250 Komponistinnen. Folge 35: Dunkle Töne, todernste Ansage!
Sara (auch Zara) Lewina kam am 5. Februar 1906 in Simferopol zur Welt, einer bedeutenden Großstadt auf der Halbinsel Krim, damals zum Gouvernement Taurien gehörig. Lewinas Mutter lehrte Russisch an einer Gehörlosenschule, der Vater war als Kaufmann und Handwerker tätig. Im erweiterten Familienkreis – Lewinas Onkel verdiente als professioneller Geiger sein Geld – spielte praktische Musikausübung eine wichtige Rolle. So konnte das erstaunliche Talent Lewinas früh entdeckt und entsprechend gefördert werden. Zunächst erlernte Sara Lewina das Klavierspiel und trat bereits mit 11 Jahren als Solistin öffentlich auf. Mit 14 Jahren ging es von Simferopol ins etwa 500 Kilometer weit entfernte Odessa – von der fast exakten Mitte des Schwarzen Meeres also an dessen nordwestliches Ende. Dort, in Odessa, erhielt sie Unterricht am Konservatorium und 1923 ihr Klavierdiplom.
Ab 1925 studierte Lewina für einige Jahre am Moskauer Konservatorium, unter anderem Klavier bei dem musikalischen Multi-Talent, Rimski-Korsakow-Schüler und Horowitz-Lehrer Felix Blumenfeld (1863–1931) sowie Komposition bei Nikolai Mjaskowski (1881–1950) und Reinhold Glière (1875–1956), der bereits Mjaskowski selbst und Sergei Prokofjew in Komposition unterrichtet hatte.
Bald wurde, so ist überliefert, Lewina Mitglied im Sowjetischen Komponistenverband, ohne den (oder gar am selbigen vorbei) man in Russland nur schwerlich eine kompositorische Laufbahn entwickeln konnte. Weitere Mitgliedschaften folgten, so in Organisationen, die sich als Ziel die künstlerische Vermittlung »einfacher Arbeiter-Inhalte« auf die (roten) Fahnen geschrieben hatten. So entstanden aus Lewinas Feder – nicht ganz freiwillig – politische Gebrauchsmusiken wie das »Lied des Elektrobetrieb-Arbeitertheaters« oder etwa ganze Kollektivwerke in Zusammenarbeit mit Genoss*innen einer jungen, willigen, fähigen, aber auch beeinflussbaren Generation von Künstler*innen.
Der bewusst gewählte Austritt aus derlei Organisationen dürfte ein geistige und körperliche Kräfte zehrender Akt gewesen sein – und so zog sich Lewina mit Beginn der 1930er Jahre insofern künstlerisch zurück, als dass sie ihre Begeisterung für die unmittelbar »wirksame« – und für sie: freiere – Kunst des Radiohörspiels für sich entdeckte – und entsprechend viele Werke zu dieser damals noch neuartigen Gattung beisteuerte.
1935 heiratete Lewina den Komponisten Nikolaj Tchemberdji (1903–1948), den sie trotz einer bald sich bemerkbar machenden Herzerkrankung fast 30 Jahre überleben sollte. 1936 wurde Tochter Valentina geboren, die als Übersetzerin und Verfasserin von Musiker-Biographien bekannt wurde und die sich bis zuletzt sorgsam um ihre Mutter kümmerte. Ebenfalls zu einiger Bekanntheit gelangten die beiden Enkelkinder Lewinas: Valentina Tchemberdjis Tochter Katja Tchemberdji, Komponistin und Pianistin (*1960) und der Pianist Alexander Melnikov (*1973).
Sara Lewina starb im Alter von 70 Jahren am 27. Juni 1976 in Moskau – fast genau ein Jahr nach Dmitri Schostakowitsch (1906–1975), dessen Lebensdaten sich mit denen Lewinas fast exakt decken.
Sara Lewina (1906–1976)Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 (1942)
Ästhetisch ist Lewina der Musik von Sergei Rachmaninow (1873–1943) näher als der »fortschrittlichen« Klangwelt Schostakowitschs. Neben den erwähnten »politischen« Kompositionen der frühen Jahre finden sich vor allem Lieder sowie Kammermusikwerke mit Einbeziehung ihres eigenen Instruments, dem Klavier, in ihrem Werkkatalog.
Lewinas erstes Klavierkonzert entstand zwar bereits 1942, doch wurde es erst ungefähr ein halbes Jahr vor Ende des Zweiten Weltkrieges uraufgeführt, genauer: am 14. März 1945. (Am selben Tag wurde die Stadt Zweibrücken durch die kanadische Luftwaffe fast vollständig zerstört, außerdem bombardierten britische Streitkräfte eine fast 400 Meter lange Eisenbahnbrücke – das Eisenbahn-Viadukt von Schildesche – bei Bielefeld; dort setzten die Briten erstmals die damals mit über zehn Tonnen Gewicht weltweit schwerste Bombe – die »Grand Slam« – ein.)
Völlig ungewöhnlich, wie von der Tarantel gestochen rast das Klavier zu Beginn solo los! Die Schrecken der Entstehungszeit haben ihre musikalischen Spuren hinterlassen. Aus dem äußerst virtuosen Geläuf entwickeln sich Klavier-Wellen, die zur Begleitung des schwerlastenden Streicherthemas werden. Schicksalsdräuend wie bei Rachmaninow geht es zu; dunkle Töne, todernste Ansage! Das Hauptthema gibt sich dabei weniger als affirmativer Ohrwurm, sondern erweist sich als vielgestaltig und komplex. Nach eineinhalb Minuten bricht der erste Orchesterblock ab – und dem Klavier allein wird erneut das Wort überlassen. Dieses verstrickt sich einmal mehr in noch wüstere Stürmereien, die wiederum vom Orchester emotional aufgeladen und von bebenden Melodien im Verbund mit dissonant aneckenden Akkorden beantwortet werden.
Erst nach drei aufwühlenden Minuten beruhigt sich die Gesamtsituation – und das Klavier bringt lyrisches Material zu Gehör, immer wieder im Verbund mit sich aus dem Orchester reizvoll solistisch herausschälenden Instrumenten – an das Flöte-Klavier-Duo unmittelbar nach der mächtigen Kadenz des ersten Satzes von Rachmaninows drittem Klavierkonzert erinnernd. Prinzip: Auf den Tutti-Sturm folgt jeweils ein kammermusikalisch inszenierter Burgfrieden.
Lewina komponiert 1942 eine nur scheinbar »rückwärts gerichtete« Musik, hinter der jedoch mehr steckt, als es zunächst den Anschein macht. Schon die Raserei des Beginns ihres Klavierkonzerts tönt nur vordergründig wie eine brutale Etüde. Schon im zweiten Takt werden wir dabei unterschwellig völlig aus dem »c-Moll-Gefühl« rausgehauen – und befinden uns schnurstracks, aber irgendwie auch unbemerkt, in h-Moll. Immer wieder wechselt Lewina aus dem Nichts die Tonart, komponiert damit Farbwechsel und Stimmungsumschwünge, die alles andere als »harmlos« sind und bisweilen an die Modernismen Alexander Skrjabins gemahnen. ¶