Ein Gespräch mit dem Künstler und Komponisten Ari Benjamin Meyers
Ari Benjamin Meyers’ Lebenslauf kann man für eine gewisse Zeit entlang der biografischen Wegmarken eines »klassischen« Musikers erzählen: 1972 in New York geboren, fing er mit vier an, Klavier zu spielen, mit acht erhielt er Unterricht bei Anita Gelber, einer Schülerin von Artur Schnabel. Bereits während der High School nahm er an den Sommerkursen des Boston Symphony Orchestra am Tanglewood Institute teil, wo er Leonard Bernstein traf. Zwischen fünfzehn und achtzehn besuchte er das Juilliard Pre-College in New York, studierte danach Komposition in Yale unter Martin Bresnick und Dirigieren am Peabody College unter Frederik Prausnitz. 1993 assistierte er Wolfgang Sawallisch an der Bayerischen Staatsoper, 1996 kam er mit einem Fulbright Stipendium nach Berlin, 1999 wurde seine erste Oper Defendants Rosenberg in Magdeburg uraufgeführt.Heute wird Ari Benjamin Meyers von einer der einflussreichsten Berliner Galerien, Esther Schipper, vertreten, und man trifft seine Arbeiten nicht im Konzertsaal, sondern in der Berlinischen Galerie, im Guggenheim Museum oder auf der Documenta an. Was ist da passiert?

VAN: Wann hast Du das erste Mal gemerkt, dass die vorgezeichneten Wege für klassische Musiker für Dich nicht in Frage kommen?
Ari Benjamin Meyers: Mit 15 nahm ich an einer Summer School an der Eastman School of Music in Rochester im Bundesstaat New York teil, wo ich eine kleine Gruppe von Pre-College Studenten der Juilliard School traf. Im Klavierfach herrschte dort damals diese russische Tradition unter autoritären, fast aggressiven Lehrern, man musste jeden Tag sechs Stunden üben und dann alles exakt auf eine bestimmte Art spielen. Ich merkte, ich war nicht wie die: Üben, Repertoire, Perfektion, das war nicht meins. Ich hatte zu der klassischen Musik, die ich auf dem Klavier spielte, eher so eine theoretische Liebe. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, war das vielleicht der erste kleine Bruch – das erste Mal das ich merkte: irgendwie muss es was anderes sein.
Trotzdem bist Du dann selbst auch auf das Juilliard Pre-College gegangen.
Ja, aber mit dem Klavierstudium hatte ich damals eigentlich schon abgeschlossen. Da war das aktuellste, was man jahrelang zu spielen bekam, Rachmaninow. Im Fach Komposition ging es dagegen um das Entdecken einer neuen Welt. Ich kann mich sehr genau erinnern, wie ein Freund mir empfahl, unbedingt Einstein on the Beach zu hören. Ich bin dann in eine Plattenbibliothek und dann folgte wirklich ein Schlüsselmoment: Zum ersten Mal hörte ich eine Musik, die mir beschrieben war als ›Neue klassische Musik‹, wo sogar drauf stand: ›Sony Classical Masterworks‹, die aber irgendwie nach Rockmusik klang, laut, direkt. Und ich dachte: ›Wie ist das möglich?‹.

Du brauchtest für Dich zunächst noch das Label ›Klassische Musik‹, um es annehmen zu können?
Ja, das ist genau der interessante Punkt, der für mich länger ein Thema blieb: ›richtige Musik», ›korrekte Musik‹, das war Klassik. Die hat man studiert, Jazz, Rock und Pop war was anderes, die war für den Spaß da.
Und das, obwohl Dein Vater Jazzposaunist war?
Zu Hause haben wir schon viel Jazzmusik gehört, aber komischerweise sah mein Vater das glaube ich ein bisschen ähnlich. Er wollte auch nie, dass ich Jazzmusiker werde.
Was hat dazu geführt, diesen Spalt zwischen der Musik ›die man studiert‹ und der, ›die Spaß macht‹ zu schließen?
Es hat lange gedauert. Wenn meine Lehrer an der Juilliard zum Beispiel gewusst hätten, dass ich in einer Rockband spiele, dann wäre es komplett aus gewesen. Und umgekehrt war klassische Musik für meine Bandmitglieder einfach bourgeoise, elitäre Musik ohne jeden Coolness-Faktor. Man kann sich das gar nicht mehr vorstellen, heute muss man ja fast eine Band (gehabt) haben, um überhaupt Komposition zu studieren. Aber ich habe zu einer Zeit studiert, wo es noch darum ging, auf keinen Fall schön zu klingen. Wenn es dem Publikum gefällt, dann hast du etwas falsch gemacht. Später in Yale hat sich das dann zunehmend aufgelöst, mit Michael Gordon, David Lang, Julia Wolfe, also der ganzen Bang-on-a-Can-Szene, das waren auch Leute, die besessen von dieser Idee waren, das Rockgefühl in die Musik zu bringen. 1996 als Dirigent mit einem Fulbright Stipendium nach Berlin gekommen – und geblieben. 1999 wurde Deine erste Oper in Magdeburg aufgeführt, 2000 hast Du in der Staatsbank dann selbst dirigiert. Wie kommt es, dass Du die Dirigentenkarriere danach abgebrochen hast?

1996 bist Du als Dirigent mit einem Fulbright Stipendium nach Berlin gekommen – und geblieben. 1999 wurde Deine erste Oper Defendants Rosenberg in Magdeburg aufgeführt, 2000 hast Du in der Staatsbank dann selbst Einstein on the Beach dirigiert. Wie kommt es, dass Du die Dirigentenkarriere danach abgebrochen hast?
Es gab diese Liebe zur Oper als Ort der Erweiterung und Verbindung von Kunst, Spiel, Raum, Performance. Und wie so viele andere hatte ich meine Vorstellungen, wie man Oper retten könnte. Aber für eine klassische Dirigentenkarriere fehlte mir schlicht die Geduld: Assistenzdirigent, dann irgendwo Generalmusikdirektor, und in 30 Jahren mal soweit sein, eigene Ideen umsetzen zu können … und so habe ich angefangen, in der freien Szene experimentelle Musiktheaterprojekte zu machen. Es waren ja die frühen Nullerjahre, alles war noch möglich in Berlin.
Du hast dann Dein eigenes Ensemble gegründet, viel Musik für Theater und Film geschrieben, warst mit dem ›Club Redux‹ im Watergate einer der ersten, die Klassische/Neue Musik mit Clubkultur verbunden haben, hast dann aber einen kompletten Szenenwechsel vorgenommen: Heute bist Du in der freien Kunstszene verortet. Wie kam es dazu?
2006 bekam ich die Einladung, für eine Gruppenausstellung von zeitgenössischen Künstlern, die als musikalische Performance konzipiert war, die musikalische Leitung zu übernehmen (›Il Tempo del Postino‹, kuratiert von Hans Ulrich Obrist und Philippe Parreno für das Manchester International Festival, 2007 und Art Basel, 2009, d. Red.). Das war einer dieser seltenen Momente, wo das richtige zur richtigen Zeit passiert. Ich fühlte mich immer fremder in der Neue-Musik-Szene. Auf einmal hatte ich mit 16 komplett unterschiedlichen Künstlern zu tun, ihrem Musikverständis, ihrer Musik-Nutzung, Leuten wie Ólafur Eliasson, Douglas Gordon, Matthew Barney … und ich merkte, dass wir eine gleiche Sprache sprachen, obwohl sie möglicherweise kein Instrument spielen oder keine Noten lesen konnten. Daraus sind Beziehungen dauerhaft geblieben, mit Künstlern wie Anri Sala, Tino Sehgal und Dominique Gonzalez-Foerster. Das war der Anfang für diesen Szenenwechsel.
Eine Konzertsituation im Konzertsaal gibt so viel vor, nicht nur inhaltlich und zeitlich, auch die Ökonomie des Austausches, die Rituale des Zuschauens
Was hat dich am meisten fasziniert?
Die konzeptionelle und strukturelle Freiheit. Nehmen wir den sogenannten White Cube. Andere Künstler, die darin schon zwanzig Jahre arbeiten, sind vielleicht fertig mit ihm, aber für mich war er einfach ein großer weißer Raum, ohne Zuschauer, ohne Bühne, wo ich bauen konnte, was ich wollte. Eine Konzertsituation im Konzertsaal gibt so viel vor, nicht nur inhaltlich und zeitlich, auch die Ökonomie des Austausches, die Rituale des Zuschauens. Um ein Beispiel zu nennen: meine Komposition Solo ist ein Stück für eine Solostimme und einen Zuschauer. Diese Situation kann im Opernhaus und Konzertsaal nicht funktionieren, aber in einem Museum ist so eine Arbeit als Installation möglich.

In vielen Deiner Arbeiten geht es darum, mit Elementen des Performativen, der Überraschung, des Zufalls, des Unerwarteten zu spielen. Sind das Elemente, die in der klassischen Musikkultur einmal da waren, aber verloren gegangen sind?
Das ist für mich ein sehr essentieller Gedanke: Musik ist nicht das, was wir heute als Musik verstehen. Durch die Geschichte hindurch galt: Wenn du ein Stück hören wolltest, musstest du es selber spielen oder mit anderen Menschen in einem Raum sein. Seit hundert Jahren sind wir Musiker aber nach und nach alle zu recording artists mutiert, die Form der Aufnahme ist zu einer adäquaten Repräsentation geworden. Du kannst aber nicht eine performative Kunst nehmen, und sagen: ›Genau so ist es auch auf der Schallplatte‹. Die meisten finden es komisch, Theater auf DVD oder im Fernsehen zu schauen. Theater ist eine Live-Kunst, und wir verstehen das auch so. Nur mit der Musik ist etwas anderes passiert. Wir müssen zurück zum Performativen.
Dafür sind Qualitäten gefragt, die in der Musikerausbildung eher vernachlässigt werden. Oder glaubst Du, dass sich da gerade ein neuer Künstlertypus herausbildet?
Wie wir uns als Musiker wahrnehmen, wie wir über uns sprechen, muss präziser werden. Wenn man heute sagt: ›Ich bin klassischer Musiker‹, was heißt das? Was will ich, was interessiert mich? Ich liebe Mozart, ich liebe die Philharmonie. Aber wir machen so wenig Unterschiede. Wenn jemand sagt, ›ich will Geige spielen‹, dann muss die erste Frage lauten: ›Willst du Bach und Mozart interpretieren? Willst du zu den Berliner Philharmonikern?‹ Toll! Das ist wichtig, das muss am Leben gehalten werden wie Rembrandt in der Gemäldegalerie. Und dafür gibt es dann ein Studium. Aber es gibt vielleicht viele andere Musiker, die sagen, ›ich will Geige lernen, aber ich will eine andere Art von Künstler sein, ich will andere Sachen integrieren in meine Praxis.‹
Inwieweit unterscheidet sich die Ökonomie der Kunstszene von der der Neuen Musik?
In der Musikwelt tragen alle das gleiche Label. Egal ob Rock, Pop, Klassik, Jazz, Neue Musik – die Erwartung ist, dass man Konzerte vor möglichst vielen Leuten gibt, Karten verkauft, Sachen aufnimmt, Alben veröffentlicht, auf dass möglichst viele Leute kaufen oder downloaden. Und es macht keinen Unterschied, ob man experimentellste Neue Musik komponiert, Free Jazz spielt oder Justin Bieber ist. Und das fand ich irgendwann seltsam, das meine ich mit der Genauigkeit: Wir nennen es alles Musik, aber es ist nicht die gleiche. Es will andere Dinge. Das ist ein ganz großes Problem, und wir bezahlen jetzt den Preis dafür, von einem quantitätsgetriebenen Markt geliebt werden zu wollen. Wenn man Quantität braucht, dann ist man gezwungen zu sagen: ›Liebt mich bitte.‹ Aber das ist nicht der Job von Kunst. Der Job der Kunst ist es, sein Ding zu machen, und die Leute werden das dann irgendwie finden. Oder auch nicht.
Mit Ausnahme von einer Handvoll Komponisten gibt es kaum jemand, der von Komposition leben kann. Woran liegt es, dass sich in der Neuen Musik, anders als in der Bildenden Kunst, keine ökonomische Tragfähigkeit gebildet hat?
Der zeitgenössische Komponist hat sich zwangsläufig auf den gleichen Markt wie alle andere Musik begeben. Die Möglichkeit zu sagen: ›Ich bin zeitgenössischer Künstler und ich arbeite mit Musik‹, die existiert bisher nicht. Stattdessen sagt man: ›Hier ist mein neues Stück für Orchester, und ich bin super glücklich und dankbar, wenn die Berliner Philharmoniker das spielen‹. Das findet dann aber in deren Konzertsaal statt, vorher gibt es vielleicht eine Ouvertüre von Beethoven, dann die Uraufführung, die von den Leuten, die da sind, kaum jemanden hören will, außer vielleicht der Komponist und seine Freunde, danach kommt der große Starsolist. Nach 15 Minuten ist das Stück vorbei, vielleicht hat man es kapiert, vielleicht nicht. Aber was machst du, wenn du es noch mal erleben willst? Vielleicht gibt es noch eine Aufführung am nächsten Tag, vielleicht eine Aufnahme, aber in den meisten Fällen verschwindet es. Das ganze Format und die Präsentation ist falsch, und wir haben uns keinen Gefallen getan, über die letzten 30, 40 Jahre daran festzuhalten.

Das heißt, man hat in der Neuen Musik zu sehr versucht, Anerkennung aus einem System zu bekommen, das diese gar nicht bereithalten kann, weil es nach ganz anderen Gesetzmäßigkeiten funktioniert?
Ja, wir verschwenden sehr viel Zeit und Energie, um uns Freunde aus Feinden zu machen. Die Geschichte der Neuen Musik ist sehr oft eine Reaktion auf den Wunsch nach Anerkennung. Wenn man einen Auftrag bekommt, freut man sich natürlich, aber dann sind schon so viele Parameter vorbestimmt: für wen du schreibst, dass es bitte zwölf Minuten lang ist, wo und wie es gespielt wird. Aber was ist, wenn ich ein Stück für 22 Flöten und 14 Posaunen schreiben will, die sich durch den Raum bewegen sollen?
Umgekehrt ist ja Musik auch in der Kunstszene auf merkwürdige Weise marginalisiert.
Musik als Musik, also nicht unbedingt im Zusammenhang mit etwas anderem, führt ein Einzelgänger-Dasein. Andere zeitbasierte Kunstformen wie Performance und Tanz sind inzwischen komplett zu Hause in der zeitgenössischen Kunst, Leute wie Xavier Le Roy, Jérôme Bel, Tino Sehgal. Nur Musik ist bisher irgendwie ausgeklammert. Man redet viel über zeitbasierte Medien, zeitbasierte Künste, aber was ist Musik, wenn nicht die ultimative zeitbasierte Kunst? Kuratoren, die zum Beispiel zeitbasierte Kunst kuratieren müssten sich eigentlich total zu Hause fühlen in Musik. Aber ich führe oft Gespräche mit Kuratoren, die sagen: ›Musik ist nicht mein Ding‹. Niemand von denen würde sagen: ›Bilder sind nicht mein Ding‹ oder ›Film ist nicht mein Ding‹.
Was antwortest Du dann?
»Du musst nur einen Switch im Kopf machen und sagen: ›Dieses Stück Musik ist ein Kunstwerk.‹ Denn wenn man eine zeitgenössische Komposition als zeitgenössisches Kunstwerk versteht, kann man all die Parameter anlegen, die man zum Beispiel auch bei Videokunst anlegt. Das heißt nicht, dass man alles über Musik verstehen muss. Ich muss nicht wissen, wie man das macht, um es auf meine Art als Kunstwerk zu verstehen.« Sobald ich als Kurator Musik im Kunstkontext als Kunstwerk sehe, besitze ich viele Werkzeuge, um es zu verstehen.
Meine Vorstellung: eine Kunsthalle für Musik
Braucht es dann nicht auch einen anderen, freieren Ort der Präsentation?
Meine Vorstellung: eine Kunsthalle für Musik, Musik im weitesten Sinne. Man hat verschiedene Ensembles oder Bands oder performer in residence, die immer wieder spielen. Im großen Saal spielt Orchester X, im kleinen ein Streichquartett, Solisten stehen überall verteilt, bewegen sich, es gibt ein kuratiertes Repertoire, eine Ausstellung dauert acht Wochen. Du kannst den ganzen Tag da bleiben, du kannst gehen, was essen, wiederkommen, anders als bei der Uraufführung, wo es nur den ersten Eindruck gibt und nicht die Möglichkeit eines zweiten, dritten, vierten Eindrucks. Das Laufen durch das Museum gibt ein tolles Gefühl von Entdecken, Dinge zusammenbringen, selber bestimmen. Von der Energie einer Galerie- oder Ausstellungseröffnung kann man doch als zeitgenössischer Komponist nur träumen. Warum sollte es das nicht auch für die zeitgenössische Musik geben? Das Publikum existiert. ¶