Das Gegenteil von Fremdeln? Gibt’s im Deutschen nicht. Arthur Schoonderwoerd aber liebt es. Während seiner Ausbildung auf dem modernen Flügel verfiel der in Besançon lebende Niederländer in seine zweite Leidenschaft, das Gründeln. Warum, fragte er seinen Lehrer Hermann Uhlhorn, werden auf der Klaviatur ganz rechts so viele Tasten nie berührt? Der wusste es nicht. Schoonderwoerd gründelte sich bis zu den alten Pianofortes durch, die hatten viereinhalb und fünf Oktaven, ein Tonumfang, den Schoonderwoerd in den frühen Partituren Haydns, Mozarts und Beethovens wiederfand. Der richtige Lehrer für das Problem war Jos van Immerseel. Bei ihm in Paris verliebte sich der junge Schoonderwoerd in den Klang der alten Instrumente, in die Haptik ihrer Tasten, den Eigensinn der hölzernen Mechanik. Als er die Konzerte Mozarts und Beethovens auf ihnen spielte, fand er, es war ein Jammer, wie dieser verzaubernde Klang im großen Miteinander der Streicher unterging. Es muss ein passendes Orchester her, sagte er sich. In Ermangelung geeigneter Klangkörper gründete er selbst einen. Sein Ensemble Cristofori ist auf  Schoonderwoerds CDs mit den Klavierkonzerten der beiden Wiener Klassiker neben den wie üblich doppelten Bläsern mit solistischen Streichern (zwei Violen) besetzt. In den meisten mir bekannten Kommentaren zu Schoonderwoerds Arbeit taucht das Wörtchen »fremd« auf. Alles, was er anpackt, klingt fremd. Kein Wunder, dass die einem Künstler seines Könnens und seiner musikalischen Intelligenz angemessene Resonanz bislang ausblieb. Merkwürdig, das Fremde ist seltsamerweise negativ konnotiert in Ländern, deren Bewohner in ihrem Dasein doch eigentlich weiß Gott nicht zu viel Abwechslung oder Erfrischung erleben und denen nichts neu genug sein kann, wenn es nur ums Shoppen geht. Schoonderwoerds Verfremdungen suchen das Neue im Nichtkonsumierbaren, Nichtkäuflichen, sie wollen überraschen und öffnen, statt zu überwältigen. Wer Arthur Schoonderwoerd nicht persönlich erlebt hat, könnte ihn für einen Sektierer halten. Ist einer, der so ausdauernd an etwas festhält, das mit dem Erfolg so lang auf sich warten lässt, nicht eher ein Idealist? Ja, lacht er, bin ich. Wie Beethoven. Wir sind Sagittarii, vielleicht liegt es daran, wir sind beide Schütze.

VAN: An alte Klaviere, wie Sie sie spielen, gewöhnt sich das Publikum langsam. An Programme, in denen neben Sinfonien und Konzerten auch ein Flötentrio erklingt, schon weniger. Problematisch wird es mit Ihrer Gewohnheit, die Streicher solistisch zu besetzen. Wie sind sie auf diese Idee gekommen?

Arthur Schoonderwoerd: Das war mein Lehrer, glaube ich, Jos van Immerseel, er spielte in Utrecht mit seinem Orchester einige Mozartkonzerte. Ich habe es sehr genossen, aber das Klavier war nicht zu hören. Ich habe wirklich alles versucht, bin näher herangegangen, an die Seite. Das Orchester spielte sehr schön. Aber das Klavier war nicht zu hören. Da stimmt was nicht, dachte ich, ein Problem der Balance. Als ich in der Partitur nachschaute, stand da: Violino primo, Violino secondo. Flauto. Alles einmal besetzt. Aber dann: Viole! Bei den Bratschen gibt es immer zwei, sie sind geteilt. Da fragt man sich doch: Warum soll ich nicht mal wirklich versuchen, es so zu machen, wie es in den alten Noten steht? Mit drei ersten Geigen zu spielen oder mit sieben – das ist irgendwann mal von irgendjemand willkürlich festgelegt worden. Niemand weiß, wie das zu Mozarts Zeit wirklich gehandhabt wurde. Das erste Zeugnis, das wir haben, ist die Partitur. Da ist alles einfach besetzt, da steht nicht ›Primi Violini‹….

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Kommt hinzu: Die Säle etwa in der Mehlgrube in Wien bei Mozart oder im Palais Lobkowitz bei der Uraufführung der Eroica waren erstaunlich klein.

Da gingen nicht viele Leute rein. Und die Klaviere klingen viel besser, wenn es nicht so viele Leute sind.

Das ist heute nicht anders.

Man sollte am besten nicht mehr als sechzig oder fünfzig, vielleicht nur fünfundzwanzig Menschen im Saal haben. Aber das ist das große Problem heute. Die Konzerte müssen rentabel sein. Man könnte allerdings auch Konzertreihen einrichten, in denen der Klavierspieler fünf Mal vor 50 Leuten spielt, statt einmal vor 250. Da wären die Menschen glücklicher, denke ich, denn sie haben etwas Persönliches erlebt. Das gehört zu den Dingen, die ich gern ändern würde. Aber das ist natürlich … das kann ich nicht allein machen.

Was ist das Problem?

Es sind vor allem die Veranstalter. Die haben nicht verstanden, dass man es auf einer CD machen kann wie im 18. Jahrhundert, denn die Mikros sind überall in der Nähe, so wie die Leute damals in der Nähe waren. Und in einem Saal für dreitausend Leute hört man zwar auch etwas, wenn die Akustik gut ist. Aber man kann es eben nicht wirklich genießen. Man hört vielleicht die Struktur, ein paar Farben, mehr nicht. Dagegen trägt, wenn man in seiner Nähe sitzt, der schöne Klang eines historischen Instruments vielleicht sieben oder acht Meter weit, in einer sehr guten Akustik vielleicht zehn bis fünfzehn, mehr nicht.

Die Kleine Beethovenhalle in Bad-Godesberg-Muffendorf, 1896 entstanden, kam Ihrer Idee von Nähe allerdings wunderbar entgegen. Der Hammerflügel erschien mühelos als solistischer Teil des Orchesterklangbilds.

Das Klavier für Beethoven, das ich gewählt habe, ist ein bisschen zu spät. Wir machen sein erstes Klavierkonzert mit einem Sechs-Oktav-Instrument. Aber es ist wahrscheinlich 1795 komponiert, man müsste es auf einem Walter-Flügel mit fünf Oktaven machen, dafür ist es geschrieben. Nun spielten wir aber im zweiten Programm auch das vierte Konzert von 1809 für ein Instrument mit sechs Oktaven. Für diesen Unterschied mit zwei Klavieren und dem Cembalo für die Sinfonie von Carl Philipp Emanuel anzureisen, wäre vielleicht etwas übertrieben gewesen. Manchmal richtet sich die Wahl der Instrumente nach praktischen Gesichtspunkten. Wenn wir es ganz korrekt hätten machen wollen, hätte ich für die Bach-Sinfonie das Cembalo, für das erste Beethoven-Konzert einen Walter und für’s vierte Konzert meinen Fritz nehmen müssen.

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Es gehört zum scheint’s unausrottbaren Fundus des ignoranten Teils der Fachwelt, der historischen Aufführungspraxis zu unterstellen, es ginge ihr um Schimären wie die ›Authentizität‹.

Wenn wir für das vierte Konzert Beethovens ein Instrument gewählt haben, in dem Beethoven ein Una Corda-Pedal benutzt, haben wir das aus Gründen des Klangs und der Aura gemacht, nicht wegen irgendwelcher abstrakten Begriffe. Una Corda kam aus Frankreich, Érard hat es eingeführt. Da werden von den drei Saiten eines Tons nur zwei oder einer angeschlagen. Benutzt man das Pedal, geht die Klaviatur nach rechts, die Hämmer auch. Dadurch erfassen sie nicht mehr alle Saiten. Der Klang eines Tons, auf einer Saite angeschlagen, wird sanfter, es klingt ätherisch. Haydn hat 1801 so einen Érard bekommen. Beethoven war ein bisschen neidisch, er wollte auch so ein Instrument mit dem neuen Pedal. Dann hat er es, ich weiß nicht wie, bekommen.

Man sagt, die Firma Érard habe es ihm als Werbegeschenk nach Wien geschickt.

Er hat es 1803 bekommen. Mehr ist nicht sicher. In den Büchern von Érard ist die Übersendung an Beethoven vermerkt, da steht auch, dass es bezahlt wurde. Wir wissen nur nicht, von wem. Von Beethoven definitiv nicht.

Der Hammerflügel ist gerade dabei, sich als Nachzügler der historischen Aufführungspraxis langsam ins Bild zu setzen. Müssen Sie mit Ihren Clavichords und Tangentenflügeln unbedingt den zweiten und dritten Schritt vor dem ersten machen?

Das Hammerklavier gilt als ›das‹ Klavier der historischen Aufführungspraxis. Aber es gab natürlich tausend verschiedene Arten von Hammerklavieren, die ganz durcheinander benutzt wurden. Ich denke, es ist wichtig, dem Publikum die Vielfalt dieser Instrumente zu zeigen, die ja aus einer Zeit stammen, die noch nicht globalisiert war. Da gab es in Augsburg Johann Andreas Stein. Ein bisschen weiter in Regensburg gab es den Meister Späth. Überall baute man etwas anderes, denn jede Stadt hatte ihre eigenen Maßeinheiten. Und heute? Alles standardisiert. Überall auf der Welt steht derselbe Typ Instrument auf der Bühne. Das ist ein bisschen schade. Die verschiedenen Instrumente haben zum Teil sehr verschiedene Klänge, das bereichert unser Leben und die Musik.

Es erleichtert auch neue Hörweisen und inspiriert das Publikum, sich in historischer Imagination zu üben. Mozarts frühe Klaviersonaten etwa sind Gesellschaftsmusik. Auf einem Steinway klingen sie nur langweilig. Auf Ihrem Tangentenflügel bekommen sie eine bei allem Formbewusstsein zwischen Rokoko und Klassik liegende Klangverliebtheit, die mir bislang verborgen war.

Bei einem Instrument des 18. Jahrhunderts hört man die Verschiedenheit der Register, man hört den Sopran, den Tenor, den Alt, den transparenten Bass. Auf einem Steinway ist alles gleich. Denn er ist kreuzsaitig bespannt, die alten Claviere parallelsaitig. Darum hört man die Register so deutlich. Kreuzsaitige Instrumente machen viel Lärm. Aber man hört nicht so genau, was für einen Lärm sie machen. Es ist alles ein bisschen wie Fischsuppe.

Die verschiedenen Registerfarben erleichtern es dem Ohr, die Stimmen zu differenzieren.

Man braucht nichts zu machen, um polyphon zu spielen, es geht wie von selbst. Auf einem Steinway fragt man sich, sollte ich diesen Ton lieber ein bisschen herausheben oder den anderen? Auf dem alten Instrument hast du das Problem nicht. Man bekommt es auch auf dem modernen Flügel hin, es gibt einige Pianisten, die das sehr gut machen. Aber es ist Schwerstarbeit. Wenn es sich natürlich ergibt, ist es einfach leichter. Das hört man.

Stülpen Sie Beethoven und seiner Zeit mit Ihrer Pedanterie in Sachen Wahl der Instrumente nicht etwas über?

Beethoven selbst war brennend interessiert am Klavierbau. Er hat gespürt, das ist was Neues, da liegen Möglichkeiten für ihn, sich zu entfalten.

Im Klavierbau, einem Kind der industriellen Revolution, liegt auch ein Schnittpunkt des Phänomens Beethoven als Kind seiner Zeit, er war Zeitgenosse der Französischen Revolution.

Ich denke, von den drei Losungen der Revolution war Beethoven besonders die Égalité wichtig. Ich bin ein Musiker, sagte er sich, er ist von Adel und hat viel Geld. Warum soll er anders sein als ich? Wir sind gleich. Das hat er in die Musik übertragen. Warum soll eine Klarinette oder eine Flöte unwichtiger sein als eine Geige? In seinem Orchester haben alle Instrumente die gleiche Wichtigkeit.

Dass die wichtigen technischen Neuerungen im Klavierbau Anfang des 19. Jahrhunderts aus Frankreich, später aus England kamen und nicht mehr aus Wien, war kein Zufall.

Es hat mit den Revolutionen in diesen Ländern zu tun. Das kleine Bonn, in dem der junge Beethoven das erste Mal von alldem erfuhr, lag viel näher an Paris als an Wien. Zu den vielen Brüchen dieser Zeit gehört auch der der Klangästhetik. Fast alle Cembali sind nach 1789 verbrannt worden, sie waren ein Symbol des Ancien Régime. Man wollte eine andere, mehr intime, dem Belcanto nähere Ästhetik und fing an, die Klavierhämmer – ursprünglich alle unbeledert – zu beledern. Etwas Neues begann. Es gehörte bereits zum Bürgertum. Die Instrumente klangen intimer, auch sanfter. Sie waren für alle gedacht, nicht mehr nur für die Elite. Dagegen sind die Stein-Instrumente des 18. Jahrhunderts noch für Leute mit sehr viel Geld gemacht, die auch sehr gut spielen konnten.

Sie haben sich im Konzertsaal bis zum Schumann-Konzert durchgearbeitet. Aufgenommen haben Sie es noch nicht.

Auch damals haben wir die Streicher einfach besetzt. Aber ich glaube, wenn wir das irgendwann mal aufnehmen, werden wir das mit….na ja…..vielleicht mit jeweils vier ersten und zweiten Geigen und vier Violen spielen, dazu drei Celli und ein Kontrabass.

Die beiden Sinfonien hier in Bad Godesberg spielen Sie in den Streichern auch einfach besetzt?

Es klingt wunderschön.

Und zwar so. Der Anfang der 1. Satzes der 1. Sinfonie von Ludwig van Beethoven beim Beethovenfest 2018, kleine Beethovenhalle Bonn, aufgenommen vom WDR. Das komplette Konzert wird am 9. Oktober bei WDR3 Konzert gesendet und kann danach einen Monat lang online gehört werden.

Wie sieht es mit Mozart-Sinfonien aus? Würden Sie die auch einfach besetzen?

Vielleicht nicht alle. Nichts gilt immer für alles andere. Aber die frühen Sinfonien schon. Die Sturm-und-Drang-Sinfonien sicher, ich habe das hier in Bonn ja auch mit Carl Philipp Emanuel gemacht. Fabelhaft. Es ist sehr gut in der Balance. Man hört alles, sogar die Flöte, trotz der Geigen. Es ist wirklich ein Vierfuß oder ein Achtfuß, der da zusammengeht. Fast Orgelmusik.

Sie gehen Risiko in allem, was Sie tun.

Aber kein großes Risiko. Wir riskieren nicht unser Leben. Ein befreundeter Klavierstimmer war mal Paragleiter, es war lebensgefährlich. So was würde ich nie tun (lacht).

Sie haben Ihre Paragleiter-Erlebnisse im Konzert.

Aber nicht wegen der Gefahr. Wegen des Genusses. Ich genieße den Klang, es ist das erste, was man hört im Konzert. Erst danach hört man den Rhythmus.

Der Rhythmus ist bei Beethoven oft das Thema.

Der Rhythmus ist unglaublich wichtig, er arbeitet die Proportionen heraus. Es ist essenziell bei Beethoven, dass der Rhythmus wirklich genau gemacht wird. Zum Beispiel der erste Akkord in der 1. Sinfonie (singt ihn). Was viele Leute vielleicht nicht ganz verstanden haben: Der Akkord ist forte piano. Viele machen das wie ein Sforzando. Forte piano heißt aber, wir gehen vom forte zum piano, der Akkord ist eigentlich ein diminuendo, und am Ende ist es piano (singt es noch einmal).

Was Sie den Veranstaltern anbieten, ist allerdings kostspieliger als das konventionelle Angebot. Stimmer und Klaviertransport kosten extra. Dagegen steht ein Steinway bereits überall auf der Bühne, der Stimmer braucht einen Bruchteil der Zeit….

Einen Steinway zu spielen, ist auch viel leichter. Der funktioniert immer. Man muss keine Angst haben, dass ein Triller mal nicht gut geht, weil die Mechanik zu feucht geworden ist und nicht mehr funktioniert.

Ist Ihnen das passiert?

Schon oft. Oder einige Töne sind nicht gut gestimmt. Dann muss man die betreffenden Noten natürlich nicht laut, sondern sanfter spielen. Man muss sich ständig dem anpassen, was das Instrument anbietet. Auf einem modernen Flügel kann man machen, was man will. Aber ein Hammerklavier macht einen Musiker demütig und bescheiden. Wer mal ein Jahr Hammerklavier gespielt hat, weiß, dass es keine Stars gibt in der Musikwelt, denn der Star ist die Musik, nicht die Musiker. Wer auf einem Steinway arbeitet, fühlt sich für gewöhnlich sehr stark. Auf einem Hammerklavier meint man erst zu merken, wie schwierig es ist, gut Klavier zu spielen.

»Auf einem Hammerklavier meint man erst zu merken, wie schwierig es ist, gut Klavier zu spielen.« Arthur Schoonderwoerd in @vanmusik

Sie programmieren ungewöhnlich. Sie spielen aufwändige Instrumente. Sie besetzen die Streicher solistisch, das fordert nicht nur das Publikum heraus und beschert Ihnen nicht überall die sprichwörtlich umjubelten Konzerte, es führt auch dazu, dass Sie von anderen Klangkörpern wohl kaum eingeladen werden. Lässt sich so arbeiten?

Ich denke, es ist nicht die ideale Methode, viel Geld zu verdienen. Aber viel Geld ist nicht das wichtigste im Leben.

Was ist das Wichtigste?

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. ¶