Eigentlich beginnt diese Geschichte in John Andersons Kindheit, im Mittleren Westen der USA: In einem Haus in Kansas erzählen Andersons Eltern ihrem Sohn von ihren Reisen nach Italien und der Suche nach mittelalterlichen Klöstern, von der lateinischen Sprache, die sein Vater unterrichtete, von alten Büchern und Mönchen in braunen Kutten, die Melodien singen – Mittelalterkitsch, könnte man sagen, doch es fasziniert den Jungen. So sehr, dass er später selbst nach Europa geht, nach Oxford, um Klavier zu studieren, und in die französische Provence, um dort mehrere Wochen selbst im Kloster zu leben, mit 45 Nonnen, von denen eine seine eigene Tante ist. Es sind die Gesänge, die katholische Liturgie, die ihn, wie damals auch seine Eltern in Italien, nicht loslassen. Vor acht Jahren begann er davon inspiriert das wohlmöglich größte Aufnahmeprojekt aller Zeiten: Drei Jahre lang schneidet Anderson mit seinem Team jeden Tag die Gesänge der Nonnen im Kloster seiner Tante, Notre-Dame de Fidélité, mit und entwickelt daraus eine App, mit der jede:r dem Ritus des in dreijährigen Zyklen organisierten katholischen liturgischen Gesangs auf die Stunde genau folgen kann, mit Aufnahmen und den verknüpften Notendateien zum Nachvollziehen, Mitlesen und Mitsingen zu Hause. Vor jedem Gesang schalten die Nonnen die installierten Mikrofone an und nachher wieder ab. 20 bis 25GB Audiomaterial landen so täglich in Andersons Studio – nach drei Jahren, sagt er, werden es 7.000 Stunden Musik sein, die seine Mitarbeiter von vorne bis hinten hören, schneiden, mastern, konfigurieren und hochladen. An Ostern ging die Webseite neumz.com vorerst Online – als eine Art Preview der bisherigen Arbeit.
Knapp zwei Wochen später betritt John Anderson einen Zoom-Raum. Er wirkt gelöst, beinahe fröhlich, schwärmt ungebremst, wenn es um den gregorianischen Gesang und sein Aufnahmeprojekt geht. Andere wären angesichts des irrsinnigen Bergs an Arbeit gestresst – er ist davon weit entfernt.
VAN: War dir eigentlich vorher klar, was das für ein gigantisches Projekt werden wird?
John Anderson: Ja, ich war mir dessen schon bewusst. Mir war klar: Das wird ein harter Job, aber es ist nicht unmöglich – es ist einfach nur viel. Glaube versetzt Berge, sagt man ja so schön. Das Wichtigste war eigentlich nur, das richtige Team zu finden, Leute, die sich mit Aufnahmetechnik, Schnitt, Musikcomputern, KI und Notenprogrammen auskennen, also schon ein sehr spezieller Typ von Expert:innen. Manche, die ich gefragt habe, sagten mir, es sei absolut verrückt und nicht machbar – andere waren sofort dabei.

Wie kam es überhaupt zu der Idee?
Es war ursprünglich als ein Hilfsprojekt gedacht. Meine Tante war 2010 in Nord-Benin in einem Kloster, in einer der ärmsten Regionen des Landes, und erzählte mir davon, wie schwer es den Nonnen dort fällt, das Kloster am Laufen zu halten. Schließlich muss eine Klostergemeinschaft sich selbst versorgen können – also Dinge produzieren oder anbauen, sie zum eigenen Leben nutzen oder verkaufen, sie leben von ihrer eigenen Hände Arbeit. Dort ist es aber sehr schwer beispielsweise Lebensmittel anzubauen, allein aufgrund des Klimas. Es wächst kein Wein wie in Frankreich, was also können sie tun? Ich hatte die Idee, dass sie ein digitales Produkt verkaufen können, und zwar direkt weltweit.
Ihre gesungenen Gebete also zur Ware machen …?
Ja, da muss man vorsichtig sein. Ihre Gebete sind natürlich kein Produkt im üblichen Sinne, es geht auch nicht darum, sie einzutüten und einfach auf den Markt zu werfen. Das Singen gehört zu ihrem Dienst im Kloster dazu, sie teilen ihr Leben dort in Arbeit und Gebet, es ist wie ein Job, in die Kirche zu gehen und das Gebet zu singen. Es ist eine heikle Frage, ob es angemessen ist, sie dabei aufzunehmen – Nonnen sind sehr private Menschen, und dann hängt man Mikrofone in ihre Gesichter? Ich habe lange darüber nachgedacht, ob das eine gute Idee ist.
Die Nonnen in Benin waren aber zunächst einverstanden.
Das waren sie. Leider war es aufgrund der Umweltfaktoren in Benin geradezu unmöglich, dort aufzunehmen – immer wieder fällt der Strom aus. Man hat den Saharasand, der in die Technik weht. Es ist unfassbar heiß. In der Regensaison haben wir 100 Prozent Luftfeuchtigkeit. Außerdem hat mir niemand gesagt, dass es, wenn es regnet, so heftig regnet, dass man es überall in der Kapelle hört – und also auch sehr präsent auf der Aufnahme. Also haben wir aufgegeben und entschlossen, die Gesänge in Frankreich aufzunehmen.
Bis sich die Gemeinde dort aber dafür entschieden hatte, sind insgesamt sieben Jahre vergangen. Warum hat das so lange gedauert?
Die Kirche bewegt sich generell sehr langsam. Und wahrscheinlich haben sie es zwischendurch auch einfach vergessen. Vor zwei Jahren dann habe ich mit der Äbtissin gesprochen und sie sagte, ich sollte das Projekt der gesamten Gemeinschaft vorstellen, damit jede einzelne Nonne die Möglichkeit hätte, Fragen zu stellen.
Was waren ihre Sorgen bezüglich der Aufnahme?
Vor allem hatten sie Angst, dass ihr Gesang nicht perfekt genug ist. Aber darum geht es mir gar nicht. Ich finde es, ehrlich gesagt, viel schöner als wenn ich die Gesänge von einem professionellen Chor höre – eigentlich mag ich das von Profisänger:innen überhaupt nicht, denn so funktionieren die Choräle nicht. Professionelle Sänger:innen singen mit Ansatz und Technik, die die Schwestern nicht haben. Bei den Nonnen gibt es Fehler, Unsauberkeiten, falsche Noten oder falsches Timing und man hört das Holz der Bänke knarren, wenn sie aufstehen. Es gibt pro Gesang in drei Jahren auch nur einen einzigen Take. Für Profis wäre es eine musikalische Performance und kein Gebet, und das hat einen Effekt auf alles. Diese Gesänge sind nicht einfach nur Musik, es sind Gebete.
Was fasziniert dich überhaupt konkret am gregorianischen Gesang, an diesen einstimmig gesungenen, einfachen, repetitiven Melodien?
Zunächst einmal liebe ich den Klang. Wenn man in der Bank sitzt und ein bisschen Abstand hat zu den Sänger:innen, verschmelzen die vielen Stimmen wie zu einer einzigen. Es hat mich ergriffen, wie wichtig und ernst dieser Gesang für sie ist, und zu erleben, wie Musik zum Gebet wird. Musiktheoretisch und -historisch fasziniert mich aber vor allem die Konzeption von Musik, die die Menschen des frühen Mittelalters hatten, noch bevor es Klaviere gab und verschiedene Tonarten, noch vor der Idee einer Oktave, einer reinen Stimmung oder von Rhythmus, wie wir ihn heute definieren. Und dann stehen da im Jahr 2020 45 Nonnen und singen gemeinsam, ohne dass irgendein Rhythmus notiert ist. Sie tun das durch gemeinsame Gesten, gemeinsames Atmen, basierend auf den musikalischen Phrasen. Alles ist im Fluss, das Metrum ist konstant, die Interpretation hängt ganz vom Kontext ab.
Hat diese Erfahrung und Beschäftigung damit dein Hören verändert – also auch von zeitgenössischer Musik?
Ja, schon. Mir wurde klar: Wenn wir heute starr nach 4/4-Rhythmus spielen ohne jegliche Freiheit, dann ist das die Definition von Antimusikalität. Im Grunde besteht die Lektion darin zu fragen, was Musik zu Musik macht. Es gibt manche Werke des 20. Jahrhunderts, zum Beispiel von Eliott Carter, in denen die Relation zwischen der Notation und der musikalischen Zeit verschoben ist, wo die rhythmische Flexibilität in die Partitur eingeprägt ist. In der zeitgenössischen Musik geht es am Ende um das Gleiche wie in der Gregorianik: Die Musik hat ihren eigenen Geist, ihr eigenes Leben, und sie kann nur leben, wenn sie atmet, wenn sie frei ist.
Wie waren die ersten Messen, die du im Kloster erlebt hast?
Wahnsinnig schön. Aber wenn du kein Experte bist, ist es extrem schwierig, zu folgen. Die ersten Male war ich komplett verloren. Erst nach und nach habe ich verstanden, wann der eine Gesang endet und der nächste Gesang beginnt, und konnte dann beginnen den Text mitzulesen. Die Schwestern arbeiten mit mehreren Büchern und wechseln sie ständig, man muss genau wissen, wann man wo welche Seite aufschlagen und umblättern muss – das ist wie eine Choreografie. Daraus entstand auch meine Idee, eine App zu entwickeln, die das ganze Material vereint.
Nun ist eine erste Version des Projekts online, man kann sich schon eine ganze Reihe von Gesängen anhören. Wie soll die Endversion aussehen?
Die Idee ist, dass sie im Grunde für alle frei zugänglich ist, und man sie nutzen kann wie ein Radio: Morgens um 5 Uhr anschalten und dann die aufgezeichneten Gesänge zur gleichen Zeit hören, wie sie auch gerade in den Klöstern gesungen werden. Ostern und Weihnachten sind zwar die schönsten Gesänge, aber auf die muss man dann warten. Wenn man ein Abo abschließt, soll man alles immer hören können, also auch Weihnachten im Juli. Gerade hören wir noch die Gesänge von 2019, also wird die Liturgie wirklich korrekt erst in zwei Jahren zu hören sein, denn erst dann wiederholt sich alles – also ab 2022.
Gab es schon Leute, beispielsweise Musikhistoriker:innen, die ein Problem damit hatten, dass auf euren Aufnahmen Nonnen singen und keine Mönche?
Tatsächlich hatten wir vor allem Rückmeldungen von Menschen, die uns sagten, wie schön sie es fänden, Frauenstimmen zu hören. Jemand anders fragte mich, warum wir Frauen ausgewählt haben, der gregorianische Gesang sei ja eigentlich für Männer gedacht gewesen. Ich hatte tatsächlich selbst überlegt, es mit Männern zu machen, doch dann war mir recht schnell klar: Davon gibt es wirklich genug, und wir müssen das nicht endlos so fortsetzen. Ich finde, der Gesang der Frauen hat etwas sehr Feierliches, Freudiges, man hat das Gefühl, dass er für sie auch eine soziale Funktion erfüllt. Bei Männern empfinde ich die Gesänge manchmal als etwas nüchtern. Aber wer weiß, vielleicht mache ich das Projekt auch irgendwann mit Mönchen.
Du denkst schon über die nächsten Riesenprojekte nach?
Ja, warum nicht? Jedes Kloster hat einen eigenen Stil, und es wäre doch wunderbar, diese Dinge festzuhalten, zu katalogisieren. Wenn es gut läuft, wäre es toll, das gleiche Projekt mit der gleichen Infrastruktur auch auf andere Gesänge auszuweiten – traditionelle Gesänge, jüdische Gesänge, hinduistische und buddhistische Gesänge, arabische Gesänge. Wir könnten das Spotify des weltweiten Gesangs werden. ¶