Andermatt in den Urner Alpen: steile Felshänge, kalter Südwind. Von Norden nur durch die Schöllenenschlucht zu erreichen, kämpft sich die Matterhorn-Gotthard-Bahn fast im Schritttempo bergauf ins 1.500-Seelen-Dorf. Ohrendruck. In die anderen Himmelsrichtungen führt der Furka-Pass nach Westen, der Oberalp-Pass nach Osten und der Gotthard-Pass nach Süden.

Wegen dieser herausfordernden geografischen Bedingungen sucht Andermatt seit es existiert nach seiner Identität. Zunächst fungierte es als Handels- und Warenumschlagplatz, im 19. Jahrhundert folgten dann ein paar Jahrzehnte des Belle-Époque-Tourismus, bis der Gotthardtunnel 1882 die Zahl der Durchreisenden einbrechen ließ. Während und nach den Weltkriegen mauserte sich Andermatt zum umfangreichsten Reduit der Schweiz; alle Arbeitsplätze waren in irgendeiner Form von der Schweizer Armee abhängig. Mit dem Ende des Kalten Kriegs begann die Abrüstung der Kasernen. Die Skilifte überaltert, die Hotels verstaubt folgte eine wirtschaftliche Durststrecke. Bis 2004 Samih Sawiris kam. Der ägyptisch-montenegrinische Geschäftsmann und Milliardär versprach, das Bergdorf zu alter Blüte zu führen. War in den Nullerjahren von Investitionen in der Höhe von 400 Millionen Franken die Rede, waren es bis Ende 2018 schon rund 1,05 Milliarden. Zum Investitionsvolumen gehören nicht nur 458 Apartments und hunderte Hotelzimmer, sondern auch ein Golfplatz, exklusive Chalets am Ufer der Reuss sowie zusätzliche 130 Millionen für den Ausbau des Skigebiets Andermatt-Sedrun-Disentis: So sind von Andermatt aus nun 300 Pistenkilometer mit insgesamt 55 Anlagen zu erreichen. Ich bin allerdings nicht zum Skifahren hier, sondern zum Musikhören.

Optisch schlagen sich diese baulichen Maßnahmen am markantesten im neu errichteten Feriendorf Reussen nieder. Apartmenthäuser arrangieren sich um eine Art Dorfkern, der von einem Vier-Sterne-Haus zu den Gleisen hin flankiert wird. In diesem Hotel, beziehungsweise in der angebauten Konzerthalle, fand erstmals das Andermatt Music Winter Festival statt. Reussen ist so neu, dass es noch nicht einmal auf Google Maps existiert. Auf dem Satellitenbild sieht man lediglich die Baustelle:

Das klassische Musikprogramm des Andermatter Konzertsaals wird seit Sommer 2019 von drei jungen Engländern kuratiert: dem 27-jährigen Maximilian Fane als künstlerischem Leiter, dem 30-jährigen Roger Granville als Creative Director und dem 30-jährigen Frankie Parham als Executive Producer. Die drei veranstalten seit 2017 auch ein Festival in Florenz, mit dem sie kein geringeres Ziel verfolgen als eine »Renaissance der Renaissance«. Der Anspruch in Andermatt ist ein anderer: »Jetzt, wo es hier einen Konzertsaal gibt, wollen wir die lokale Bevölkerung und den ganzen Kanton Uri ermutigen, daran teilzuhaben. Ich habe das Gefühl, dass es hier noch nicht wirklich eine Konzertbesuch-Kultur gibt. Das ermöglicht uns, eine solche zu entwickeln. Ein paar Leute fragten mich vorgestern, was abends für ein Konzert stattfindet. Ich sagte: Daniel Barenboim! Und sie fragten: Wer ist Daniel Barenboim?«, erzählt Maximilian Fane bei einem Tee in der Hotelbar.

Bescheidenheit statt Geltungsdrang

Barenboim reiste mit vier Klaviersonaten Beethovens und eigenem Flügel an, eine Spezialanfertigung des belgische Klavierbauers Chris Maene in Zusammenarbeit mit Steinway. Seit knapp fünf Jahren ist es in Europa Barenboims ständiger Begleiter.Seine Saiten verlaufen nicht wie bei modernen Flügeln gekreuzt, sondern, wie zu Liszts Zeiten, parallel. Außerdem hat sich Barenboim die Tasten etwas schmaler machen lassen, damit sie ergonomisch zu seinen Händen passen. Und die augenfälligste Personalisierung? Anstelle von »Steinway & Sons« steht auf dem Flügel in goldenen Lettern »Barenboim«.

Foto © Valentin Luthiger
Foto © Valentin Luthiger

Die 650 Plätze des Konzertsaals waren alle besetzt. Barenboim schien etwas müde und besann sich vielleicht auch deshalb auf seine Rolle als Dirigent: Er verließ das Korsett des virtuosen Pianisten und tauschte das Verlangen nach pianistischer Perfektion mit dem Wunsch nach künstlerischer Klarheit. So wurde die Sonate Nr. 24 in Fis-Dur op. 78 nach der Pause zu einem Triumph der Bescheidenheit über Erwartungsdruck: Jeder Ton kommunizierte, plötzlich strömten aus dem Spezialflügel die schönsten Farben. Den Zustand der Verinnerlichung, den Barenboim in diesen kurzen zehn Minuten erreichte, führten in der Sonate Nr. 30 Es-Dur op. 109 zu einer angenehmen Gelöstheit.

Foto (Ausschnitt) © Kanipak Photography
Foto (Ausschnitt) © Kanipak Photography

Der Rockstar der Pauken

Der zweite Tag des Festivals begann mit einem Gespräch: Der ungarische Musikjournalist und Moderator Ádám Bősze interviewte die Solisten Nikita Boriso-Glebsky (Violine) und Yoon-Jee Kim (Klavier) über ihre Beziehung zu Beethoven. Boriso-Glebsky betonte, wie wichtig es sei, sich bei Beethoven immer das »big picture« vor Augen zu halten, sich nicht zu sehr in Details zu verlieren. Dieser Prämisse wurde er am Abend im Konzert gerecht. Lange Bögen, lupenreine Intonation und ein differenziertes Formverständnis prägten seine Interpretation von Beethovens Violinkonzert.

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Am dritten Abend kamen insbesondere die ausgezeichneten einzelnen Spieler*innen der English Classical Players groß raus, besonders deren Paukist Tristan Fry. Offenbar ist Fry in England so etwas wie ein Rockstar der Paukisten, sein Spiel war vollkommen unmissverständlich – und äußerst cool. Die Pianistin Yoon-Jee Kim ließ das Klavier im richtigen Moment singen, brausen, hämmern oder perlen.

Die wirklichen Höhepunkte des Winterfestivals ereigneten sich außerhalb der beiden großen Sinfoniekonzerte: Bei der Kammermusik-Matinee mit Nikita Boriso-Glebsky und dem Pianisten Georgy Tchaidze harmonierte das Duo perfekt und ging aufregende Risiken ein. Herz-  und Filetstück ihres Rezitals war die Kreutzersonate. Schon in der Exposition ging das Duo aufs Ganze, die Durchführung versetzte einen dann in Staunen, aber auch ein bisschen in Angst und Schrecken. Konsequenterweise geriet der zweite Satz aufgewühlt, als müsste der Kopfsatz psychologisch verarbeitet werden. Beethoven so zu spielen, dass er auch 2020 Spaß macht, ist ein kleines Kunststück.

Foto (Ausschnitt) © Roland Halbe
Foto (Ausschnitt) © Roland Halbe

Die Wiederholung der Geschichte

Das zweite Highlight war außermusikalischer Natur: der Ur-Andermatter Bänz Simmen. Er betreibt ein Internetcafé im alten Dorfkern und waltet als Fremdenführer und selbsternannter Dorf-Historiker. Der zweistündige Spaziergang mit ihm ist allen zu empfehlen. An dieser Stelle sei nur eine seiner unzähligen Geschichten wiedergegeben: Offenbar war kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe 1779 extrem von Andermatt angetan. Davon zeugt bis heute eine Wandbeschriftung, die lautet: »Mir ist’s unter allen Gegenden, die ich kenne, die liebste und interessanteste.«

Zurück in Weimar erzählte Goethe sogleich seinem Freund Friedrich Schiller von der sagenumwobenen Figur des Wilhelm Tell. Mit dem gleichnamigen Drama legte letzterer 1804 den Grundstein für den Zentralschweizer Luxustourismus. Das Narrativ der urchigen Innerschweizer Bevölkerung kam gerade Recht: 1815 wurde der Schweiz im Zuge des Wiener Kongresses die Neutralität garantiert. Das war an und für sich positiv. Doch damit fiel nach 400 Jahren ein wichtiger Wirtschaftszweig weg: das Söldnertum. So mobilisierte man rasch Scharen von zahlkräftigen Brit*innen, denen im 19. Jahrhundert in Andermatt laut Bänz Simmen eine »Super-Belle-Époque« geboten wurde: bengalische Feuer an der Teufelsbrücke, Wellness, Käse und Höhenluft. Die Parallelen zur heutigen Zeit sind unübersehbar: Nach Jahrzehnten der Abhängigkeit vom Schweizer Militär besinnt man sich in Andermatt nun wieder auf seine Gäste.

Auch Maximilian Fane und sein Team planen, das musikalische Festival-Programm zu ergänzen: mit Kunstspaziergängen durch Andermatter Galerien oder Uhrmacher-Workshops. Die beiden größten Herausforderungen sieht Fane in zwei Bereichen: »Wir müssen den Konzertsaal jetzt auch wirklich für die lokale Bevölkerung lancieren. Ein Community-basierter Launch bei freiem Eintritt. Der Saal wurde bislang eher in der internationalen Presse erklärt.« Die zweite Herausforderung ist eher prosaischer Natur: Nach 21.29 Uhr fährt kein Zug mehr ins Tal. Deswegen will man sich in der kommenden Saison statt auf Einzelkonzerte mehr auf die zwei Festivals im Winter und im Sommer konzentrieren – in der Hoffnung, dass die Gäste gleich ein paar Tage bleiben.

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In seiner Anlage vereinte das Winterfestival einen interessanten Ansatz: Die Idee, einen abgelegenen Ort in den Alpen vier Tage lang mit klassischer Musik zu bespielen, und die Musik dabei mit Talks, Vorträgen und – nicht zu vergessen – Kulinarik zu umrahmen. Denn im Zuge der neuen Investitionen erweiterte sich in Andermatt auch das gastronomische Angebot, das nun vom unkomplizierten Fondue-Plausch bis zur Michelin-gekrönten Fusion von alpiner und asiatischer Küche reicht.

Foto © Valentin Luthiger
Foto © Valentin Luthiger

Letztendlich werden die kommenden Festivals zeigen, in welche Richtung sich Andermatt als Klassik-Hot-Spot entwickelt. Beim Sommerfestival vom 23. bis am 26. Juni stehen neben Mendelssohn und Brahms auch eine Kooperation mit Jazzmusiker*innen und ein Konzert mit Radiohead-Arrangements auf dem Programm. Was der Ort braucht, braucht auch der Konzertsaal: Erlebnisse, Geschichten, Begegnungen, Erfahrungen. Frischen Wind also, der einem den Druck aus den Ohren pustet. ¶

Dieser Artikel wurde gesponsert durch Andermatt Music.