Ein Auszug aus Albrecht Selges Roman Die trunkene Fahrt
Albrecht Selge schreibt nicht nur fulminante Porträts und Reportagen für VAN, sondern auch Bücher, zuletzt erschien bei Rowohlt Die trunkene Fahrt. Zwantulla, ein Musikkritiker aus Westberlin, Perger, ein berühmter Pianist aus Hannover und Hibiscus, ein Jurastudent aus Bologna, tingeln 1989 in einem Fiat Panda durch Südtirol, chauffiert von Paul Gasser, einem dubiosen einbeinigen Gymnasiallehrer. Wir bringen für Euer Vergnügen einen von Albrecht speziell für die VAN-Leser*innen gewählten Auszug:

Sie bretterten in die noch menschenleere Altstadt von Sterzing, über mehrere Zebrastreifen, bis zum prächtigen Hotel Kaiser Maximilian neben einem gotischen Kirchturm, wo der Pianist Perger, hager u. mit Pferdeschwanz, auffällig kleine Augen, karierter Strickpulli, unter dem Arm ein schwarzes Täschchen, eine Art Aktenmappe, bereits auf sie wartete.
Der Panda stand.
Der Kritiker Zwantulla beneidete Perger um das Hotelbett; nie hätte Perger im Klappbett auf der Almhütte geschlafen (nie hätte ein Gastgeber Perger das angeboten, dem bedeutenden, nicht an Pedal sparenden Pianisten, einst pianistischer Glanzschwanz genannt, gerühmter Lisztspezialist (Spezialiszt, so einst in einem unseligen Anfall von Witz Zwantullas seliger, nun auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof ruhender Altkollege Stiller), der quasi jedes Konzert mit der berühmten h-Moll-Sonate beschloss, dieser überschätzten, gähnend langweiligen, einschläfernden h-Moll-Sonate). – Zwantulla schüttelte den Kopf, um den Assoziationsspuk loszuwerden.
Trotz Hotelbett wirkte Perger nicht recht erholt, nicht nur wegen der kleinen Augen.
Als er einsteigen wollte, bat ihn Zwantullas Sitznachbar, der Student Hibiscus, kurz zu warten, u. streckte die Hände raus, um sie abzuklopfen, dabei wirbelte die Zigarettenasche auf u. teils zurück in den Panda, Perger kniff die Augen zu u. schien ein wenig zu schwanken.
Dann setzte er ein Lächeln auf u. stieg in den wackelnden Panda.
Puh, das stob!, nuschelte er, als er auf dem Beifahrerplatz saß, klemmte sich das Täschchen zwischen die Knie u. schüttelte reihum die Hände.
Paul Gasser, sagte der Fahrer, ich bin heute Ihr Cicerone, Herr Professor Berger.
Freut mich … schöner Wagen übrigens, ist das ein Fiat? Erinnert ein wenig an ein Klavier. Respekt, meine Herren, Sie räucherten ja bereits kräftig ein! Und mehr an Zwantulla als Hibiscus gerichtet: Schliefen Sie gut auf der Alm, Herr Doktor Zwantulla? (Nicht Doktor … egal …) Ich beneide Sie, es muss durchaus wunderbar sein, in dieser Ruhe zu schlafen, in dieser vollkommen reinen Höhenluft, selbst in Zeiten des Waldsterbens. Nicht zu eng dahinten? Hier vorn ist es schon etwas … durchaus … die Knie, wie an einem Hammerklavier oder derlei Murks, so ein Instrument mit Kniehebeln … weiß gar nicht, wie ich meine Füße stellen … immerhin gut zu sitzen … puh, Herr Doktor Zwantulla, was für eine garstige Nacht, nicht wahr, durchaus haarsträubend … spürte es schon, als ich mit dem Taxi zu Tal fuhr … mir brummt der Schädel von Professor Kumms Schnäpsen. Natürlich spukte mir die ganze Nacht unsere höchst instruktive Diskussion über das Wohltemperierte Klavier durch den Kopf …
Er starrte aufs Armaturenbrett. Sein Pferdeschwanz lag schlaff zwischen den Schulterblättern, reglos auch der Rosenkranz am Rückspiegel. Gasser fuhr noch nicht los, sondern blickte Perger erwartungsvoll an: Wollte er noch weitersprechen? Alle spürten, einen Musiker, der über Bach spricht, unterbricht man nicht. Zwantulla überlegte, ob er etwas sagen sollte; auf das Wohltemperierte Klavier waren sie gestern gekommen, weil Perger über sein neues Rezital nachgedacht hatte, das erst in Umrissen feststand, er erwog 6 Präludien u. Fugen zu spielen, welche war noch offen, dazu die 6 Moments musicaux von Schubert, Schönbergs 6 kleine Klavierstücke, den Nucleus des Rezitals lt. Perger, u. zum Abschluss natürlich die h-Moll-Sonate von Liszt.
Ich gedachte all des Klugen, das Sie über die Achtel äußerten, Herr Doktor Zwantulla, Ihre überaus hellsichtigen Bemerkungen über die Erlaubtheit, Achtel und sogar Viertel zu binden (Kumm hatte da durch die Zähne gepfiffen) … weniger klug freilich das über den Pedalgebrauch, durchaus eine müßige Frage … indiskutabel, Bach wie ein pickendes Huhn zu spielen, hackend, richtig in Rage bringt mich diese modische Pedalkeuschheit, Gould hat ja wenigstens versucht, Bach wie Schönberg klingen zu lassen, zumindest ein Standpunkt … dafür gingen mir Ihre luziden Ausführungen über das letzte Präludium nicht aus dem Sinn, das Achtelband in der Linken, das Mysterium der Tempobezeichnungen und der Wiederholung, beides durchaus singulär im Wohltemperierten Klavier …
Hibiscus begann auf seinem Platz herumzurutschen, aber Gasser machte keine Anstalten loszufahren.
… und dies alles nun bedeutsamerweise in h-Moll, jener herrlichsten letzten Tonart, der Leittonart ins Unendliche, Anfang und Ende, Alpha und Omega, denken Sie an die Unvollendete, die Pathétique, die große catholische h-Moll-Messe … (Was redet der da, die heißt doch nur so, ist doch in Wahrheit eine D-Dur-Messe.) Und Liszt natürlich, jene durchaus singuläre Sonate … aber es war mir unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen, die Nacht war zu garstig, die Schnäpse … ich brachte keine gerade Tonleiter zustande, nicht mal eine H-Dur-Tonleiter, als ich mich heute Morgen ans Klavier setzte.
Wunderbar, Herr Professor Berger, Ihnen steht also im Hotel Kaiser Maximilian ein Klavier zu Verfügung?
Ja, selbstverständlich. Perger wirkte plötzlich wieder gefasst. Ich beginne jeden Tag am Klavier, nicht nur aus beruflichen Gründen, es hat dies mit geistiger Gesundheit zu tun. Ich würde nie ein Hotel beziehen, in dem mir kein Klavier zur Verfügung steht, und sei es noch so ein klappriger Kasten. Im Kaiser Maximilian kann ich übrigens durchaus nicht klagen.
Steinway? fragte Zwantulla.
Bösendorfer. Ein alter Imperial mit 97 Tasten, dolles Ding, geht runter bis zum Subkontra-C. Wenn man da ein wenig zu pedalisieren versteht … ah!
Bach?
Was?
Beginnen Sie den Tag mit Bach?
Wie Casals, meinen Sie, nicht wahr?
Nein, der war doch ein Cellist.
Das weiß ich durchaus, dass Casals ein Cellist war. Sie scherzten, nicht wahr? Im Übrigen natürlich nicht Bach, das wäre ja durchaus abgeschmackt. Sondern Liszt.
Puh.
Was wollen Sie damit sagen, Herr Doktor Zwantulla?
Na, Liszt zum Aufwachen, Brahms ist ja bei der h-Moll-Sonate eingeschlafen.
Ich spiele doch am Morgen nicht die h-Moll-Sonate, wäre ja durchaus abgeschmackt, sondern Etüden, Technische Studien, auch mal die Bagatelle sans tonalité oder auch eins der Spätwerke, eine dieser Entgleisungen eines Greises, wie sein elender Schwiegersohn sagte … etwa den Unstern …
Der bringt sie in die Gleise?
Durchaus.
Jetzt fahren wir erstmal los, sagte Gasser, Sie werden sehen, die Bergluft wird Ihnen guttun. Wollen Sie die Tasche nicht in den Kofferraum packen?
Auf keinen Fall. Wo ist denn der Anschnallgurt?
Habe ich rausgetan.
Ach so?
Ungute Sache, die uns der Legislativ aufgezwungen hat.
Da haben Sie durchaus Recht. Gurte sind gefährlich, eine gefährliche Einbildung ist diese Anschnallerei, wiegt einen in falscher Sicherheit. Verstehe ich durchaus … dieser Alb, festgegurtet zu sein und einen Abhang hinunterzustürzen und nicht rauszukommen … im Gurt zu hängen, stellen Sie sich das vor … puh …
Haarsträubend.
Das ist, als täte einem immer erst die zweite Nuss schmecken, sagte Hibiscus, aber man bekommt immer nur eine … Möchten Sie ein Bonbon?
Ja, gern, aber wieso Nüsse?
Das war doch nur ein Vergleich. Rot oder gelb? Gelb ist Ananas, rot Granatapfel.
Is ja doll. Granatapfel, bitte.
Sehen Sie, schon geht es Ihnen besser. Ich sags doch, die Bergluft. Jetzt rauchen Sie noch eine Zigarette, und schon …
Gute Idee. Perger zog eine Packung HB aus der Jackentasche. Wie bitte, es gibt keinen Zigarettenanzünder? Im Ernst? Ein Auto ohne Zigarettenanzünder?
Es ist ein Fiat.
Perger zündete sich die HB mit Gassers Feuerzeug an: Ein Auto ohne Zigarettenanzünder, das ist wie Bach am Imperial. Plötzlich konnte er wieder schmunzeln, gelöst fragte er, rauchend u. lutschend, nach hinten: Wie geht es denn Ihnen heute Morgen, Herr Doktor Zwantulla, ich sah Sie vorhin den Kopf schütteln, brummt Ihnen auch der Schädel?
Nein, die Beine.
Was?
Muskelkater, wir waren nachmittags spazieren, bevor Sie hochkamen. Für Beine scheint die Bergluft nicht gut zu sein. – Irritiert bemerkte er, dass Gasser wie auf der Alm fragend, fast beleidigt zu ihm schaute, diesmal durch den Rückspiegel.
Davon erzählten Sie gestern ja gar nichts, sagte Perger. Professor Kumm zwang Sie zum Wandern?
Was heißt zwang, es war ein Vorschlag, eine Einladung … und Wandern, naja, für Hibiscus und seine Brüder wär es nur ein läppischer Spaziergang gewesen.
Hihi.
Er schreckt durchaus vor nichts zurück. Perger schien das im Scherz zu sagen. Nehmen Sie doch auch ein Bonbon, Sie werden sehen …
Nein danke, ich rauche lieber.
Wohin aschen wir eigentlich?
Hier rein, wenn Sie wollen. Hibiscus streckte die Hand zu Perger nach vorne.
Ach nein, da ist ja ein Aschenbecher. Kein Zigarettenanzünder, aber ein Aschenbecher, ist ja eine contradictio in adiecto, Sachen gibts …
Sie brausten los.