahren bin ich dann komplett dem Heavy Metal verfallen. Mit Deep Purple, Black Sabbath, Iron Maiden und Judas Priest hat alles begonnen. Aber es ist mehr als eine jugendliche Faszination. Viele Bands kokettieren mit Gewalt und denken vielleicht nicht allzu viel nach. Für mich hat das aber eine tiefere Bedeutung, dieses Opfermotiv, Blut und Leichen. Ich bin absolut gegen Gewaltverherrlichung, aber für mich ist das ein Symbol für Musik, die muss mir einfach die Schädeldecke wegreißen. Das muss an die Knochen gehen und darf nicht nur Kulisse sein.
IN DEN 80ER JAHREN WURDE HINTER BLACK METAL UND DEATH METAL DER SATANISMUS VERMUTET. GIBT ES IN DER NEUE-MUSIK-SZENE AUCH DIESE BERÜHRUNGSÄNGSTE, DIE ANGST, DASS ETWAS ERHABENES GEFÄHRDET WIRD?
Bernhard Gander: Ja, leider sind die Berührungsängste immer mehr geworden. Viele junge Kollegen sind so spießbürgerlich unterwegs, dass sie nicht mal AC/DC kennen. Auch wenn Stücke von mir besprochen werden und Assoziationen zum Metal hergestellt werden, wird sie gleich als Lausbuben- oder Große-Jungs-Musik abgetan.
ES GIBT VON DIR DIE SOGENANNTEN SCHLECHTECHARAKTERSTÜCKE. WAS IST DER SCHLECHTE CHARAKTER?
Bernhard Gander: Es gibt ja diese Charakterstücke aus dem bürgerlichen Kontext: Kammermusik der Biedermeier-Zeit. Unter Charakterstücken stellt man sich eher etwas ganz Braves vor – Stücke, die den Frühling thematisieren oder den Winter. Meine Charakterstücke thematisieren die bösen, gemeinen Eigenschaften: Gier, Geiz, Neid und Jammern. Das sind Teile aus den Sieben Todsünden, Charaktere, mit denen man im täglichen Leben immer konfrontiert wird. Sie sind nicht so plakativ darzustellen und gerade das hat mich interessiert.
HAT DEINE MUSIK EINEN GESELLSCHAFTLICHEN ANSPRUCH?
Bernhard Gander: Ich will die Menschen nicht verbessern. Aber wenn ich ein Musikstück schreibe, brauche ich für mich eine gute Story, einen gedanklichen Hintergrund. Es könnte natürlich passieren, dass jemand mein Stück anhört – zum Beispiel die schlechtercharakterstücke und sich überlegt: Was ist Neid? Wie wird Gier dargestellt? Und vielleicht sieht er solche Fehler bei sich selbst. Dann habe ich auch schon etwas erreicht.
ES GIBT AUCH IM KOSMOS DER ›KLASSIKER‹ DER KLASSISCHEN MUSIK FIGUREN WIE DON GIOVANNI, DER SICH FREUT, DASS ER GLEICH ZEHN FRAUEN VERFÜHREN WIRD, NACHDEM ER AM ANFANG SCHON DEN VATER EINER LIEBHABERIN GEMEUCHELT HAT UND DER IM VERLAUF NOCH SEINEN DIENER VERLEUMDEN WIRD.
SEIT WANN WERDEN IN DER MUSIK DIESE BÖSEN CHARAKTERE MIT SOLCH EINER SCHAFFENSFREUDE DARGESTELLT?
Claus Bantzer: Das hat sehr früh begonnen. Schon mit Monteverdi, einem der ersten Opernkomponisten. In der Odyssee oder in der Krönung der Poppea kommen überall Stücke vor, wo es unheimliche Momente gibt, was überhaupt nicht bedeutet, dass die Musik böse ist. Aber man kann ahnen, dass die Figur aus der Oper eine zwiespältige Figur ist, und die Musik unterstreicht das noch.
WARUM IST DIE FIGUR DES DON GIOVANNI BÖSE?
Bettina Stangneth: Wenn wir von Moral reden, ist die Aufgabe, zu fragen ob es etwas gibt, was die Grenze ausmacht. Wo ist der Punkt erreicht, wo wir nicht nur von Sitten, Geschmack und Zeitmode reden, sondern von moralischen Gesetzen? Für Kant war das ziemlich einfach: Jeder Mensch ist mit einem Sinn für Vernunft geboren – man soll nichts tun, was man sich nicht als Regel für die ganze Menschheit vorstellen möchte. Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der ständig jeder jeden nach Belieben ermordet und deshalb darf ich auch selbst keinen anderen Menschen ermorden. Kant hat sich die Frage gestellte: Was kann man böse nennen? Offensichtlich eine einzelne Tat – dafür haben wir auch das Strafrecht. Man kann auch versuchen, einen einzelnen Menschen böse zu nennen, als eine Summe von Taten oder nach einem bestimmten Gesetz, das jemand für sein eigenes Handeln hat. Diese Charakterologie ist eine schwierigere Angelegenheit. Ein freier Mensch handelt jedes Mal so, als wäre es das erste Mal, und darum ist es nicht fair, jemandem ein Etikett aufzukleben und zu sagen ›Du bist böse!‹. Die dritte Frage lautet: Wie verhält es sich mit dem Menschen überhaupt? Ist der Mensch als solcher böse oder gut? Kants Antwort ist: Der Mensch ist ›radikal böse‹, weil wir genau wissen, was Moral ist und weil wir trotzdem ständig nach der Ausnahme für uns suchen. Weil wir immer die Freiheit haben, zu unserem Wissen und unserer Überzeugung in Distanz zu treten.
ES SCHEINT ABER NICHT NUR UM DAS WEGFALLEN DES GUTEN ZU GEHEN, SONDERN AUCH UM DIE FASZINATION DES BÖSEN. WOHER KOMMT DIESE VIRTUOSITÄT? MANCHE SAGEN ›THE DEVIL’S GOT THE BEST TUNES‹.
Bettina Stangneth: Ohne Spannung geht es nicht. Die Königin der Nacht war am Anfang keine gute, sondern eine böse Königin. Erst die Arie der Königin der Nacht bringt die Spannung. Man muss mit Licht und Schatten arbeiten, aus dem einfachen Grund: Der gute Mensch ist verdammt langweilig! Wir wollen Drama und das bekommen wir nicht, wenn wir dem Mädchen beim Blümchen-Anschauen zusehen, es muss es wenigstens abbrechen. Irgendwas muss passieren, weil man es sonst nicht zwei Stunden aushält. Insofern ist das Böse viel interessanter und auch viel leichter darstellbar. Wenn Sie sich anschauen, wie viele Romane daran gescheitert sind, einen guten Menschen darzustellen… Den Bösen stellen wir uns schillernd vor: Der Teufel muss ein schöner Mann sein, sonst würde die Verführung ja nicht funktionieren. Dieser Verführungsmoment spielt in die Musik hinein.
HEATH LEDGER WURDE IM ROLLING STONE ALS DER BESTE BÖSEWICHT ALLER ZEITEN GEKÜRT. SEIN JOKER IST DER GRAUSAME, ABER FANTASIEVOLLE BÖSE.
Bettina Stangneth: Zur Premiere dieses Films kam ein junger Mann in genau diesem Kostüm ins Kino und hat massenhaft Menschen erschossen, weil es für ihn die Verkörperung eines Lebensprinzips war, das er sich als so reizvoll vorgestellt hat, dass er das sein wollte – mit ganz praktischen Folgen. Das hängt diesem Film bis heute an. Insofern ist es gar nicht weit weg von der Realität. Bis heute hat man nicht ganz begriffen, warum so ein Lebensentwurf für manche Menschen so eine hohe Anziehungskraft hat. Und auch diese Situation ist eine Inszenierung, die ein Publikum braucht. Der Täter ist in eine Rolle geschlüpft, die er sich nicht selbst ausgedacht hat und da sind wir bei einer Verantwortung des Künstlers, eine Frage die sehr schwierig ist. Wenn wir Bilder des Bösen schaffen, schaffen wir auch Rollenbilder.
EIN WEITERES BEISPIEL, IN DEM DAS BÖSE THEMATISIERT WIRD, IST DER FILM FUNNY GAMES VON MICHAEL HANEKE. ER HANDELT DAVON, WIE ZWEI MÄNNER EINE FAMILIE IN IHRE GEWALT NEHMEN UND NACH UND NACH ERMORDEN.
Bernhard Gander: Ich mag den Film überhaupt nicht. Ich finde die Musik ist unglaublich plakativ eingesetzt. Es war sicher die Absicht von Haneke, die heile Welt mit der klassischen Musik und die böse mit John Zorns Naked City darzustellen. Es wird auch bei den meisten so funktionieren. Bei mir hat es damals überhaupt nicht funktioniert, weil ich ein riesen Fan von John Zorn war und die Musik in mir genau das Gegenteil bewirkt hat. Ich dachte: ›Die haben bestimmt Spaß im Auto, sehr erfrischend.‹
Bettina Stangneth: Der Eindruck war bei mir auch, dass es sehr plakativ blieb und dass dieses Gegeneinanderstellen der heilen Familie nach einem bestimmten, bürgerlichen Modell und der Gewalt, die dort einbricht, klischeehaft ist und sinnlos, mit einer Lust an der Gewalt. Das mag es im Einzelfall geben, aber die Gewalt, mit der wir konfrontiert sind, ist eine andere, die zum großen Teil auch innerhalb der Familie stattfindet. Ein Freund von mir und sein Bruder wurden einmal die Woche in einem Strafritual verprügelt. Die Mutter nahm den Gürtel und der Vater legte Schumann auf, weil man die Kinder ja zu ihrem Besten erziehen wollte. So etwas ist sehr viel verbreiteter und sehr viel dichter als ein paar durchgeknallte Psychopathen.
WAS HABEN SIE BEI DIESEM LIED FÜR ASSOZIATIONEN?
Bettina Stangneth: Es löst in mir die Assoziation der Musikfolter aus. Man verwendet genau diese Art von Musik heute für Folter in Guantanamo. Weil diese leichten, eingängigen Melodien viel besser funktionieren und im Loop das Gehirn derart lähmen, dass man Menschen damit auch bei leisester Lautstärke foltern kann. 48 Stunden Dauerbeschallung mit sowas und keiner in diesem Raum wäre mehr bei Sinnen. Gerade einfache Musik kann Psychosen auslösen, also eher Eine kleine Nachtmusik von Mozart. Es ist ein Fehlschluss, dass es die laute, hämmernde Heavy Metal Musik ist, die den größten Schaden anrichtet.
MAN WEISS, DASS DIE KZ-AUFSEHER SEHR GERNE KLASSISCHE MUSIK GEHÖRT HABEN. KLÄNGE, ZU DENEN MENSCHEN VERGEWALTIGT ODER GEFOLTERT WURDEN.
Bettina Stangneth: Dahinter steht ein gewisses Kulturverständnis. Es ist die Vorstellung, dass ein Mensch ab einem bestimmten Bildungsniveau dagegen gefeit ist, böse Dinge zu tun und Verbrechen zu begehen. Diese Vorstellung, dass ein gewisses Ausmaß von Zivilisation und Kultivierung gegen Missetaten wappnet, kehrt sich um in einen Verbrechertypus, der sich legitimiert fühlt, andere Menschen zu strafen. So war es auch bei den KZ-Aufsehern oder dem Folterarzt Josef Mengele. Die gingen nach Hause, hörten sich Schubert an und dachten, ›Ach, was bin ich doch für ein gesitteter Mensch. Eigentlich bin ich gar nicht so, ich muss diese schrecklichen Dinge tun, als Opfer für mein Volk.‹ So rechtfertigt man Gewalt. Musik stabilisiert, das kann sie, für alles. Das funktioniert für die Opfer – KZ-Inhaftierte haben auch für sich musiziert – aber eben auch für die Täter, um systematisch zu morden.
GIBT ES SO ETWAS WIE GEFÄHRLICHE MUSIK?
Claus Bantzer: Ja, das glaube ich, aber das ist immer sehr subjektiv, zum Beispiel gibt es für mich Sachen bei Wagner, die ich schwülstig und unangenehm finde, weil er so in Gefühlen wühlt und da ist etwas Unklares, das mag ich nicht. Auch diese ewigen Arien, wie bei Tristan, der hört ja nicht auf zu singen. Ich glaube, diese schwülstigen Sachen können ungute Gefühle auslösen.
DAS HAT JA AUCH ADORNO NACH DEM KRIEG GESAGT. ES MUSS NEUE FORMEN GEBEN, WEIL WIR SONST IN DAS ALTE UND SCHWÜLSTIGE ZURÜCKFALLEN.
Claus Bantzer: Man muss das natürlich aus der Zeit Ende des 19. Jahrhunderts sehen, die Architektur war überladen, es gab Sigmund Freud mit ganz neuen Erkenntnissen über die Tiefenpsychologie. Dieses Wühlen in Gefühlen spielte natürlich in der Zeit eine ganz andere Rolle.
Bettina Stangneth: Wir haben ja auch ein Musikgedächtnis in einer Kultur, bestimmte Klänge, die wir mit bestimmten historischen Epochen oder Menschen verbinden. Weil man Wagner – nicht ganz zu unrecht – mit einer besonderen Lesart in der Hitlerzeit verbindet, ist es möglich, genau mit diesem Musikgedächtnis zu spielen. Und wenn ich damit über Zitate spiele, kann ich aus unterschiedlichen Gründen zitieren: Um mich damit auseinanderzusetzen und das kritisch zu hinterfragen und zu drehen, vielleicht aufzubrechen. Ich kann es aber auch einsetzen, um genau dieses Gedächtnis einfach nur wachzurufen. Ich kann also das visuelle Gedächtnis und das akustische Gedächtnis von Menschen instrumentalisieren und in dem Moment weiß ich genau, was ich tue und bin verantwortlich dafür. Ich komponiere ja nicht im leeren Raum.
Bernhard Gander: Ich will schon auch in Gefühlen wühlen, aber sehr konstruiert. Es muss dich an der Leber, an den Nieren und überall packen, aber nicht so unendlich wie der Wagner. Ich weiß, wann Schluss ist, wann ich jemandem auf den Wecker gehe und wann ich die Wirksamkeit überschreite.
Bettina Stangneth: Wir Menschen können mit den schönsten Dingen Übles anrichten und Musik ist ein sehr machtvolles Werkzeug, dass in das Denken des Menschen eindringt, noch bevor wir denken. Stichwort Pawlowscher Reflex – irgendwann reicht der eine Reiz, um den anderen mit auszulösen, das kann etwas Positives sein und umgekehrt auch etwas Negatives. Wenn ich jemanden regelmäßig zu derselben Musik verprügele, brauche ich irgendwann nur die Musik zu spielen und er hat Schweißausbrüche. Diese einmal geschaffene Verbindung wieder zu entkoppeln, ist fast unmöglich und das zeigt, wie mächtig Musik als Werkzeug ist.
Frau aus dem Publikum: Ich bin seit der Nazizeit, die ich von Anfang bis Ende erlebt habe, zum Teil mit schlimmen Erlebnissen, total allergisch. Die Wagner-Musik kann noch so schön sein, ich kann sie einfach nicht hören. Zum Teil verbinde ich auch mit Liszt diese Erinnerungen. Es taucht sofort alles auf, die Bombennächte, meine Arbeit in der Rüstungsfabrik und alles, was ich gesehen und erlebt habe. Aufgehängte Deserteure an Bäumen. Es ist alles da. Das ist ganz merkwürdig. Die Musik hat einen großen Einfluss auf mein Erinnerungsvermögen gehabt. Man hat in der Zeit ja viel Wagner gehört. Ich finde seine Musik auch zu pathetisch, zu schwülstig. Aber besonders die Erinnerung an die Zeit hat mir die Musik von Wagner total verleidet.
KANN MAN MUSIK SCHREIBEN, DIE GEGEN DAS BÖSE IMMUN IST?
Claus Bantzer: Ich empfinde Bach so, weil es eine polyphone Musik ist, die im Kopf komponiert ist und trotzdem eine unglaubliche Gefühlswelt freisetzt. Ich merke das in den Chorproben. Wenn ich Brahms’ Requiem probe, dann wird ein Chor, der abends von der Tagesarbeit kommt, sehr schnell müde, wie durch einen schweren Rotwein. Sobald ich Bach probe, sind sie hellwach. Bach macht sofort positiv, das ist ganz verblüffend, egal ob es sich um die Matthäus-Passion oder die Johannes-Passion handelt. Es ist eine Musik, die den Menschen sicherlich nicht vor schrecklichen Taten bewahrt, aber sie macht einen Menschen innerlich positiv. ¶