Warten heißt Wachsen – so zumindest das Sprichwort. Ob die unter Corona leidende und von der Politik allzu oft ignorierte Kultur gerade wächst, das darf mehr als hinterfragt werden. In Bayreuth jedoch gibt es dieser Tage viel Gewachsenes und Erwartetes zu sehen, und auch allerlei Warten.

Denn Bayreuth hat ein neues Festival. Und dieses ist 100% wagnerfrei. Dass das möglich ist, ist einer besonderen Frau zu verdanken: Wilhelmine von Bayreuth, von Preußen, Schwester Friedrichs des Großen, Komponistin, Librettistin, Impresaria, Freundin Voltaires – und Bauherrin des Markgräflichen Opernhauses. Damals, als Bayreuth noch keine Provinz, sondern Fürstentum war, als noch nicht Richard Wagner die Kulturhoheit über die Stadt hatte, damals hatte Wilhelmine die Vision eines üppigen, eines systemrelevanten Barocktheaters als Kunstzentrum. Die Residenzstadt Bayreuth zählte Mitte des 18. Jahrhunderts ganze 3000 Einwohner, im Opernhaus fanden 800 davon Platz. (Transferiert man diese Größe und Bürgernähe beispielsweise auf Münchens neuen Konzertsaal, falls er denn jemals entsteht, so müsste dieser knapp 400.000 Plätze aufweisen.) Das Markgräfliche Opernhaus wurde nach seiner Eröffnung im Jahr 1748 eine Alltagsspielstätte sowohl für Oper und Theater, musste aber auch für Zirkusse und als Mehl-Lager der bayerischen Armee herhalten. Und es lockte besagten Richard Wagner nach Bayreuth, der dann aber lieber doch ein neues Festspielhaus bauen ließ, als seine Opern im Markgräflichen Opernhaus aufzuführen. Wahrscheinlich wäre es dort für sein groß dimensioniertes Orchester ohnehin zu eng geworden, vielleicht wollte er sich aber auch einfach nicht den Spielplan mit Akrobaten und dressierten Affen teilen.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Markgräfliche Opernhaus allmählich wieder als Opernhaus wahrgenommen, stets im Schatten des publikumsmächtigen Grünen Hügels. Doch spätestens seit der knapp sechs Jahre dauernden Renovierung und seit der Aufnahme ins Weltkulturerbe der UNESCO hat sich die Wahrnehmung verändert. 2018 wurde das Haus wiedereröffnet – übrigens mit derselben Oper, mit der es 1748 eingeweiht worden war, mit Johann Adolph Hasses Artaserse. Auch die Berliner Philharmoniker kamen 2018 mit Paavo Järvi, zum Europakonzert. Heute ist das Markgräfliche Opernhaus, das muss man jetzt mal so vollmundig und so objektiv sagen, das bedeutendste und besterhaltene Barocktheater der Welt. Sagt auch die UNESCO. Und es ist ein authentischer Raum. Inmitten all des verzierten Lindenholzes und der überbordenden Goldpracht findet sich hier eine Art Zeitmaschine, die die Musik des Barocks im originalen Raum erleben lässt.

Foto © Bayerische Schlösserverwaltung, Achim Bunz, München
Foto © Bayerische Schlösserverwaltung, Achim Bunz, München

All dies nimmt nun das neue Festival »Bayreuth Baroque« in den Blick. Ein Festival, das auch in den kommenden Jahren in den ersten beiden Septemberwochen stattfinden soll und wird, wie es Bayerns Staatsminister für Wissenschaft und Kultur Bernd Sibler bei der Eröffnung betonte, der das Festival finanziell großzügig unterstützt. Dass das Jahr 2020 als Startjahr für ein neues Festival nun eher Himmelfahrtskommando als Leichtigkeit ist, hat die Veranstalter nicht davon abgeschreckt, alles an die Realisierbarkeit ihres neuen Festivals zu setzen. Künstlerischer Leiter und Aushängeschild ist der Countertenor Max Emanuel Cenčić, der als künstlerisches Schwergewicht der Barockszene einen erlauchten Kreis fürs Markgräfliche Opernhaus verpflichten konnte – der Countertenor Franco Fagioli und die Sopranistin Julia Lezhneva sind ebenso vertreten wie etwa Joyce DiDonato oder Vivica Genaux, sowie Jordi Savall mit seinem Ensemble Hespèrion XXI oder etwa die Berliner lautten compagney. Und auch den ständig neuen Corona-Verordnungen wurde getrotzt, 200 Sitzplätze konnten schlussendlich für jede Veranstaltung besetzt werden.

Organisatorisch zwacken am Eröffnungsabend die Kinderschuhe dieses neuen Festivals noch an manchen Stellen. Das reichhaltige Programmbuch komme leider erst mit fünf Tagen Verspätung (bei einem zehntägigen Festival ist das doch recht viel), stattdessen gibt es einen QR-Code. Manche Uhrzeiten auf der Homepage sind falsch, was zu Verwirrungen führt. In der Getränkepause sind Corona-Abstände egal. Und die Übertitel der Premierenoper sind holprig wie das Kopfsteinpflaster vor dem Eingang.

Musikalisch jedoch ist dieses Festival nicht nur in weiten Teilen fürstlich wilhelminisch besetzt, sondern es ist auch eine echte Fundgrube. Auf allen Programmen des Festivals finden sich unbekannte oder selten gehörte Werke. So widmete sich etwa Joyce DiDonato am vierten Abend des Festivals einer spannenden Durchleuchtung des europäischen Barocks, von Monteverdi und Dowland bis zu Rameau, Hasse und Händel. In den von ihr ausgewählten Arien ergab sich zugleich ein Psychogramm barocker Frauenfiguren, indem sie etwa die furienhafte Cleopatra-Arie aus Johann Adolph Hasses Marc’Antonio e Cleopatra der durchtriebenen, verletzten Cleopatra aus Händels Giulio Cesare gegenüberstellte, um die Vielschichtigkeit dieser Rolle zu betonen.

Mit ihrer Bühnenpräsenz, die fern jedes Diventums ist, ermöglichte Joyce DiDonato einen vielseitigen und virtuosen Einblick in diese Nuancen des Barocks. Ihr zur Seite das italienische Barockensemble Il pomo d’oro, das mit Verve und Feinsinn eine lyrische Leichtigkeit erschaffen konnte, um sich gleich darauf in die dunklen Untiefen des Basso Continuos zu bohren.

So durchzieht mit Entdeckung und Abwechslung ein hellwacher Gedanke dieses Festival – auf Delphine Galous Reise durch ein liturgisches und lyrisches Leiden Jesu folgt etwa die ungehörte Oper Gismondo – Re di Polonia von Leonardo Vinci; während Jordi Savall die Einflüsse eines musikalischen Europas zwischen Renaissance und Barock auffächert. Den opulenten Premieren-Auftakt des Festivals bildete die Oper Carlo il Calvo (»Karl der Kahle«) aus der Feder des venezianischen Barockstars Nicola Antonio Porpora. Seit 282 Jahren wurde diese intrigante Geschichte um die Nachfahren Karls des Großen nicht mehr aufgeführt. Und auch Porpora zählt heute eher zu den vergessenen oder speziellen Komponisten, ganz im Gegensatz zu seinem zeitgenössischen Ruhm – Porpora war der Lehrer Farinellis, und seine Werke sind der Inbegriff an Virtuosität, Belcanto und technischen Gemeinheiten.

Carlo il Calvo vereint dies in nicht weniger als fünf Stunden voller Abgründe und Liebe, voller Intrigen und Familien, voller aberwitziger Arien zwischen Hysterie und Trillertaumel. Der über alle Untiefen erhabene Franco Fagioli singt den Helden Adalgiso mit großer Geschmeidigkeit und nahezu unbesiegbarer Virtuosität in der Stimmführung – selbst in der Vielzahl der Arien, die Porpora hier für ihn komponierte.

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Nicola Antonio Porpora: »Spesso di nubi cinto«, aus Carlo il Calvo • Franco Fagioli, Countertenor 

Den Antagonisten Lottario (Kaiser Lothar I.) gibt der künstlerische Leiter und Regisseur Max Emanuel Cenčić selbst und verleiht ihm seine typische Mischung aus weichem Gesang und lebhafter Rollenführung, auch wenn Cenčićs honigfarbener Counter nicht so recht mit der Bösartigkeit seiner Figur zusammenfinden will. Dritter im Counter-Bunde ist der Sopranist Bruno de Sá, der eigentlich nur in einer Nebenrolle auftritt, aufgrund seiner Präsenz und hochdramatischen Gestaltung aber zum Geheimtipp dieses Ensembles avanciert. Unten vor der Bühne des markgräflichen Opernhauses führt George Petrou die musikalischen Geschicke, ihm zur Seite sein Barockorchester Armonia Atenea. Mit weiten und weichen Gesten sucht Petrou seine instrumentale Rolle hier eher in einer Begleitung der Sängerinnen und Sänger, als in einem beherzten orchestralen Kontrapunkt. Gerade in der Vielzahl der Affekte und Entladungen fehlt es an pointierterem, energischerem Spiel. So verschwinden beispielsweise die im 3. Akt besungenen »Furien aus den Folterkellern der Unterwelt« im Wohlfühl-Mezzoforte.

Dazu kommt die doch etwas eindimensionale Inszenierung: Cenčić verlegt das Geschehen um die Neuordnung des mittelalterlichen Europas in die glanzvollen 1920er Jahre, in die Hacienda kubanischer Drogenbarone. Die Darsteller tragen prächtige Kleider und Anzüge und wedeln immer wieder unheilvoll mit ihren Pistolen. Manche Ideen zünden, wie die kaschierte Homosexualität des Bösewichts, doch viele Gags kommen aus der Mottenkiste: Der dicke Mafioso, der sich die Taschen vollstopft und dann mampfend von der Bühne tippelt; die tattrige Oma, die gefüttert werden muss und heftig schlabbert; das an Beinstelzen humpelnde und durch eine gigantische Zahnspange entstellte Kind – alle drei werden verlacht und zur Schau gestellt. Das ist mindestens unlustig und definitiv ableistisch. Für ein lokales Stadttheater wäre dies schon bedenklich, für ein internationales Festival ist diese Sorglosigkeit und mangelnde Awareness gravierend. Erst kurz vor Schluss der immensen 35 Szenen dieser Oper blitzt kreativer Mut hervor, wenn Chor und Solisten das Zwischenspiel der barocken Sinfonia für einen grotesken, aber amüsanten Tanz nutzen, der sich irgendwo zwischen Charleston und »Ketchup Song« ansiedelt und endlich mal für ironische Brechung sorgt.

Foto © Parnassus Arts Productions parnassus.at, Falk von Traubenberg
Foto © Parnassus Arts Productions parnassus.at, Falk von Traubenberg

Die Sternstunde der Oper versteckt sich allerdings zu Beginn des 3. Akts. Wenn diese Oper jetzt noch einmal 282 Jahre nicht aufgeführt werden würde, für dieses Duett zwischen dem Helden Adalgiso und seiner Geliebten, zwischen Franco Fagioli und Julia Lezhneva, wäre diese Wartezeit jede Sekunde wert. (Glücklicherweise hat BR Klassik Carlo il Calvo mitgeschnitten und ab Oktober online in der Mediathek.) Lezhnevas und Fagiolis Stimmen verschmelzen derart, dass es schwierig ist, sie überhaupt noch auseinander zu hören. Ihre Nähe, die sich reibenden Dissonanzen werden zu einem nahezu unendlichen Begehren, das sich über Zeit und Raum hinwegsetzt. So lange wir keinen Impfstoff gegen Covid-19 haben, ist diese Viertelstunde das beste Heilmittel, das es geben kann.

All diese fünf Stunden, insbesondere mit diesem Duett, werden in Prunk und Pracht zum weltvergessenen Welttheater. Das »Theatrum mundi« des Barock wird zur Weltflucht. Aufatmen, mit Maske. Draußen vor dem Markgräflichen Opernhaus realisiert man, dass der Weltenbrand dieses Mal verschoben wurde. So auch auf dem Grünen Hügel mit Wagners Ring, der nun 2022 kommen soll. Bleibt zu hoffen, dass die andere Welt ihn bis dahin nicht nachholt. ¶

... studierte Musikwissenschaft, Germanistik und französische Romanistik in Köln und Paris. Er ist wiss. Mitarbeiter am Institut für Musik und Musikwissenschaft der TU Dortmund, sowie Lehrbeauftragter im Arbeitsbereich der Phänomenologie der Musik an der Universität Witten/Herdecke. Einige seiner aktuellen Schwerpunkte sind die Interpretations- und Dirigent:innenforschung, die Erinnerungskultur, sowie die auswärtige Kulturpolitik.