Angesichts von mal lustigen mal nicht so lustigen – im besten Fall verbotenen – Klassik-Shreds, fatal-trashigen Klassik-Fails oder – viel schlimmer – steifer oder pseudolockerer Werbung für das Album eines vermeintlichen Klassikstars, stellen wir mit dem Hauch eines im ersten Moment nicht näher zuzuordnenden Gefühls – denn: was sagt dieser Umstand über die piekfeine »It-was-so-great-to-play-with-my-fantastic-colleagues«-Klassikwelt aus? – fest: So richtig authentisch menschelnd geht es in Youtube-Videos aus dem Themenbereich »klassische Musik« mit stattlicher Aufrufzahl nicht zu. Doch da gibt es eine sympathische Ausnahme mit immerhin über 2,3 Millionen Klicks bisher:
In einer öffentlichen Generalprobe im Amsterdamer Concertgebouw mit Riccardo Chailly am Pult des Concertgebouw-Orchesters erwartete die Pianistin Maria João Pires im Jahre 2009 die ersten Takte der Orchesterexposition des Konzerts für Klavier und Orchester Nr. 21 C-Dur KV 467 von Wolfgang Amadeus Mozart. Zu ihrer eisigen Überraschung ertönen jedoch die grummlig-dräuenden Königin-der-Nacht-Eingangsklänge des d-Moll-Konzerts KV 466. Pires hatte sich auf das falsche Mozart-Konzert eingestellt, fällt folglich, man leidet mit ihr, aus allen Wolken, spricht – üblich bei einer normalen Probe, unüblich bei einer öffentlichen Generalprobe – während die Musik weiterläuft mit Chailly, der ihr gut zuredet – und spielt, natürlich perfekt, weil seit Jahrzehnten im Repertoire, schlichtweg das nun einmal begonnene d-Moll-Konzert. Die Video-Kommentare klingen für Klassiknerds wie die von Mädchen, die in unserer späten Jugend den Boy in der Schule anhimmelten, der auswendig (!) die grauenerregend plätschernde Nicht-Melodie aus Die fabelhafte Welt der Amélie auf dem Klavier zu präludieren imstande war: »That was incredible!«, »Simply amazing!!« sowie »Brilliant pianist! I wanted to hear the rest of the song!«
Viele »Lieder« wird Pires leider nicht mehr spielen. In diesen Wochen beendet die 1944 in Lissabon geborene Pianistin, inzwischen mit brasilianischem Pass ausgestattet, ihre aktive Laufbahn. Auf der Homepage ihrer Agentur finden sich nur noch wenige Termine im Mai, wo sie das dritte und fünfte Klavierkonzert Beethovens mit Daniel Harding als Dirigenten des Orchestre de Paris geben wird.

Beethoven hat die einstige Schülerin des tiefdeutschen Romantikers Wilhelm Kempff weniger oft gespielt als man vermuten könnte: Auf drei CDs erschienen zwar alle Sonaten für Klavier und Violine Beethovens im Zusammenspiel mit dem Geiger Augustin Dumay (2001), doch lediglich eine handvoll Klaviersonaten stehen als Aufnahmen vom Beginn der Nullerjahre zu Buche, darunter aber immerhin die Letzte in c-Moll op. 111. Man mag die jähe Pranke, die den kleinen und großen Anläufen des ersten Satzes so gut tut, bei ihr vermissen. Doch verkommt der Eingangssatz durch die ungeschminkte Natürlichkeit ihres Spiels dafür wohltuend nicht zur Freakshow und es gelingen an den unterbrechenden Rezitativstellen Momente von schönster Pianissimo-Verharrung. In der abschließenden Arietta ermöglicht ihr immer geschmackvoll ritardierendes Pianissimo-Spiel in seiner Schlichtheit innigste späthovensche Zögerlichkeiten: fast zerbrechen die Zusammenhänge der Töne bei der Moll-Variante des 9/16-Themas zu Beginn; man verzagt als Hörer in einem begehrenswert traurigen Weiß.
Bemerkenswert, dass für die drei großen Klavier-Damen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Pires sowie Martha Argerich und Mitsuko Uchida – Mozart eine viel größere Rolle spielte als bei den meisten ihrer männlichen Kollegen. Dort scheint Mozart immer noch ein No-Go zu sein, wird im real existierenden Repertoire auf wenige Klavierkonzerte reduziert oder – nicht ganz zu Unrecht – den Hammerflügel-Spezialisten überlassen. Alle drei Pianistinnen haben dagegen so gut wie alles von Mozart – die Sonaten als auch die Klavierkonzerte – live und auf Tonträgern präsentiert. Alles andere als seicht, nicht zu perlend und dabei doch natürlich schön gehen Pires die Mozart-Sonaten von der Hand. Jegliche Angebote gestisch-narzisstischer Neckigkeiten schlägt sie klug aus, widmet sich dabei vielmehr den feinen dynamischen Unterschieden, die sie nicht in schlechter Nachahmung barocker Terrassenabstufungen runterbricht auf »laut« und »leise«.
Ihr schlichtweg guter Geschmack, die fehlende harte Hand bei jeglicher Abwesenheit von Seichtheit, kommen Pires beim Spielen von Chopin besonders zugute. Pires findet die Mitte von lyrischer Selbst-Anschauung inmitten der Nocturnes und immer wohlgelenkter Veräußerung, die Intensität ermöglicht ohne dabei krampfig emotional zu werden. Dies zeigt sich beispielsweise bei ihrer Interpretation des Nocturnes H-Dur op. 32 Nr. 1: Kein komponierter Abbruch, peinlich forciert dramatisch; kein »poco ritenuto« übertrieben den eigentlichen Fluss unterbrechend; keine bittersüße Pianissimo-Terzkette selbstverliebt glucksend. Insbesondere sind es die Fähigkeiten der Pianistin, ihrem eigenen Nachhall zuzuhören, Pausen zu gestalten und chopinsche Melismen nicht als Gelegenheit zu verstehen, dort, wo vordergründige Virtuosität nun einmal fehlt, in Härte und eitle Brillanz umzuschlagen, die ihre Chopin-Nocturnes-Aufnahme als wichtigste nach der Arthur Rubinsteins erscheinen lassen.
Früh genug, noch lange bevor sich die Deutsche Grammophon in den letzten Jahren von den Kategorien guten Geschmacks befreite, nahm das Label mit dem Old-School-Logo Pires bei sich auf. Zuletzt erschienen 2014 ihre »Complete Solo Recordings«, die nun offenbar als aktuellste Zeugnisse der Live-Kunst Pires’ auf CD herhalten sollen, wenn der Liebhaber uneitlen Klavierspiels künftig auf Auftritte der Grande Dame aus Portugal verzichten muss, die modernes Repertoire stets verschmäht hat.
Pires, seit 2012 Professorin an der Chapelle Musicale Reine Elisabeth in Waterloo, spricht perfekt Deutsch. Öffentlich-rechtliche Radiomoderatoren müssen hierzulande dagegen immer noch einmal in der ARD-Aussprachedatenbank nachlauschen, wie denn der Name von Pires korrekt ausgesprochen wird. ¶