Ähnlich wie im Falle von Franz Schuberts Symphonie h-Moll spürt man anhand von Anton Bruckners unvollendeter Symphonie No. 9 den schmerzlichen Verlust im Sinne eines »unfertigen Werkes« kaum. Bruckner ist dabei – anders als Schubert – aufgrund eines zutiefst humanen, ja anlässlich des intimsten, privatesten, banalsten wie auch feierlichsten Ereignisses im Leben eines Menschen überhaupt mit der Symphonie nicht fertig geworden: Er ist einfach gestorben.

Mir geht es so: Wenn ein Mensch stirbt, dessen Wesen ich als zutiefst zynisch und unsympathisch empfand, dann schäme ich mich fast ob des »Einblicks« (sprich: der Todesmeldung über die dpa) in so viel Privatheit, so viel Menschlichkeit: »Er ist einfach gestorben.« Den Tod empfinde ich als weich – und als Freund. Er ist ein sehr radikaler Freund. Er macht keine Kompromisse. Aus. Fertig. Pjotr Iljitsch Tschüssikowski.

Das Wissen über das bald anschließende Ableben des Schöpfers verändert das Hören von Bruckners Neunter. Bruckner war dabei alles andere als zynisch. Aus seiner Musik spricht eine ehrliche, nicht nur religiöse Menschlichkeit. Gerade in seiner Einfachheit der Themensetzung, in dem manchmal etwas vorausschaubaren Plan, diesen Themen-Block nach jenem Überleitungs-Block zu bringen, steckt Bruckners sympathische Symphonie-Essenz. Formulieren wir es unverschämterweise ruhig einmal allgemein: Bruckner ist uns so nah, weil sein kompositorischer Bauplan häufig durchschaubar-durchhörbar ist. Keine Geheimniskrämerei. Umso mehr in seiner Neunten, über der er gestorben ist. Offenes Testament. Nicht ganz vollendet. Aber groß und unendlich in seiner Kraft. Bruckners Kunst ist eine Readymade-Kunst, die uns richtig fertig macht.

Im Vergleich zu Schubert mit seiner »Unvollendeten« brachte es Bruckner in seiner letzten Symphonie immerhin auf drei – nicht »nur« zwei – fertige Sätze. Das Fragment gebliebene Finale sollte ihn sogar bis in seine letzten Lebenstage begleiten. Begonnen 1887 hatte Bruckner – als er, basierend auf einer Herzinsuffizienz, bereits an Sklerose und Wassersucht litt – den ersten Satz im Herbst 1892 fertiggestellt. Im November des Folgejahres konnte er schließlich das Scherzo und im November 1894 das Adagio komponieren. Die Uraufführung seiner Neunten erlebte er jedoch nicht mehr; diese erfolgte erst im Februar 1903.

1894 – im Jahr der Fertigstellung des dritten Satzes also – hatte es noch Anzeichen einer gesundheitlichen Besserung gegeben. Bruckner feierte seinen 70. Geburtstag und erhielt zahlreiche Glückwunschbriefe, darunter ein Schreiben vom alten Johannes Brahms. Im Juli 1895 bekam Bruckner von Kaiser Franz Joseph mehrere Räumlichkeiten im Schloss Belvedere in Wien zur Verfügung gestellt. Ungewöhnlich luxuriöses Wohnen. Und im Januar 1896 hörte Bruckner letztmalig eines seiner Werke – und zwar seine vierte Symphonie, in einem Programm zusammen mit Till Eulenspiegels lustigen Streichen von Richard Strauss und Richard Wagners Liebesmahl der Apostel für Männerchor und Orchester. Am 11. Oktober 1896 starb Bruckner im Alter von 72 Jahren.

Das Hauptthema des ersten Satzes der Neunten (Feierlich. Misterioso) kommt auf die Hörer*innen zu wie ein riesiger Pfeiler, der sich von unten die Erdkruste durchbrechend herauf in Superzeitlupe zum Himmel schraubt. 18 Takte lang halten alle Streicher in ihrer jeweiligen Lage den Ton »d« aus, während darüber die Holzbläser für einen Moment – nur kurz den Grundpfeiler »d« unterstützend – ehrenvoll salutieren. Anschließend wird den Hörnern im Wechsel mit (leisen!) Pauken und Trompeten das Feld überlassen. Erstmals weichen die Hörner von dem Ton »d« ab. Eine kleine Terz – »ein kleiner (Ton-)Schritt für die Menschheit« – rauf zum »f« und wieder herunter zum »d«.

Erst nach 18 Takten wechseln die Streicher den Ton. Das Verhältnis von Bogen- zu Ton-Wechseln ist monumental unausgewogen, haha. Die hohen Streicher rücken den »engsten« Schritt nach oben (also rauf zum »es«), während die Celli und die Kontrabässe gemeinsam den chromatischen Schritt nach unten (also runter zum »des«) vollziehen. Aus »d« resultiert also die Reibung »es« plus »des«. Diese wird zum schicksalsträchtigen Ausgangspunkt der weiteren symphonischen Ereignisse des ersten Satzes, zur heroisch-tragisch-amourösen Keimzelle, aus der heraus Großes entsteht. Wenige Symphonien lassen sich so viel Zeit bis das erste Thema mit seinen Zutaten vollständig erklungen ist. Wenige!

Der erste Satz (Feierlich. Misterioso) mit Leonard Bernstein und den Wiener Philharmonikern (1990)

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Bruckners Neunte mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Leonard Bernstein wurde zu dessen letztem Dirigat in Wien. Das Konzert fand am 2. März 1990 statt – Bernstein starb am 14. Oktober 1990 in New York City.

Als großer Bruckner-Dirigent gilt Bernstein im Allgemeinen nicht. Doch die Bernsteinsche Aura des Musikanten, des Musikantischen, die hier auf die Exposition des ersten Symphoniesatzes segnend Zugriff/Zutritt erhält, tut der Musik sehr gut. Da wird gar nicht groß Geheimniskrämerei betrieben. (Das ist sicherlich einigen Hörer*innen zu »unbesonders«. Und das könnte ich sogar verstehen.) Der Streicherteppich des Beginns ist erstaunlich präsent – und wird dennoch wirklich Pianissimo dargeboten. Die in der Partitur verzeichneten Akzente setzen die Wiener Philharmoniker werktreu um. Die suchenden, tastenden, nach Wasser und Liebe lechzenden Motivstreicher hangeln sich ganz langsam empor – und schluchzen nicht zu sehr. Sentiment: ja. Aber keine Sentimentalität. Überraschend, wie Bernsteins Bruckner berührt! Als schönes und besonderes Detail erlebt man vielleicht die wirklich fein zappelnden Pauken noch vor Erreichen der dritten Minute. Das brodelt es im alten Körper, das geht einem wirklich nahe: Das lebt, webt, bebt. Da will mir das Herze übergehen! Doch, halt!

Der erste Satz (Feierlich. Misterioso) mit Sergiu Celibidache und den Münchner Philharmonikern (1995)

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Kein Bruckner-Interpretationsvergleich ohne »Celi«. Sergiu Celibidache und die Münchner Philharmoniker (1995) nehmen den Pianissimo-Anfang zurückgenommener als die Wiener dereinst unter Bernstein. Und so richtig intonarisch »sauber« sind die Holzbläser in den Takten 3 und 4 eigentlich nie – auch in Wien nicht. Wenn allein Oboen aufgefordert sind, ihr tiefstes »d« (das d1) »Piano« zu spielen, dann… Aber das ist eine andere Geschichte. Eine Geschichte von schnatternden Enten und Kindern, die – wegen Oboeübens – nicht Heiabutzie machen können.

Den Piano-Paukenschlag der ersten Partiturseite will Celibidache etwas schwerer als Bernstein, ausdrucksvoller – und tatsächlich geht die symphonische Sonne anlässlich des expressiven Crescendo-Moments bei Celi besonders eindrücklich auf. Das bricht noch ganz anders heraus, da öffnet jemand ringend die Arme. (»Ringend«: Auch so ein typisches Deutschenwort, geklaut aus zahlreichen Wagner-Flohmarkts-Klavierauszügen.)

Natürlich ist Celibidache informierter, was Bruckners Instrumental-Kontrapunkte angeht. Da weiß jedes Instrument, was das andere – ihm zuarbeitende oder ihm aufreibend entgegengestellte – macht. Jederzeit. Dazu hat dieser Dirigent die Musiker*innen verpflichtet, hat es ihnen eingeimpft. Zwangsimpfung – ohne Proteste.

Die Klangqualität der Akkorde – gerade solche, mittels derer sich Bruckners Stauungen bündeln – klingen bei den Münchnern unter Celibidache satt wie selten, vom Innersten her ausgehört; jeder Ton ist sich seinem Klanggewicht, seiner Rolle innerhalb des Gesamtgefüges bewusst. Intellektuell. Schwer. Faust.

Der erste Satz (Feierlich. Misterioso) mit Günter Wand und dem NDR Sinfonieorchester (2001)

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Eine gleichsam profunde Wucht vermittelt der Pianissimo-Anfangsteppich bei Günter Wand und dem NDR Sinfonieorchester (2001). Fast mit einem Akzent steht der Klang plötzlich im Saal. Irgendwie aufregend, aber auch nicht besonders fürchtemachend. Eher heimelig als heimlich.

Aus dem Heimelig-Griff lösen sich dann sogleich die einsetzenden Hörner – leider in diesem Live-Mitschnitt ziemlich uneinheitlich. Ganz wattig und voluminös – und tontechnisch fast zu fett abgenommen – dann der Pauken-Moment. Bruckners Symphoniemaschine ist von Anfang an da. Der Motor läuft, keine Frage. Nur die Steigerung verliert dabei an Gewicht, an Ausstrahlungskraft. Da ist erstaunlich viel Routine. Da trauert mir zu wenig! Das ist auch von dem lieben Günter Wand, der mich beim Anschauen dieses Mitschnitts sehr berührt, zu durchtaktiert; da würde ich mir fast das (mir meist aber zu selbstgefällig wirkende) Spielenlassen eines Barenboims wünschen. (Barenboim hört manchmal einfach mit dem Dirigieren auf – und vertraut seinen Musiker*innen. Ich liebe diese Momente! Das ist so spannend!). Lass sie frei bei Stellen des Gefressenwerdens, des Darbens! Das wäre so wichtig – gerade bei Bruckner!

Der erste Satz (Feierlich. Misterioso) mit Herbert Blomstedt und dem Gewandhausorchester Leipzig (1999)

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Das krasseste Anfangs-Pianissimo findet man – was die hier vier besprochenen Interpretationen angeht – bei Herbert Blomstedt und dem Gewandhausorchester Leipzig (1999). Exemplarisch lernt man hier, warum Blomstedt als Bruckner-Dirigier-Legende gilt. Er arbeitet einerseits nach dem Mahlerschen Prinzip der Genauigkeit, platziert die Dinge da, wo sie sein müssen – und hat den großen Crescendo-Bogen raus; gleichzeitig ist da nie überzeichnetes Pathos, oder irgendeine tränenreich dargebotene Motiv-Heulerei anzutreffen.

In die schönste Leipziger Streicherreibefläche möchte man sich sogleich reinlegen. Tremolo ist nämlich nicht gleich Tremolo. Beim Tremolieren auf dem Streichinstrument kann man natürlich den Bogen einfach möglichst schnell hin- und herführen. Tremolo halt. Eben nicht! Blomstedt entlockt den Musiker*innen gleichsam Orgeltöne; das Tremolo wird eher Richtung Griffbrett ausgeführt; dazu muss man auch irgendwie mehr in die Saiten hinein; man schüttelt das Instrument gefühlt fast mehr – und bekommt dafür einen glühenden, kupfernen, sonoren Klang.

Steigerungen sind bei Blomstedt – so genau weiß ich natürlich auch nicht, wie er das macht! – nie peinlich. Aber sie sind groß. Und stark. Und schön. Und streng – aber nicht im menschlich erkalteten Sinne. Blomstedts Bruckner entsteht wohl schon fußend auf einem tief verwurzelten, religiösen Verständnis des menschlichen Seins. Best World of Bescheidenheit. Entsprechend erwachsen aus Blomstedts Bruckner-Dirigaten immer riesenhafte Orchesterorgelpotentiale. Er zieht die Register – und man fühlt sich von wohlwollenden 64-Fuß-Orgelpfeifenmonstern umgeben. (Aber nie amerikanisch fett und entsprechend lackaffig poliert!)

Das Scherzo (Bewegt, lebhaft) beginnt mit einem huschenden, dann liegenbleibenden Akkord der Oboen und der Klarinetten. Anschließend vollführen die Streicher ein schnelles gezupftes Frage-Antwort-Spiel. Dabei ist das Scherzo hier kein freundlich-tanzendes Showstück, sondern in seinem tiefsten Innern: böse! Hier passieren die diabolischsten Dinge: »falsche Flöten«, dreinschlagende Gewaltakte im ganzen Orchester und andere skurrile Momente höchster Merkwürdigkeit.

Der zweite Satz (Scherzo. Bewegt, lebhaft – Trio. Schnell) mit Leonard Bernstein und den Wiener Philharmonikern (1990)

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Bernstein und die Wiener führen ein großes Drama auf. Da wird erst fast ganz routiniert dahingepizzt – als könnte hier nichts das Scherzowasser trüben. Und dann: Wumms! Das ist herrlich eruptiv – und schlimm. Da wird gepoltert, da wird gehauen. Hier ist richtige Wut. Und da sind auch Mahlersche Bernstein-Momente, in denen die Solo-Oboe Auftakte leicht verzögern und böhmisch-improvisatorisch nehmen darf. Das ist genau das, was ich von Bernstein haben will! (Danke!)

Der zweite Satz (Scherzo. Bewegt, lebhaft – Trio. Schnell) mit Sergiu Celibidache und den Münchner Philharmonikern (1995)

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Fast diktiert, viel langsamer geht Celibidache das Scherzo an. Es folgt eine typische Sezierung der symphonischen Wurzelwucherungen Bruckners, die von den Anhänger*innen dieses Dirigenten mit fast religiösem Wahn verteidigt wird. (Mir wird bereits jetzt anders, wenn ich vor meinem inneren Auge die in diesem Moment noch ungeborenen Kommentare lese, in denen verkrampfte Almans mir vorwerfen, ich würde ja »sehr subjektiv« argumentieren. Und daher bin ich jetzt – was für eine Überraschung! – mal Subjekt; und lasse Celibidache ausscheiden. Ich mag vieles davon nicht. Diese musikalische Exegese, dieses Nachgehen, dieses Geprobe! Dieses beharrliche Betonen, Bruckner sei so schwierig zu dirigieren. Unsinn. Schluss. Aus.)

Der zweite Satz (Scherzo. Bewegt, lebhaft – Trio. Schnell) mit Günter Wand und dem NDR Sinfonieorchester (2001)

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Äußerst flink und behände gibt das NDR Sinfonieorchester unter Günter Wand das Scherzo. Da stimmt es dann bald nicht mehr mit der Koordination der Blechbläser. Das besagte Oboen-Solo, das Bernstein zu einer großartigen Mini-Szene macht, geht hier als Moment »im Dienste der Sache« spur- und emotionslos an einem vorbei. Diese Interpretation ist kein Muss.

Der zweite Satz (Scherzo. Bewegt, lebhaft – Trio. Schnell) mit Herbert Blomstedt und dem Gewandhausorchester Leipzig (1999)

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Ähnlich von der Tempogestaltung dirigiert Blomstedt den zweiten Satz. Wieder geradlinige, völlig souveräne Crescendo-Blöcke, die in ehernen Fortissimo-Ausbrüchen kulminieren. Wieder absolut geschmackvoll, gemessen, ausgeglichen. Das kann man eigentlich nicht besser machen.

Der letzte Satz (Langsam, feierlich) vermittelt – ganz im Gegensatz zum satanistischen Scherzo – den tiefen Ausdruck glühender Liebe. Ein Frieden, in den das Leid der ganzen Welt mit hineinkomponiert wurde. Mit einem großen, schmerzvollen Sprung holen die ersten Geigen aus. Töne des Leidens, des Kriechens, des Flehens. Die Hornisten V bis VIII greifen nun zur Wagner-Tuba. Ein kupferner, hohler und doch warmer Klang lässt Choräle aufleuchten; Vorboten eines möglichen vierten Versöhnungssatzes. Doch dieser Satz wurde nicht mehr fertig. Mehrere Komponisten haben Bruckners Final-Skizzen zum Anlass der »Rekonstruktion« einer Aufführungsversion genommen. Meist erklingt die Symphonie jedoch in ihrer dreisätzigen Form. Und das ist auch gut so.

Der dritte Satz (Adagio. Langsam, feierlich) mit Leonard Bernstein und den Wiener Philharmonikern (1990)

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Von Bernsteins Interpretation hätte man sich vielleicht gerade hier noch »mehr Mahler« gewünscht. Da dürften die Geigen noch viel mehr glissandieren! Doch da geht auch schon die Wagner-Parsifal-Sonne der Blechbläser auf – und die Kontrabässe reiben rollig-wohlig vor sich hin, und Bernstein krächzt/singt, leidet mit. Das ist intensiv – und seien wir ehrlich: Die Wiener machen das auch alleine schön. Bernstein lebt und liebt die Musik vor. Da geraten – bei Bruckner eh manchmal echt heikle und im Grunde zu fragil instrumentierte – Übergänge schon mal aus dem Blick, werden verschludert. Doch dann tönt der warme Wagnertuben-Choral schon wieder so schön, dass man die Welt umarmen möchte. Oder so.

Der dritte Satz (Adagio. Langsam, feierlich) mit Günter Wand und dem NDR Sinfonieorchester (2001)

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Zurückgenommener lässt Günter Wand die Geigen das Schmerzensmenschmotiv intonieren. Leiser. Und das Vibrato auf der zweiten – weinend nach oben gerungenen – Note ist viel differenzierter als bei Bernsteins Wiener Wucht. Doch spielt mir das NDR Sinfonieorchester im weiteren Verlauf hier zu sehr auf Sicherheit. Und der Pfad der Sicherheit kennt eben in dem Moment Grenzen, in dem sich schlichtweg gravierende intonatorische Probleme der hohen Geigen ergeben. Sicherheit: okay; aber dann wenigstens sauber. Das kann dann nämlich irgendwie auch nicht sein. Das trübt die Schicksalstöne Bruckners.

Der dritte Satz (Adagio. Langsam, feierlich) mit Herbert Blomstedt und dem Gewandhausorchester Leipzig (1999)

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Und wieder bringt Blomstedt die Mitte, den vermeintlichen »Kompromiss« aus Ausdrucksüberschwang und Strenge! Man höre nur den ersten Ton, den Blomstedt den Leipzigern abgewinnt. Da ist Bescheidenheit ohne Mönchsstrenge; Ausgeglichenheit mit Feuer. Der zweite Ton dieser Tristan-Vorspiel-Parsifal-Bruckner-Elegie wirkt bei Blomstedt dagegen fast »dünn« – mit viel weniger breitem Vibratostrich musiziert. Die Spar-Taktik, die jedoch nicht planvoll abgezirkelt ins heimische Wohnzimmer zugestellt wird (wie bei dem hier rausgeschmissenen Celibidache), geht sich bei Blomstedt voll aus. Die anschließende orchestrale Steigerung wird zu einem Moment größter Ergriffenheit, dem man sich nicht entziehen kann. Die langsam schlurfenden Steigerungen, die uns Bruckner als durch Wien tippelnden Greis vermeintlich zeigen, bauen ein Gefüge aus Musik auf, das uns dramaturgisch-dramatisch fortreißt, in lichte Höhen. Ja, in den Himmel. Wohin sonst? ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.