Am 24. Januar 1915 wurde in Brünn die Komponistin Vítězslava Kaprálová geboren, als Tochter des Komponisten und Pianisten Václav Kaprál (1889–1947), der einst zu der Ehre gekommen war, von Leoš Janáček in Brünn unterrichtet zu werden. Vater Václav motivierte seine Tochter bereits in jungen Jahren, sich intensiv mit Musik zu beschäftigen. Erste eigene Kompositionen entstanden im Alter von neun Jahren – und noch im selben Jahr (1924) wurde Vítězslava am Konservatorium in Brünn aufgenommen. 1935 wechselte sie an das Prager Konservatorium und schloss dort ihr Dirigier- und Kompositionsstudium ab.

1937 zog es die 22-jährige Kaprálová nach Paris, wo sie bei zwei äußerst prominenten Musikern weiter studierte: Komposition bei Bohuslav Martinů und Dirigieren bei Charles Munch. Eine exquisite personelle Mischung, die per se eine vielversprechende Musikerinnenlaufbahn vorzeichnete. Im selben Jahr erhielt Kaprálová für ihre deutlich von den politischen Schreckensmeldungen beeinflusste Militärsinfonietta (Vojenská symfonieta) den Smetana-Preis. Ein Jahr später eröffnete jenes Werk das Festival der International Society for Contemporary Music – gespielt vom BBC Symphony Orchestra.

Mit Martinů führte Kaprálová eine Freundschaft auf Augenhöhe; beide zeigten sich gegenseitig gerade entstehende Werke – und schrieben sich entsprechende Korrekturen und Kritik in ihre frischen Partituren. In den Kriegswirren ab 1939 blieb Kaprálová in Paris und heiratete 1940 den gleichaltrigen tschechischen Schriftsteller Jiří Mucha, der als Kriegsberichterstatter für die BBC arbeitete und später aufgrund seiner politisch unangepassten Äußerungen von den Kommunisten seines Heimatlandes zu Gefängnis und Zwangsarbeit verurteilt wurde.

Kaprálová verstarb am 16. Juni 1940, wahrscheinlich an Tuberkulose. 1921 hatten französische Forscher zwar einen wirksamen Impfstopf gegen diese Krankheit entwickelt, doch einerseits war das Medikament zu Kriegszeiten vermutlich schwer oder gar nicht verfügbar; andererseits gab es zu dieser Zeit mehrere Todesfälle und entsprechende Skepsis im Zusammenhang mit der Anwendung des Tuberkulose-Impfstoffes. Vítězslava Kaprálová wurde nur 25 Jahre alt.

Vítězslava Kaprálová (1915–1940)Dubnová preludia (April Preludes) für Klavier (1937)

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Vor ihrem sehr frühen und tragischen Tod komponierte Kaprálová ungefähr 60 Werke, darunter Liedzyklen, Solostücke, Kammermusik und einige Werke für Orchester. 1937 entstanden ihre April-Präludien für Klavier (Dubnová preludia). Irisierend-irritierend und leicht bedrohlich beginnt das erste Prélude (Allegro ma non troppo). Die Kaprálová angedichtete Nähe zur neoklassizistisch-locker-heiteren Ästhetik der »Groupe des Six«, zu der immerhin eine Komponistin zählte (Germaine Tailleferre, 1892–1983), wird hier nicht deutlich. Im Gegenteil scheint Kaprálová eher die brütend-farbige Harmonik Janáčeks zu beschwören; auch die lodernde und querständige Harmoniesprache Karol Szymanowskis hört man vielleicht mit – doch vor allem mag man sich an die später übermäßig-kühlen Klavierpräludien des ebenfalls recht früh verstorbenen Alexander Skrjabins (1872–1915) erinnern. Ein irgendwie auch postwagnerscher Akkord wird im dritten Takt behauptend dahingesetzt, gefolgt von Unisono-Oktaven, die anrollend zu einem weiteren Akkordeinschub streben. Staccato-Harmoniefolgen perlen »leichtfüßig« aus den ausnotierten und ausdifferenzierten Tremoli hervor. Dann erklingt ein oben in der »Melodiestimme« verortetes Motiv, leicht »slawisch«-persistierend dahingestellt. Die unzufriedene Harmonik wird jetzt keineswegs geglättet, sondern in quasi-improvisato-Abschnitte überführt, die die motivischen Anlagen des Beginns ausformen, etwas weiterführen. Doch da endet auch schon dieses flüchtige wie intensive Prélude-Erlebnis.

Das zweite Prélude (Andante) beginnt »im Legendenton«: Wieder erklingen Unisono-Oktaven, die von angeschrägten Akkorden schlussendlich unterfüttert werden. Hier geschieht die Ausformung der motivischen Voraussetzungen schneller; Linien werden formuliert – wie Sätze, für die man sich jetzt, in Ruhe, Zeit nehmen kann. Debussyhafte Momente der akkordischen Beharrlichkeit leuchten stets im reibeisigen Gewand der ganz speziellen Harmonik Kaprálovás auf. Der heroische Höhepunkt des Werkes bemüht dann tatsächlich traditionelle klavieristische Begleitmethoden und Oktavendramatik. Doch die Schlussgestaltung erweist sich wieder als Gegenargument: »Du glaubst, mich verstanden zu haben? Vergiss es!«

Das Andante semplice kommt tatsächlich ein wenig neoklassizistisch daher. Die Naivität Erik Saties schwingt mit – auch in den bald eintrudelnden witzig verquer-imitatorischen Polyphonismen. Nachdenken über die Geschichte der Kontrapunktik. Sinnend vergurgeln sich die Linien in tieferen Tastengefilden. Da hebt das Ganze von oben an. Am Ende steht ein toll(kühn) verlangsamter Epilog; versunkene Kathedralen, irgendwie.

Entsprechend belebend und charakterstückartig zappelt das letzte Stück (Vivo) in die Tür hinein. Bärbeißige Chromatik und locker gefügtes Staccato-Werk bringen diesen vielgestaltigen Zyklus zu einem jetzt auch gleichsam bartókhaften Ende: rhapsodisch-freie Gedanken, die Lust an Tempo- und Stimmungswechseln und ein apodiktischer Schluss, der Freude macht. Sehr lohnenswerte Musik. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.