Als ich kürzlich meine CD-Sammlung in ein neues Regal räumte, musste ich mit einem Gefühl von Sinnlosigkeit kämpfen. Wieso sollte ich mich mit Platz fressenden, den Planeten schädigenden Plastikobjekten abgeben, wenn so viel Musik nur ein paar Tastenanschläge entfernt ist — bei Spotify, Pandora, Beats Music und anderen Streaming-Diensten, die akustische Daten aus diesem virtuellen Gebilde namens »Cloud« herabregnen lassen?
Welchen Sinn hat es, sämtliche Sinfonien, sagen wir, des estnischen Komponisten Eduard Tubin (1905–82) in der Sammlung zu haben, wenn alle elf bei Spotify auftauchen, wenn auch in zufälliger Reihenfolge? (Als ich nach »Tubin« suchte, bekam ich zwei Sätze seiner 4. Sinfonie angeboten, die restlichen standen in der Liste weit unten.) Das Blatt hat sich gegen die Sammler von Aufnahmen gewendet, ganz zu schweigen von den Sammlern von Büchern: Was man früher als Aufbau einer Bibliothek ansah, gilt inzwischen als übertriebenes Horten. Es wird erwartet, dass man jede Form von Gerümpel abstößt und die Kultur in einem gleißend hellen, leeren Raum genießt.
Und doch fühle ich eine enge Verbundenheit mit dieser Wand aus Plastik. Ich mag es, die Rücken der Hüllen entlangzugehen – Schnabel, Schnebel, Schnittke – und wie zufällig CDs herauszuziehen. Selbst im Zeitalter von Wikipedia können Begleithefte und Opernlibretti noch informativ sein. (Nicht alles ist online: Ich habe vergeblich versucht, das Libretto von Franz Schrekers Christophorus zu finden, das mit den Worten beginnt: »Ihre Augen – heißer Sommer. / Ihr Denken – kühl.«) Die Nostalgie überkommt mich, wenn ich Aufnahmen sehe, die ich vor fast dreißig Jahren gekauft habe, mit dem Geld, das ich durch recht unbeholfen ausgeführte Gärtnertätigkeiten verdient hatte: Das Cover von Karajans Mahler Sinfonie No. 9 ist mit den Kratzern vieler Umzüge aus meiner Unizeit überzogen. Meine Arbeit als Kritiker dreht sich um einen Stoß von CDs, den ich den »Nochmal-Anhören-Stapel« nenne: neuere Veröffentlichungen, die aus der Masse herausstechen und mit denen ich mich näher beschäftigen muss. Auf dem Computer funktioniert all das nicht. Ich verspüre keine Nostalgie für die erste Musik, die ich heruntergeladen habe. (Offenbar war es Justin Timberlake.)

»Meine Arbeit als Kritiker dreht sich um einen Stoß von CDs, den ich den ›Nochmal-Anhören-Stapel‹ nenne«
Auch abgesehen von den persönlichen Befindlichkeiten alternder Kritiker stellen sich berechtigte Fragen zur Ästhetik und Ethik des Streamings. Spotify ist für die chaotische Präsentation von Informationen zu einzelnen Liedern berüchtigt. Eine Aufnahme von Beethovens Neunter wird unter dem Namen des Soprans gelistet, Ľuba Orgonášová; ich musste noch einmal klicken und mir die daumengroße Reproduktion des Plattencovers ansehen, um den Namen des Dirigenten zu finden, John Eliot Gardiner. Ein tiefer gehendes Problem ist das der wirtschaftlichen Fairness. Spotify und Pandora sehen sich mit dem Protest von Künstlern konfrontiert, die ihre Lizenzerlöse als unverschämt niedrig empfinden. 2012 berichtete der Indie-Rock-Musiker Damon Krukowski, seine ehemalige Band Galaxie 500 habe als Urheber für jedes Mal, das ihr erfolgreichstes Lied bei Spotify abgespielt wurde, Tantiemen in Höhe von einem Zweinhundertstel-Cent erhalten und für ihre Leistung als Interpreten noch ein kleines bisschen dazu. Spotify hat den Kritikern versichert, dass die Erlöse der Künstler steigen werden, je mehr Menschen ein Spotify-Abo abschließen. Mit anderen Worten, wenn Ihr uns die Vorherrschaft gebt, werden wir ein bisschen großzügiger sein – ein irgendwie sarkastischer Vorschlag.
Solche Einwände erübrigen sich, wenn Institutionen und Ensembles selbst Audio- und Video-Streaming ihrer Aufführungen anbieten. Hier besteht das Ziel ganz einfach darin, ein breiteres Publikum zu erreichen und vielleicht ein wenig Geld von den Abonnenten einzunehmen. Unter anderem bieten das Glyndebourne Festival, die Bayerische Staatsoper, die Detroit Symphony sowie die Wiener und die Berliner Philharmoniker Streaming in hoher Qualität an; mein Favorit ist Detroit, denn hier spürt man die Bereitschaft eines Orchesters, das knapp dem finanziellen Kollaps entgangen ist, einfach alles auszuprobieren. Ein guter Lotse durch diese zunehmend dichter besetzte Landschaft ist Charles T. Downey, der Betreiber des Kunst-Blogs »Ionarts«, das jeden Sonntag Dutzende von Audio- und Video-Links auflistet: Das Angebot einer der letzten Ausgaben reichte von Rameaus Les Boréades in Aix-en-Provence bis zu Steve Reichs The Desert Music bei den BBC Proms.

»Auch abgesehen von den persönlichen Befindlichkeiten alternder Kritiker stellen sich berechtigte Fragen zur Ästhetik und Ethik des Streamings«
Wäre ich heute ein musikbegeisterter Teenager, würde ich dieses endlose Festmahl vermutlich voll auskosten und alle Einwände dagegen als Schwarzmalerei abtun. Ich müsste keinen Kassettenrekorder mehr neben das Transistorradio stellen, um Bruckners 6. Sinfonie aufzunehmen. Die tausendjährige Geschichte der klassischen Musik stünde mir frei zur Verfügung. Doch das Überangebot an diesem virtuellen Produkt und der damit einhergehende Preisverfall hat auch einen Nachteil. Wie der Komponist und Arrangeur Van Dyke Parks kürzlich in einem Aufsatz für The Daily Beast geschrieben hat, begünstigt das Streaming-Modell Superstars und Konglomerate auf Kosten weniger bekannter Musiker und Indie-Ensembles. Der Fassade unendlicher Vielfalt zum Trotz fügt es sich hervorragend in ein Wirtschaftssystem ein, in dem nur die Reichen immer reicher werden. Und falls es jemals zusammenbrechen sollte – Streaming-Dienste erwirtschaften bisher kaum Profite – könnte das Horten wieder in Mode kommen.
Mein Nochmal-Anhören-Stapel enthält zur Zeit eine überragende neue Aufnahme – erschienen bei der Deutschen Grammophon – von Strauss’ Elektra, flüssig dirigiert von Christian Thielemann und mit einer überzeugenden Evelyn Herlitzius in der Titelrolle; eine Neuauflage von Arien und Kantaten der im siebzehnten Jahrhunderts tätigen Sängerin und Komponistin Barbara Strozzi, aufgenommen 2001 von dem Mailänder Ensemble La Risonanza für das Label Glossa; eine Doppel-CD von leisen, meditativen Kammerwerken des zeitgenössischen britischen Komponisten Laurence Crane, erschienen bei Another Timbre; eine Naxos-Übersicht von komplex-expressiven Harfen-Stücken des elisabethanischen Höflings Ferdinando Richardson, eingespielt von Glen Wilson; und schließlich All the things you are, ein Konzert des Pianisten Leon Fleisher, erschienen bei Bridge. In jedem Fall erweitert das physische Objekt die Musikerfahrung, ob es nun Wilsons gelehrte Beobachtungen über Richardson sind (»Er harrte zu Füßen der berühmten Königin Elizabeth aus«, lautet eine Zeile der Grabinschrift des Komponisten) oder ein Brief des Komponisten George Perle, der in Fleishers Veröffentlichung enthalten ist (»Meine Klaviermusik ist schrullig, und man muss sich daran gewöhnen«).

»In jedem Fall erweitert das physische Objekt die Musikerfahrung«
Die Fleisher-CD ist die, die ich am meisten gehört habe, fast schon bis zur Besessenheit. Auch im Alter von 86 Jahren ist dieser Pianist noch immer ein Musiker von gebieterischer Kraft; die CD, die Musik von Bach, Perle, Federico Mompou, Leon Kirchner, Dina Koston, George Gershwin und Jerome Kern enthält, gehört zu seinen allerbesten aufgezeichneten Stunden. Ab Mitte der 1960er-Jahre litt er unter fokaler Dystonie, wodurch er mehrere Jahrzehnte lang seine rechte Hand nicht benutzen konnte. Mit Hilfe experimenteller Behandlungsmethoden konnte er schließlich wieder beidhändig spielen, doch er bevorzugt noch immer das linkshändige Repertoire, von dem vieles von dem österreichischen Pianisten Paul Wittgenstein in Auftrag gegeben wurde – einem Bruder des Philosophen Ludwig Wittgenstein –, der im Ersten Weltkrieg einen Arm verloren hatte. Fleisher hat dieses Repertoire weiter ausgebaut und schöpft auf All the things you are daraus.
Das zentrale Werk ist Bachs Chaconne in D-Moll für Violine, als linkshändige Klavierübung arrangiert von Brahms. In einem Brief an Clara Schumann sprach Brahms davon, wie sehr er die Chaconne liebte – »eine ganze Welt von tiefsten Gedanken und gewaltigsten Empfindungen« – und dass es ihm gefiel, sich allein und mit nur einer Hand hindurchzukämpfen, denn »man will Musik nicht immer tatsächlich gespielt hören«. Das Wunder von Fleishers Darstellung ist, dass er zwar mit erstaunlicher Fingerfertigkeit spielt, zugleich jedoch diese Atmosphäre des Erforschens beibehält, so, als würde ihm niemand zuhören. Die herzzerreißendste Passage der Chaconne kommt kurz vor dem Ende, als nach einem aufstrebenden, das Licht suchenden Abschnitt in D-Dur alles bebend in Moll zurücksinkt. Hier macht eine klangvolle, viele Stimmlagen umfassende Figuration Platz für sparsame, begrenzte Linien, und man erinnert sich vielleicht daran, dass der Pianist nur eine Hand benutzt, und dass die Beeinträchtigung der anderen ihm viel Kummer bereitet haben muss.
Der Rest des Programms führt diese nachdenkliche Stimmung fort. Die Stücke von Perle, Kircher und Koston, allesamt beeinflusst vom Schönbergschen Modernismus, treten mit den bluesigen Akkorden Gershwins und Kerns in eine rätselhafte Beziehung. Am Ende, wenn Kerns »All the things you are« in einem Tempo gespielt wird, das an den letzten Aufruf kurz vor Feierabend denken lässt, scheinen wir uns in einer überweltlichen Hotellounge zu befinden, in einer Ecke sitzen, abgesondert Bach und Brahms, und Gershwin flitzt hin und her. Bridge Records, ein Familienbetrieb, hat die meisten seiner Veröffentlichungen bei Spotify und anderen Streaming-Diensten zur Verfügung gestellt, und hier können sich vergleichbar intensive Begegnungen ergeben. Doch nur indem man die Alben kauft, tut man etwas für den Fortbestand dieses Labels. ¶