Während der Zeitgenössische Tanz gerne seine Unabhängigkeit von der Musik betont, ist Anne Teresa De Keersmaeker weltweit erfolgreich mit ihrem Konzept der »harmonischen Polarität«. Die belgische Choreografin, die als europäische Erbin des Minimal Dance gesehen wird, legt ihrer Arbeit stets die Partitur von Kompositionen zugrunde und entwickelt auf dieser Grundlage verschiedene mögliche Beziehungen zwischen Musik und Tanz. Die Komplexität der Ansätze scheint dabei im Widerspruch zu ihrer am postmodernen Tanz geschulten Bewegungsklarheit zu stehen und ist nicht immer leicht nachzuvollziehen. An der Berliner Volksbühne wird sie nun erstmals ihre Choreografie zu Gérard Griseys Spätwerk Vortex Temporum (2013/1996) zusammen mit der daraus entwickelten Ausstellung Work/Travail/Arbeid (WIELS, 2015) zeigen. Ich treffe Anne Teresa De Keersmaeker in der Hebelhalle in Heidelberg, wo sie im Rahmen des Heidelberger Frühlings die Choreografie Mitten wir im Leben sind (2017) zu Johann Sebastian Bachs Cellosuiten aufgeführt hat. Wir setzen uns in die Lobby – einem vom Zuschauer_innenraum abgetrennten, tagsüber unbeleuchteten Bereich, trinken bei Laptop-Bildschirmlicht schlechten Teebeuteltee aus der Künstler_innengarderobe und verständigen uns über das Geräusch der Poliermaschine hinweg. Was mich in diesem Setting am meisten beeindruckt: Der spürbare Druck, einen so vollkommen leblosen Veranstaltungsort am Abend mit Energie und Stimmung aufzuladen.

VAN: ›Es wäre zu kurz gegriffen, Anne Teresas Interesse an der Musik eine Beziehung zu nennen, es ist wie in der Liebe: Wir fordern etwas.‹ So formulierte es Jean-Luc Plouvier, der Pianist und künstlerische Leiter des Ictus Ensemble. Warum haben Sie überhaupt Tanz und nicht Musik studiert?

Eine Musikschule zu besuchen war in den 1960ern üblicher als keine Musikschule zu besuchen. Ich habe dort Flöte gelernt. Die musikalische Erziehung fand, insbesondere in Flandern, auf recht hohem Niveau statt. Musik bekam ich also mit, Tanz musste ich mir selbst erobern. Und doch gehörte er schon immer zu mir. Er ist mein natürlichstes Ausdrucksmittel – zumindest falls Ausdruck bedeutet, Inneres nach außen zu bringen. Da Tanz und Musik schon immer untrennbar miteinander verbunden sind, war es unvermeidlich, dass mich der Tanz zur Musik zurückbrachte.

Die Entscheidung war also klar?

Wenn es eine Entscheidung gab, dann zwischen Tanz und Theater. Oder bestimmten Heiltechniken, medizinischem Wissen. Musik wurde mein Partner, aber Musikerin zu werden, war keine Option.

ANNE TERESA DE KEERSMAEKER • Foto © HUGO GLENDINNING
ANNE TERESA DE KEERSMAEKER • Foto © HUGO GLENDINNING

Gab es dennoch wichtige frühe Begegnungen mit Musik?

Ich kam nicht aus einer musikalischen Familie, mein Vater war Bauer, meine Mutter Lehrerin. Außer dem Radio gab es kaum musikalische Einflüsse. Tiefer in die Musik kam ich erst durch das Tanzen und später durch die Entscheidung, Choreografin zu werden. Dabei habe ich Musik nicht nur als grundlegenden energetischen Einfluss benutzt, also im Stil von ›Das ist Musik, die mir Lust auf Tanzen macht‹, sondern auch als ein Handbuch, als Studienmaterial. Wenn wir Choreografie als eine Organisation von Bewegung in Raum und Zeit betrachten, dann ist es sehr lehrreich, durch Partiturstudium zu verstehen, wie Komponisten ihr Material organisieren. Beides ist eine Verkörperung derselben Idee, die Musik macht es abstrakter, die Choreografie konkreter.

Bevor Sie zeitgenössischen Tanz an der Tisch School of the Arts in New York studierten, waren Sie für zwei Ausbildungsjahre an der Mudra-Schule von Maurice Béjart. Wurden Sie dort bereits zum Partiturstudium ermutigt?

Es ist ein auffälliger Unterschied, dass die Auseinandersetzung mit historischen Praktiken bei zeitgenössischen Musikerinnen und Musikern viel selbstverständlicher ist als bei zeitgenössischen Tänzern. Wer sich mit Neuer Musik beschäftigt, kennt selbstverständlich auch Bach und Beethoven. Dieses Wissen gehört zur Ausbildung, Musikgeschichte zum Allgemeinwissen. Das hat sicherlich auch etwas mit der Zugänglichkeit von Partituren zu tun, die im Tanz so nicht besteht. Mein erster sehr wichtiger Lehrer war Fernand Schirren an der Mudra-Schule. Er unterrichtete Rhythmus und war gleichzeitig Philosoph. Er war die erste Person, die alles für mich zusammenbrachte: Musik und Tanz, Tanz und bildende Kunst, Kunst und Alltag. Später dann hatte ich immer das Glück, von sehr talentierten Musikerinnen und Musikern umgeben zu sein. Gerade auch von solchen, die sich mit Neuer Musik beschäftigten.

Das Ictus Ensemble hat dabei eine besondere Rolle gespielt, wobei, eigentlich war es anders herum: Sie haben für Ictus eine wesentliche Rolle gespielt. Sie und der Choreograf Wim Vandekeybus. Es gab diese flämische Minimal-Band Maximalist!, die mit Vandekeybus tourte, die sich dann für ein Projekt vergrößerte…

Das war etwas anders! Die Musik meiner Choreografie Rosas danst Rosas stammte von Thierry De Mey und Peter Vermeersch sowie zwei weiteren Musikern. Sie nannten sich damals schon Maximalist!.

WORK/TRAVAIL/ARBEID AT WIELS MAY 2015 • Foto © ANNE VAN AERSCHOT
WORK/TRAVAIL/ARBEID AT WIELS MAY 2015 • Foto © ANNE VAN AERSCHOT

Das war vor der Tour mit Vandekeybus?

Richtig. Für Vandekeybus wurde die Gruppe vergrößert. Als ich dann die Musik für Amor Constante bestellte, wurde wiederum Ictus aus Maximalist! geboren.

Es wurde tatsächlich eine beständige Liebe. Ictus ist bei Ihnen eingezogen, zusammen arbeiten Sie mit Ihrer Kompanie Rosas und der von Ihnen gegründeten Tanzausbildung P.A.R.T.S. unter einem Dach und realisieren seit Jahrzehnten unzählige Projekte. Welche Rolle aber spielen die Anfänge? Jean-Luc Plouvier beschrieb mir, dass es durchaus wichtig war, mit Maximalist! im Zuge der ›Flämischen Welle‹ der 1980er eine flämische Minimal Music zu begründen, eine, die rauer, brutaler als die kalifornische war. Plouvier nennt Einflüsse des niederländischen Komponisten Louis Andriessen, aber auch von Igor Strawinsky und Punk. Ist das ein prägender Ausgangspunkt?

Als Thierry De Mey die Musik für Rosas danst Rosas schrieb, war Louis Andriessens Hoketus sicher ein wichtiger Einfluss, ein sehr repetitives Stück, seinerseits inspiriert von spätmittelalterlichen Techniken. Genauso aber waren für mich die Musik von Terry Riley, La Monte Young, Steve Reich und Philip Glass als Einfluss vorhanden. Es war die Zeit von Einstein on the Beach, auch Drumming war bereits geschrieben. Ein weiterer Einfluss war Olivier Messiaens Quatuor pour la fin du temps oder auch das letzte Streichquartett von Beethoven – alles also Musik mit hohem Puls, viel Wiederholung: Elemente, die wiederum auch in der Popmusik der 1980er sehr präsent waren. Es war die Zeit der Sex Pistols, der Simple Minds, von Joy Division, Deutsch Amerikanische Freundschaft, Einstürzende Neubauten, von Nina Hagens Unbeschreiblich Weiblich. Sehr bedeutend war auch, dass Thierry De Mey mir einerseits die ganze Pop- und Punkszene aufschlüsselte, dass er aber andererseits aus dem Filmbereich kam. Er hat mir Rainer Werner Fassbinder nahegebracht. Es war eine besondere Zeit. Ich hatte den Eindruck, dass es keine Trennung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gab, keine gated communities von Leuten, die nur ins Konzert gehen oder nur Bildende Kunst sehen wollten … Wir haben uns alle ständig gegenseitig beeinflusst!

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Wie in den 1960ern und 70ern in New York?

Ja, das lässt sich vielleicht vergleichen. Vielleicht noch eines zur Zeit der ›Flämischen Welle‹: Minimalismus wurde immer betrachtet als etwas, das mit Distanz zu tun hat, mit einer extrem strukturierten Herangehensweise und im Sinn der US-amerikanischen Westküsten-Tradition von buddhistischen Einflüssen geprägt ist: Ego, das durch Struktur aufgelöst wird. Kein Spannungsaufbau, keine Katharsis, nichts Orgiastisches… Dagegen waren Andriessen, De Mey, Maximalist! und später Ictus sicherlich körperlich leidenschaftlicher, brutaler. Sie lebten in etwa das, was ich mit Georges Bataille unter ›dépense‹ verstehe: Der Einsatz von Energie ohne strategische Abwägungen. Nicht 100 sondern 400 Prozent und auf eigenes Risiko, potentiell selbstzerstörerisch.

Es gab zwischen den Komponisten der Minimal Music und postmodernen Choreographinnen eine gewisse ›Pärchenbildung‹: John Cage und Merce Cunningham waren sogar ein privates Paar, Philip Glass und Lucinda Childs, Trisha Brown und Laurie Anderson. Sie sind als Steve-Reich-Choreografin bekannt und haben unter anderem Choreografien zu Violin Phase, Drumming, Music for 18 Musicians, Eight Lines und Four Organs entwickelt. Was fasziniert Sie an ihm?

Nun, erstmal ganz einfach: die Einladung an den Tanz, die seine Musik aufgrund ihres Pulses und der sich entfaltenden Prozesse darstellt. Diese kleinen Zellen, die sich wie ein mechanisches System entfalten. (An dieser Stelle des Interviews spielt sich Jean-Guihen Queyras auf der Bühne ein, ATDK lauscht kurz.) Gerade am Beginn meiner Karriere war das Prozessuale daran ein perfektes Material, mit dem ich Stück für Stück meine eigene Sprache finden konnte.

Die Methode Cage/Cunningham steht dafür, Tanz und Musik unabhängig voneinander zu entwickeln. Im Zeitgenössischen Tanz wird dies auch als Emanzipation des Tanzes von der Musik gesehen. Seitdem wird es oft als eher altmodisch angesehen, sich mit dem Tanz an Partituren zu orientieren. Sie zeigen das Gegenteil. Braucht das Mut?

Ich mag die Idee, Dinge, die ich nicht sagen kann, zu singen, und Dinge, die ich nicht singen kann, zu tanzen. Was ich nicht mag, ist die Machtbeziehung, die suggeriert wird, wenn wir davon sprechen ›Tanz von Musik zu emanzipieren‹. Das würde bedeuten, dass es eine Hierarchie gibt, dass die eine Kunst der Meister der anderen ist. Ich glaube eher an eine harmonische Polarität, in der eines das andere initiiert, aber beides enthalten ist. Die Frage der Unterscheidung wurde für Tausende von Jahren nicht gestellt… Meine Haltung ist: Ich stelle mir Fragen über die vielen möglichen Beziehungen zwischen Tanz und Musik. Und Cage/Cunningham, also Autonomie, ist eine davon. Aber es gibt noch so viele andere. All die vielen Werke der Musik, zu denen ich getanzt habe – von Ars Subtilior zu Brian Eno – fordern unterschiedliche Strategien.

Für Griseys Vortex Temporum haben Sie die Tänzer und Tänzerinnen konkret für die einzelnen Instrumente besetzt.

Ja, es gibt eine enge Beziehung, aus der heraus jeder und jede ein eigenes Vokabular entwickelt. Diese basiert sowohl auf der Partitur als auch auf dem körperlichen Gestus, den das Instrument den Musikern abverlangt.

VORTEX TEMPORUM PRESS PICTURES OCTOBER 2013 • Foto © Anne van Aerschot
VORTEX TEMPORUM PRESS PICTURES OCTOBER 2013 • Foto © Anne van Aerschot

Lässt sich das als postmodernes tänzerisches Prinzip sehen: eine funktionale Geste bewusst zu reproduzieren?

Es war einfach ein Akt der Konkretheit. Griseys Unterscheidung in Lärm, Geräusch oder Ton umfasst ja, mit der Widmung an, unter anderem, Helmut Lachenmann, auch eine Frage nach der musique concrète, nach der Körperlichkeit des Bogens auf der Seite… Aber das ist natürlich nur ein Prinzip. Es gibt auch all die anderen: den Wirbel natürlich, die Spirale, sich öffnende und schließende Spiralen, die Wiederholung, das fast schon Ritualistische, dabei aber die extrem klare Struktur.

Können wir von zwei unterschiedlichen Wegen sprechen, die Sie sich durch die Musikgeschichte bahnen? Einerseits prozesshafte Musik, eine Linie von der Serialität der Ars subtilior zu Reich, Grisey und Ligeti, anderseits arbeiten Sie die Geschichte harmonischer Systeme nach, das harmonische System bei Bach, das reduzierte Zwölftonsystem bei Schönberg, das auf die Zelle reduzierte System bei Webern, schließlich die Analyse des einzelnen Tons bei Grisey.

Ich muss mit Scham gestehen, dass mein Interesse an harmonischen Strukturen erst in den letzten Jahren entstand und nun erst mit Così fan tutte und den Cellosuiten von Bach zum Ausdruck kommt. Dieser Aspekt, die Klarheit und die Komplexität, faszinieren mich nun als formales Ausdrucksmittel sehr.

In ihrer Bach-Choreografie Mitten wir im Leben sind war für mich die Herausarbeitung der Charakteristika der einzelnen Tanzsätze stärker wahrnehmbar. Eine klare Entscheidung hinsichtlich der Harmonie habe ich vor allem in der fünften Suite gesehen. Sie steht in c-Moll, der dunkelsten Tonart innerhalb der Suiten, was ein Herunterfahren des Lichts und eine extreme tänzerische Zurückgezogenheit zur Folge hat.

Ja, die fünfte Suite, vor allem die Sarabande, ist ja fast schon Webern-artig, Puls und Harmonie werden nur noch vorgetäuscht. Wir werden an einen Punkt existentieller Leere geführt. Hinzu kommt in allen Suiten eine Arbeit an Tongeschlechtern, die durch eine Flexion der Wirbelsäule zum Ausdruck gebracht werden, mit Mollakkorden gehen wir nach hinten und nach unten, mit Dur verkörpern wir aufsteigende Energien. Jedoch ist der Quintenzirkel als solcher nicht als System abgebildet, allerhöchstens angedeutet durch das Bezugssystem zwischen Horizontaler und Vertikaler.

Sie sind bekannt dafür, dass Sie immer den Goldenen Schnitt in den Dingen suchen. Haben Sie ihn in diesem Spätwerk Griseys gefunden?

Positive und negative Goldene Schnitte sind immer ein Kriterium, wenn ich mich der Musik nähere. Vortex Temporum beruht strukturell auf der Fibonacci-Reihe, in der die Logik des Goldenen Schnitts bereits enthalten ist.

Was kommt nach Grisey als nächstes? Jean-Luc Plouvier scherzte im Gespräch mit mir, dass Sie nach der Symphonie des 21. Jahrhunderts suchen.

Mon dieu! Wie Sie wissen, habe ich mit der Arbeit an Bachs Brandenburgischen Konzerten begonnen, eine riesige Herausforderung.

Bach schrieb die Brandenburgischen Konzerte in einer Situation, die wir uns, trotz des Todes seiner ersten Frau, als die glücklichsten Jahre seines Lebens vorstellen können. Er war zu jener Zeit in Köthen, Fürst Leopold unterstützte ihn, er hatte ein tolles Orchester mit sehr talentierten Musikern. Wir verbinden Bach meist mit religiöser Musik, aber die Brandenburgischen Konzerte sind weltliche Musik und gleichzeitig eine Feier kosmischer Ordnungen!

Was bringen Sie aus dem 21. Jahrhundert mit rein?

Die Körper! ¶

... freie Journalistin und Publizistin, schreibt (über) Tanz, Performance, Poesie und Sozialpolitisches für Tageszeitungen, Magazine, Künstlerbücher und Live-Formate. Sie entwickelt dialogische und öffentliche Formate im Bereich Kreatives Schreiben, Kunst- und Gesellschaftskritik.