Die neue Kammeroper der belgischen Komponistin Annelies Van Parys basiert auf Claude Debussys Fragment gebliebenen Entwürfen zu einer Vertonung von Edgar Allan Poes Kurzgeschichte »The Fall of the House Usher«. Es geht um die Leidensgeschichte des Roderick Usher, dem letzten Erben eines alten englischen Adelsgeschlechts, der nervenkrank und hypersensibel im Verlauf der Handlung zusehends in die Verzweiflung getrieben wird. Auch sein Jugendfreund, der eigens anreist um ihn aufzumuntern, kann ihm nicht mehr helfen. Von Todesängsten durchdrungen verliert er den Bezug zur Realität und wird im Wahn zum Mörder der eigenen Schwester. Der perfekte Stoff für eine Horroroper.Unsere Autorin Susanne Øglænd hat sich die Uraufführung am 12. Oktober 2018 im Alten Orchesterprobensaal der Staatsoper Unter der Linden in Berlin angeschaut, die Komponistin getroffen und sich Gedanken über Glück und Unglück einer Uraufführung gemacht.
Von Debussys Opernfragment La chute de la maison Usher, an dem der Komponist in den Jahren 1908–1917 immer wieder arbeitete, bis er schließlich 1918 seine Krebserkrankung erlag, sind nur die ersten 20 Minuten der Musik und eine große Anzahl von unrealisierten musikalischen Skizzen und Textentwürfen erhalten. Mehrere Komponisten haben bereits den Versuch, Debussys Opernskizzen in eine aufführbare Form zu bringen, unternommen. Annelies Van Parys hat jetzt als erste die Oper als abendfüllendes Werk vervollständigt. »Mich interessiert weder die Auferstehung noch die Rekonstruktion von Debussys Oper, sondern vielmehr die Verschmelzung zwischen Debussys Musik und meiner eigenen. USHER ist eine freie und zeitgemäße Weiterentwicklung des Stoffes«, erklärt Annelies Van Parys, als ich sie am Vormittag nach der Uraufführung treffe. Die burschikos anmutende und gleichzeitig zerbrechlich wirkende Komponistin, mit Kurzhaarschnitt und rot eingefasster Brille, scheint erleichtert und gleichzeitig auch unendlich müde zu sein. Die Anstrengungen der Endproben sitzen der 43-Jährigen in den Knochen.

Sie nennt ihre Methode »mingling with Debussy«, also eine Vermischung, eine Kontaktaufnahme, und tatsächlich schleicht sie sich mit ihrer eigenen Tonsprache raffiniert in Debussys Klänge hinein. Fast schon zu perfekt, fährt es mir durch den Kopf, und zu organisch, denn Van Parys’ Musik atmet so eng mit Debussy, dass der Gesamteindruck entsteht, dass USHER ein Werk fast ohne Brüche ist. Es ist eine sehr clevere Umgestaltung, die sie mit großer Ergebenheit gegenüber Debussy, den sie seit ihrem 15. Lebensjahr verehrt, mit USHER geschaffen hat. Ihr ist es gelungen, das von Debussy hinterlassene Material mit einem fast anatomischen Spürsinn zu zerstückeln und es dann, wie Teile eines Puzzles, neu zusammenzufügen und mit ihrer eigenen musikalische Sprache zu ergänzen.
Der kompositorische Austausch mit Debussy ist schon länger Teil ihrer Arbeit. Bereits 2011 hat sie eine international beachtete Kammerorchesterbearbeitung von Pelléas et Mélisande erstellt. Doch sie interessiert sich nicht nur für Debussy. Ihre Arbeit prägt ein generell offener Blick für die Stilistik anderer Komponisten. So stellt sie sich komponierend und fasziniert der musikalischen Tradition: »Nichts ist in meinem Leben schwieriger gewesen, als der Auftrag, eine Musik zu komponieren, die vor und nach der Johannespassion von Bach stehen sollte.«

USHER dagegen steht für sich selbst. Die Kammeroper hat eine Länge von 90 Minuten und ist mit vier Gesangsstimmen und 14 Soloinstrumenten besetzt. Die Uraufführung leitet die schwedische Dirigentin Marit Strindlund, die bereits mehrere Werke der Komponistin zur Aufführung gebracht hat. Die Instrumentierung, die neben Streicherquintett, Harfe, Flöte und Akkordeon vor allem auch fünf Blechbläser (Saxophon, Horn, Trompete, Posaune und Tuba), Schlagzeug und an einigen Stellen Elektronik und Toneinspielungen vorsieht, ermöglicht sowohl Debussy-typische helle und flirrende Klänge, als auch den Kontrast mit ganz anderen dissonanten Klangbildern. Durch Umfärbungen der Klänge und ständige rhythmische Verschiebungen schafft Van Parys es, die fortschreitende Orientierungslosigkeit der Hauptfigur Roderick Usher in eine musikalische Form zu bringen, bis schließlich in der Mitte der Oper der Wahnsinn ausbricht – als psychologische Naturkatastrophe parallel zum draußen tobenden Sturm –, und Roderick Usher seine Zwillingsschwester Lady Madeline lebendig begräbt. Danach folgt ein Showdown: die Heimsuchung der toten Schwester, bis schließlich niemand mehr lebt und das Haus Usher in einem Erdspalt untergeht.
»In USHER sind die Männer die Hysteriker, nicht die Frauen«, so die Komponistin über die Protagonisten und lacht. Und genau hier – in der Anlage der Figuren – liegt auch der große Unterschied zwischen Poes Erzählung und dem neuen Libretto von Gaea Schoeters, die eine langjährige Zusammenarbeit mit Van Parys verbindet und die den Usher-Text auf der Grundlage von Debussys Librettoentwürfen weiterentwickelt hat.
Bei Edgar Allan Poe ist es der außerhalb der Usher-Familie stehende Jugendfreund, der als Ich-Erzähler im Rückblick über seine grausigen Ereignisse im Hause Usher berichtet, doch Debussy wollte weg vom subjektiven Referat des Ich-Erzähers und hin zu einem Libretto in Dialogen. Er hat eine eigene Dramatisierung mit mehreren Charakteren angestrebt: Roderick Usher (David Oštrek, Bariton), sein Freund l’Ami (Martin Gerke, Bariton), der Médicin, Leibarzt der Ushers und bei Poe nur am Rande als »wenig vertrauenserweckend« erwähnt (Dominic Kraemer, auch Bariton) und die Lady Madeline (Ruth Rosenfeld, Sopran).

»Das zentrale Thema der Oper ist die zerstörerische Kraft der Angst. Genau das macht diese Geschichte so gefährlich und so aktuell«, erklärt Van Parys. So versteht sie das Haus Usher durchaus auch politisch als ein Gleichnis auf die heutigen Verhältnisse in Europa. Der Adelssitz der Ushers ist für sie wie ein überalterter Kontinent, auf den sich die Aristokraten mit ihrem Kulturgut zurückziehen, Scheuklappen aufsetzen und schließlich an sich selbst erkranken und zu Grunde gehen. Es geht ihr um den Missbrauch und um die Manipulation von Ängsten, dem wichtigsten Instrument der Populisten. Erst Ängste legen zu viel Macht in die falschen Hände. In USHER gehören diese Hände dem diabolischen Médicin, der den Ushers Sicherheit und Schutz suggeriert. Die Texte des Arztes, der die Symptome, aber nicht die Krankheiten behandelt und somit die Ushers von sich abhängig macht, sind von einer polemischen schwarz-weiß-Rhetorik geprägt. Das Libretto zitiert sowohl Donald Trump, als auch Mitglieder der Alt-Right-Bewegung wörtlich.
Behauptungen des Médicins, wie: »Die Ushers sind eben schwach«, haben eine Wirkung wie Nervengift auf den labilen Roderick, und die geschürte Angst schlägt in Gewalt und Perversion um.
Im Gegenzug zur Schroffheit des Médicins sind Sprache und Musik Roderick Ushers sehr poetisch – seine Texte sind in Versen verfasst, die er stets suchend, mal flüsternd, mal panisch schreiend von sich gibt:
»Vögel der Angst. Vögel des Todes. Ohne nächtliche Pause picken sie Die letzten Reste meines Körpers. Vögel der Angst. Vögel des Todes.«

Gegen die beiden extremen Pole des kranken Rodericks und des besessenen Médicins wirkt die Rolle des l’Amis (des Freundes) wie ein comic relief. Der namenlose Jugendfreund, der sich auf Rodericks Wunsch im Haus Usher aufhält und vergeblich versucht seinen nervenkranken Freund zu besänftigen, ist als komischer Charakter angelegt und funktioniert textlich und musikalisch fast ausschließlich durch Zitate. »Alfred Hitchcock ist für mich das größte Vorbild. Was ich von seinen Filmen gelernt habe, ist, dass man den Humor braucht, um mit einer extremen Spannung zurechtzukommen. Er ist ein Meister im Herstellen einer Balance zwischen Humor und Spannung, denn kontinuierliche Spannung von Anfang bis Ende wäre unerträglich.«
Oper generell ist eine Kunstform, die größer sein muss als das Leben, »bigger than life and more extreme«, sagt Van Parys und so ist auch der Einsatz von musikalischen Grusel-Klischees Teil ihres Vokabulars. Im Verlauf der Oper wird sie immer freier im Stil. Sie verlässt gesanglich mehrmals das debussysche Parlando und bringt ganz unvermittelt aus der Zeit gefallene spielerische Ideen wie eine Da-Capo-Arie oder eine Kabarettnummer ein: »Es macht mir besonders großen Spaß, Musik für böse Charaktere zu schreiben.«

Das zeugt von einer Komponistin, die Freude am Theater hat. Allerdings, und das ist das große Problem, sieht man gerade hiervon bei der Inszenierung von USHER wenig. Philippe Quesne, dem Regisseur der Uraufführung, der mit USHER seine erste Oper inszeniert, ist nicht viel eingefallen. Sein konzeptueller Grundgedanke ist eine konkrete Assoziation: das Haus Usher als spukende Vorstadtvilla zu denken, wie man sie aus amerikanischen Horrorfilmen z.B. der Amytiville-Reihe aus den 80-Jahren kennt. Das Bühnenbild, das der von der bildenden Kunst kommende Regisseur Quesne selbst entworfen hat, stellt ein Interieur dar: Es ist ein cleanes bürgerliches Wohnzimmer mit grauer Ledercouch und Sessel, heller Auslegeware und einem Arbeitstisch. Es gibt eine Treppe, die nach oben zu den Schlafzimmern führt (Lady Madelines Bereich) und eine weitere Treppe, die für den Zuschauer nicht einsehbar ist und die wohl in den Keller, ins Familiengrab oder die Gruft führt.
Ästhetisch greift das Bühnenbild die neoklassizistische Architektur der frisch renovierten Spielstätte, dem Alten Orchesterprobensaal, mit seinem weißlackierten Stuck, seinen holzverkleideten Heizkörpern und den mintgrünen Wänden auf. In diesem Raum lässt sich durchaus eine unheimliche Atmosphäre erzeugen, vor allem durch den subtilen Einsatz von Licht, Nebel und verdorrten Zweigen, die, wenn es stürmt, gegen die großen holzgerahmten Fenster schlagen. Und doch dominiert der Eindruck des frisch Renovierten und das hilft der Oper leider wenig. Die Wände sind kahl, der Teppich blitzblank sauber und Requisiten kaum vorhanden. Es sieht so aus, als hätte hier noch nie jemand gelebt oder als seien die, die hier scheinbar leben, gar nicht lebendig.
Interaktionen zwischen den Figuren sind selten, Quesne führt sie konsequent, fast zombiehaft aneinander vorbei. Er meint das sicherlich pathologisch, die Ausführung ist allerdings wenig überzeugend. Es fehlen szenische Aktionen, der Geschichte ist nur schwer zu folgen. So verstehe ich tatsächlich wenig von den Handlungen der Sänger, außer, dass das Geschwisterpaar wie in Trance an einem Papphaus bastelt, welches Lady Madeline am Ende zerstören wird. Ein einziges Mal darf Roderick Usher seinem Freund (Martin Gerke) um den Hals fallen, ansonsten muss er am Boden kauern, sich an der Wand winden oder teilnahmslos in eine Wolldecke geschlungen im Sessel sitzen. Musikalisch haben es die Sänger auch nicht leicht, denn die flauschige Auslegeware im Wohnzimmer führt zu einer dumpfen und extrem schlechten Akustik, so dass viel Brillanz verlorengeht und die Sänger oft nicht gegen die Mitglieder der Staatskapelle ankommen, die ebenfalls im Wohnzimmer platziert sind.
Besonders hart aber trifft es die Rolle des Médicins, dem der Regisseur gar keinen Horizont für sein manipulatives Verhalten gibt. Daher kann man die Entwicklung der Rolle vom Arzt im Hintergrund zum Strippenzieher im Vordergrund überhaupt nicht szenisch nachvollziehen, auch, weil Quesne sich nicht für die politische Dimension von Annelies Van Parys’ Konzept zu interessieren scheint. So verweigert er schlichtweg eine Stellungnahme zum Stück, die aber von Van Parys’ Bearbeitung dringend gefordert wird. Und der Triumph des Manipulators, der am Ende als einziger das Hauses Usher überlebt, wird vom Regisseur ignoriert.
Annelies Van Parys hat mit USHER ein Werk geschrieben, dass meines Erachtens erst noch aufgeführt werden muss, es wartet gewissermaßen noch auf seine Inszenierung. So lässt mich das Ganze erstmal wenig überzeugt zurück. ¶