Christoph Henning ist Philosoph und Autor, lehrt an den Universitäten in Erfurt und St. Gallen und veröffentlicht im Themenspektrum von Marxismus über Postwachstumsökonomie bis zum professionellen Künstler:innendasein. Am 23. November ist er zu Gast beim zamus-Symposium »Ohne Brot keine Spiele: Rethinking Aesthetics of Cultural Economy«. Ausgangspunkt der multidisziplinären Erkundungen vom zamus ist unter anderem Bachs Kantate Was frag ich nach der Welt, von deren Inhalt Christoph Henning begeistert ist: »Die ist geil, weil sie wirklich antikapitalistisch ist. Ein cooler Text!« Im Gespräch schauen wir aber erstmal auf die Bildende Kunst.
VAN: Sie haben ein Buch über Kreativität als Beruf mit herausgebracht und dazu viele Interviews mit Bildenden Künstler:innen geführt. Wie lautet Ihre Bestandsaufnahme?
Christoph Henning: Man kann einen generellen Trend zusammenfassen mit den Thesen von Wolfgang Ullrich, der sagt: Die Finanzialisierung des Kunstmarktes, der Fakt, dass da so unglaublich viel Geld reinfließt, hat die Kunst intern verändert. Sie hat sich jetzt auf diesen großen Finanzüberschuss eingestellt und macht teilweise ›Siegerkunst‹, so nennt er das. Kunst, die nicht mehr aufrütteln oder verstören, sondern gekauft werden will. Diese Kunst wird von den Leuten, die sie bezahlen, heute oft vorher bestellt. Dass Leute Kunst machen und dann kommt eine Galeristin und sagt: ›Guck mal hier, ein gutes Bild‹, hängt es auf und dann kauft es irgendwer, wie das in der Moderne typischerweise war – das ist heute in diesem Segment nicht mehr üblich. Auf irgendeiner Messe wird ein Auftrag vergeben, genau wie vor der Moderne von der Kirche oder dem Adel. Diese Kunst ist mittlerweile dermaßen abhängig vom Markt, dass sie ihre Autonomie nicht mehr aufrechterhalten kann. Und das sagen manche Künstler:innen selbst: ›Wir leben im Zeitalter der Post-Autonomie.‹ Das bringt dann die große Frage mit sich, die mich als Philosophen interessiert: Hat Kunst dann überhaupt noch ein widerständiges Potential? Unsere Interviews haben gezeigt, dass das jenseits der Höhenkamm-Kunst durchaus noch so ist, die Veränderungen, die in der Literatur diskutiert werden, lassen sich also nicht verallgemeinern auf die lokale Kunstproduktion vor Ort.
Hat Musik widerständiges Potential?
Für mich als Rezipient bietet Musik schon eine Art von Nicht-Identität oder Freiraum: In dem Moment, in dem wir etwas rezipieren, sind alle anderen profanen Lebensvollzüge, die uns unter Druck setzen, erstmal stillgestellt, zumindest idealer Weise. Wenn man sich drei Stunden lang eine Bach-Messe anhört, womöglich noch im sakralen Raum, wird man woanders hinkatapultiert. Musik gehört für mich daher schon zu einer Art von querstehender Praxis. Das ändert natürlich nichts daran, dass sie eingebunden ist in ganz normale Praktiken, auch wirtschaftliche.

Haben Sie Ideen, wie Aufführungen aussehen oder organisiert sein sollten, um diesem ›Stillstand der Lebensvollzüge‹ als Publikum möglichst nahe zu kommen?
Ich bin früher, als ich jung war, viel gereist, zum Beispiel durch europäische Hauptstädte. Als bemerkenswert ist mir der Kontrast zwischen den Opern in Wien und Budapest in Erinnerung geblieben. Man hat gemerkt, dass es große Unterschiede gibt in dem Geld, was dahintersteckt. Aber eigentlich war es in Budapest viel schöner. Die Dielen haben geknarzt, die Vorhänge waren alt, die Leute haben aber deutlicher spürbar mit Liebe und Hingabe ihren Job gemacht. Musikalisch natürlich einwandfrei, aber eben völlig unspektakulär, ein Standard-Abend mit den Leuten, die da eben angestellt waren. Dieser große Aufwand, der dem gegenüber in Wien betrieben wurde, dieser Nimbus, haben mir gezeigt: Was klassische Musik für mich ausmacht, ist eher der basale ›Gebrauchswert‹. Dass man sie oft und unkompliziert hört. Und nicht selten und spektakulär. Statt eines Events wie Bayreuth wäre es viel sinnvoller, wenn man häufiger Musik für den Normalgebrauch spielt, wie diese Mittagskonzerte – also nicht die großen Inszenierungen mit den Stars, sondern eher öfter, günstiger, vielleicht auch experimenteller, die Musik eher als normales Gebrauchsgut etabliert. Ich glaube, dass viele Orchester damit schon experimentieren.
Ein bisschen so war es ja auch in der DDR. Ich bin alles andere als ein Nostalgiker. Aber der Bildungsgrad, den ich da bei ganz normalen Leuten, Krankenschwestern oder so, bezüglich klassischer Musik erlebt habe, war unglaublich. Weil es Teil des Alltags war, dass man in Leipzig oder anderswo regelmäßig ins Konzerthaus geht. Das war nicht unbedingt immer freiwillig, da ist das Kombinat ins Konzert gegangen und dann ist man eben mitgegangen. Aber es hatte dadurch nicht dieses bürgerlich Abgehobene, repräsentativ Distinktive. Es war eher ›Volkskunst‹, als dass es Klassenunterschiede gezeigt hat, und warum sollte man daran nicht wieder anknüpfen?
Bei Komponist:innen ist es, anders als in der Bildenden Kunst, zumindest in Deutschland eher nicht üblich, sich von einzelnen Kunst-Mäzen:innen für ein Werk beauftragen zu lassen. Haben Sie eine Vermutung warum?
Man kann sich diese historische Entwicklung bei der Bildenden Kunst vereinfacht so vorstellen: Nach der französischen Revolution hat sich die Kunst umgestellt von der Finanzierung durch Kirche und Adel auf bürgerliche, politische Förderung. Dann gab es auf einmal öffentliche Museen … Und dann irgendwann treten, weil der Staat sich privatisiert, die privaten Mäzen:innen an diese Stelle. Man könnte sagen: In der Musik sind wir noch nicht so weit, dass sich die öffentliche Förderung dermaßen zurückzieht, aber vielleicht ist das nur eine Frage der Zeit. Vorzustellen ist das, dass irgendwelche Oligarch:innen sich in ihrem Schlösschen dann auch ein Orchester halten oder sich Werke komponieren lassen. Gut fände ich das aber nicht.
International ist das ja zum Teil schon so, zum Beispiel werden Teodor Currentzis und das Permer Diaghilew-Festival massiv von privaten Mäzen:innen unterstützt. Aber nochmal zur Bildenden Kunst: Wie hat sich die Rolle der Künstler:innen da historisch entwickelt? Und was kann man für die Gegenwart und Zukunft davon mitnehmen?
Wenn wir mal in der Steinzeit anfangen: Die Höhlenmaler:innen haben nebenbei auch gejagt, sonst hätten sie die Figuren, die Anatomien nicht so realistisch malen können. Die ästhetische Praxis war also eingebunden in das Leben jeder und jedes einzelnen. Es gab vielleicht Leute, die das ein bisschen besser konnten, aber es war kein eigener Berufsstand. Meine These ist, dass die wirtschaftliche Grundlage dieser ›Kunst‹ eine egalitäre Gabenökonomie war. Die Steinzeitgesellschaften haben nicht in Tausch gedacht. Man hat einfach das geteilt, was man hatte. Und es gibt einige Ökonom:innen, die sagen: Warum sind die Künstler:innen heute so arm? Weil sie immer noch in dieser Gabenökonomie denken, die Welt um sie herum das allerdings nicht richtig einordnen kann und sie daher ausgebeutet werden, in einer Art ungleichem Tausch.
Eine weitgehend selbstgemachte ›bäuerliche Volkskunst‹ gibt es bis ins Mittelalter – und dann wieder im ›Arts & Craft‹-Movement: Die Teller waren nicht einfach nur Teller, viele wurde ja mit Ornamenten versehen, der Alltag ästhetisiert.
Bei komplexeren Angelegenheiten, etwa im Kirchenbau, brauchte man natürlich irgendwann Leute, die sich spezialisieren; diese hat man dann zu binden versucht. Die Vereinigung in handwerklichen Zünften war ein Schutzmechanismus, man versuchte, die Verarmung der Künstler:innen zu unterbinden, indem man zum Beispiel Preise festlegte und auch wer wo wie viel malen darf. Andererseits sind die Zünfte konformistisch. Dieses Modell wird in der Kunstgeschichte oft negativ gesehen, dabei haben sie den Kunstschaffenden immerhin über lange Zeit eine große Sicherheit verschafft.
Diejenigen, die zuerst die Möglichkeit hatten, sich von diesem bürgerlichen Konformismus der Zünfte zu lösen, waren wohl die Hofkünstler. Die waren immer noch abhängig, aber nur noch von einer Person, dem einen Adeligen. Und wenn der aufgeschlossen war, ging es den Künstlern auch gut. Martin Warnke hat dazu die These aufgestellt, dass dieses Prinzip der Hofkünstler eigentlich die Geburt der modernen Kunst war: Der Geschmack hat sich individualisiert. Man musste dann diesem einen Herrscher gefallen, hat sich darüber aber auch ausgetauscht. So entsteht durch die Hofkünstlerförderung – ein Fürst fördert einen Künstler längere Zeit, nicht nur ein Werk – ein individueller Stil.
Dann kämen die Ausstellungskünstler:innen, sozusagen die modernen, die sich dann wieder lösen von dieser Bevormundung durch die Fürsten, versuchen, einen eigenen Absatz zu finden. Das war letztlich eigentlich immer prekär. Natürlich konnten auch die modernen Maler:innen Geld verdienen, aber vor allem, wenn sie wieder konformistisch gearbeitet haben, wie Salonmaler:innen, die immer wieder Schiffe oder Sonnenuntergänge malen, weil sie wussten, dass es dafür einen Markt gibt, zum Beispiel. Und die Steigerung davon ist dann dieser postmoderne ›Siegerkünstler‹, der wirklich nur noch den Kapitalmarkt bedient.
Wenn man sich diese Entwicklung so vor Augen führt, muss man sagen, dass diese lange verlachten Figuren – die Zünfte, die Hofkünstler, aber auch die ganz frühen Stammes-Formen –, keineswegs nur negativ zu betrachten sind. Und ich denke gerade darüber nach, wie man das auf die heutige Zeit übertragen kann, ohne die ganzen Nachteile einzukaufen.
Was ist die Rolle von Kunst und Kultur in einer Postwachstumsgesellschaft?
Mein Lieblingsautor was das angeht ist John Stuart Mill, ein Ökonom aus dem 19. Jahrhundert. Viele von den klassischen Ökonomen haben gedacht, dass Wachstum nicht ewig weitergehen kann, sondern nur bis zu einem bestimmten Level. Wir haben uns aber mittlerweile daran gewöhnt, dass wir in einer dynamischen Gesellschaft leben, in der sich ständig alles verändert. Kreativität hat da ihren Platz: Ständig entwickelt man irgendwas Neues. Die Frage ist dann aber: Wo soll die Kreativität hingehen, wenn es kein wirtschaftliches Wachstum mehr gibt? Und Mill sagt: ›Ist doch völlig klar. Statt die Kreativität auf wirtschaftliche Entwicklungen zu beschränken, kann man Sprachen lernen, musizieren, dichten, oder die vielen Dichter und Komponisten, die es gibt, rezipieren.‹ Das ist seine Antwort: umstellen von wirtschaftlichem Wachstum hin zum menschlichen, kulturellen Wachstum. Ich glaube, darüber wird selten gesprochen, weil das so normativ ist. Dieser Gedanke setzt ja voraus, dass es so etwas wie kulturelle Fortschritte gibt. Und dass man dann auch sagen kann: Hier ist eine Kultur noch nicht so weit wie eine andere. Und dummerweise sagte Mill sowas auch, etwa im Hinblick auf damalige Kolonien. Das ist der problematische Hintergrund.

Also geht mit dieser Kultur-Wachstum-Idee immer auch Kulturimperialismus einher?
Ich denke, das muss nicht sein, sonst wäre ja zum Beispiel ein Studium unmöglich. Aber es bleibt das Grundproblem: Wenn man voraussetzt, dass einer, wenn er fünf Jahre lang statt Versicherungen zu verkaufen zum Beispiel Schiller ins Spanische übersetzt, dann nach fünf Jahren ein anderer Mensch sein wird – geistig oder kulturell gewachsen –, ist das ein gutes Ziel und es ist bildungspolitisch sinnvoll, in sowas zu investieren. Nur heißt das auch, dass ich, wenn ich den Menschen heute und vor fünf Jahren vergleiche, sage: ›Das ist jetzt der bessere Mensch.‹ Davor haben die Leute Angst. Und das ist ein philosophisches Problem, auf das ich keine schnelle Antwort habe.
Ich würde aber den Gedanken verteidigen wollen, dass es qualitative Unterschiede gibt in der Kultur, dass nicht alles gleich gut ist. Es macht einen Unterschied, ob ich einen Goethe-Roman oder einen Groschenroman lese, zum Beispiel von der Komplexität, vom Anstrengungsgrad her. Und leider lässt sich gerade in der populären Musik zeigen, dass die Komplexität und der Einfallsreichtum stetig abnehmen.
Warum denn überhaupt kulturelles Wachstum? Reicht es nicht schon, wenn man sagt: Hauptsache, man hat irgendwas gemacht, was keine Ressourcen verschleudert, was nichts nachhaltig kaputt macht?
Das ist richtig. Aber ich glaube, viele, vor allem Denker aus dem 19. Jahrhundert wie Wilhelm von Humboldt, würden da sagen: Es würde einem schnell langweilig und dann würde man vielleicht doch irgendwann etwas kaputt machen. Wenn man nicht gelernt hat, wie man seine Zeit füllt … Das ist ja auch so ein Corona-Problem: Man steht auf, hat zehn Stunden Zeit und weiß nicht, was man bis abends um acht machen soll, wenn die Ärztin einem sagt, dass man nicht um zehn Uhr morgens schon das Biertrinken anfangen soll. Was macht man da, wenn man keine kulturell sinnvolle Betätigung findet? Das ist wirklich schwierig. Man kann nicht immerzu die ganze Zeit Fußball spielen oder bergsteigen, zehn Stunden jeden Tag. Man braucht etwas, das kontinuierlich Sinn vermittelt. Ich denke, nur wenn man Kultur so ernsthaft betreibt, dass man sich davon etwas erwartet, was Veränderung oder qualitatives Wachstum bewirkt, kann man sich überhaupt selbst motivieren, sich damit längere Zeit zu befassen. Aber das ist natürlich umstritten.
Viele, die das Grundeinkommen befürworten, stärker noch als ich, haben das an kulturelle Betätigung gekoppelt, Wolfgang Engler zum Beispiel, der lange an einer Schauspielschule war. Der ist sehr für das Grundeinkommen, weil die Arbeitsgesellschaft die Leute teilweise verblödet. Aber man muss trotzdem etwas für das Grundeinkommen tun. Nicht arbeiten, aber irgendwie nachweisen, dass man kulturell ab und zu ein bisschen was macht. So wird außerdem das Grundeinkommen aus dieser Schmuddelecke geholt, man sagt dann nicht mehr von vornherein: ›Die Leute wollen eh nur rumhängen und Bier trinken.‹ Denn das ist Quatsch. In Wirklichkeit renovieren sie das Dach in ihrer Laube oder gehen Angeln oder machen Musik. Aber wenn man wirklich vorzeigen kann, dass das so ist, ist das natürlich besser gegenüber den vielen Gegner:innen, die das Grundeinkommen noch hat.
Nochmal zur Idee der ›Verbesserung oder Veränderung‹ durch Kultur – Ist es nicht gerade der Sinn von Kunst, dass sie absichtslos ist?
Es war das Selbstverständnis der sich als modern verstehenden Kunst, dass sie jenseits von normalen alltäglichen Vollzügen steht, in dem Sinne ›autonom‹ ist, ja. Aber das bezieht sich auf die Innenperspektive des Schaffens oder Rezipierens von Kunst in dem Augenblick, in dem man damit befasst ist. Schon in der Reflektion darauf nachher – oder zum Beispiel jetzt, wo wir genau das oft entbehren müssen – merkt man, dass es viele nicht-wirtschaftliche ›Gewinne‹ durch Kultur gibt: Man trifft Leute, vielleicht ›genießt‹ man, schaltet ab und entspannt (oder erlebt umgekehrt Anspannung und Aufregung), man durchdenkt dabei alte und generiert vielleicht neue Ideen, vergegenwärtigt das ›Erbe‹ mitsamt seiner verlorenen Möglichkeiten, versteht vielleicht auch die anderen Menschen neu (Kunst kann ja zunächst fremd sein, aber diese Fremdheit auch überwinden) und das hebt letztlich die Qualität des Zusammenlebens. Selbst wenn das vielleicht etwas spießig klingt, denke ich, dass Kultur unbedingt zu einem ›guten Leben‹ dazu gehört und deswegen der staatlichen Förderung bedarf – und zwar nicht nur im ›top‹-Segment –, gerade wenn sie, wie jetzt, unverschuldet in die Krise geraten ist. ¶