1759 veröffentlichte Voltaire seine berühmte Novelle Candide ou l’optimisme, in London wurde das British Museum eröffnet – und der 27-jährige Joseph Haydn befand sich gerade einmal am Anfang seines Symphonie-Schaffens: 1759 wurde die zweite von am Ende über hundert Symphonien veröffentlicht. Die spätere Pianistin und Komponistin Marianne Auenbrugger wurde am 19. Juli desselben Jahres in Wien geboren. In ihrem Leben sollte »Papa Haydn« bald eine gewichtige Rolle spielen.
Auenbruggers Vater – der Musikliebhaber und Arzt Leopold Auenbrugger – publizierte 1761 eine traditionell noch auf Latein verfasste Schrift mit dem langen Titel Neue Erfindung mittels Anschlagens an den menschlichen Brustkorb, als ein Zeichen, um verborgene Brust-Krankheiten zu entdecken – und tatsächlich gilt der hochgeehrte Vater Auenbrugger bis heute als Erfinder der als »Perkussion« betitelten Untersuchungsmethode.
Im August 1773 begegneten sich die beiden Vornamensvetter Leopold Auenbrugger und Leopold Mozart in Wien. Der begeisterte Musik-Dilettant Auenbrugger hatte eine Matinee veranstaltet, welcher auch Leopolds 17-jähriger Sohn Wolfgang Amadeus beiwohnte. Leopold Mozart schrieb über die beiden Töchter der Auenbruggers, die bei der Matinee musiziert hatten: »[…] seine [Auenbruggers] 2 Tochter [sic] […] spiehlten sonderheitlich die ältere unvergl: […] [sie besitzt] vollkommen die Musik […]. wir speisen bey ihnen sie haben aber kein pension von der Kayserin.«
Mit der »Älteren« ist Marianne gemeint. (Ihre jüngere Schwester Caterina Franziska sollte sie um 45 Jahre überleben.) Tatsächlich wurde das Talent der beiden Auenbrugger-Töchter früh entdeckt und entsprechend gefördert. Beide erhielten Kompositions- und Klavierstunden bei Joseph Haydn und Antonio Salieri – und damit bei exakt denselben Lehrern wie später Ludwig van Beethoven.
Haydn widmete beiden Augenbrugger-Töchtern einen Zyklus von sechs Klaviersonaten, aus denen diejenige in C-Dur heraussticht, weil sie durch ihre motivische und technische Einfachheit als bis heute beliebtes Übungsstück für fortgeschrittene Anfänger*innen gilt. Haydn schrieb seinem Verleger zu seinen sechs Sonaten am 20. März 1780: »Der beyfall deren Freilen [Fräuleins] v. Augenbrugger ist mir der allerwichtigste, indem Ihre spielarth und die Ächte einsicht in die Tonkunst denen grösten Meistern gleichkomt: Beede verdienten durch offentliche Blätter in ganz Europa beckant gemacht zu werden.«
Marianne Auenbrugger starb mit 23 Jahren am 25. August 1782 an Tuberkulose, einer Krankheit, die man sich Ende des 18. Jahrhunderts wohl noch durch Unterkühlung im Winter einhandelte. Mariannes Lehrer Salieri – dessen Trauzeuge Leopold Auenbrugger das Libretto zu seiner Oper Der Rauchfangkehrer beisteuerte – komponierte anlässlich des frühen Todes von Marianne die Trauer-Ode Deh sì piacevoli für Sopran und Klavier.
Marianne Auenbrugger (1759–1782)Sonate für Klavier Es-Dur, 3. Satz: Rondo. Allegro (1780)
Außerdem machte sich Salieri für die Publikation der einzig überlieferten Komposition von Marianne Auenbrugger stark. Mit 21 Jahren hatte sie 1780 eine Klaviersonate in Es-Dur zu Papier gebracht, die deutlich vom verspielten Klavierstil von Lehrer Haydn beeinflusst scheint. Ein wenig opernhafte Überraschungsdynamik hat Auenbrugger für die Rondo-Themendisposition des Finalsatzes eingebaut: Auf ein Piano im ersten Takt folgt ein lustiges Forte im zweiten Takt.
Zunächst scheint das Rondo-Thema nicht unbedingt geeignet, aus durchschnittlichen Klavierkompositionen im letzten Drittel des noch deutlich klassizistischen Musikjahrhunderts herauszustechen, zu formelhaft die Ideengebung, zu erwartbar kadenzierend der harmonische Themenblockaufbau. Überhaupt leiden viele Klavierkompositionsthemen unbekannterer oder mittelbekannter Komponist*innen dieser Zeit unter einer gewissen »Leierigkeit«, über die sich beispielsweise Beethoven in seinem Gassenhauer-Trio weise lustig macht, wenn er die nervtötende Ewig-Auftaktigkeit des von Joseph Weigl stammenden Themas kurz vor Schluss rhythmisch – genial und erhellend – umstülpt.
Angesichts des Rondo-Finales Auenbruggers sollte man allerdings keine vorschnellen Schlüsse ziehen und dieses feine Stück Musik als »mittelmäßig« zur Seite legen. Die anfängliche Harmlosigkeit wird bald durch fein-lustige Haydn-Nachdenklichkeitsvorhalte – wie beispielsweise in den Takten 70 und 71 – aufgerieben, während allerdings die rondotypischen Überleitungen den entsprechenden, fast anarchischen Originalitäten Haydns nicht beikommen. (Wie denn auch, wenn man mit 23 Jahren stirbt?)
Doch durch überraschende Variationspunktierungen und völlig gewagte Rondo-Wiederkehr-Ausritte gewinnt Auenbruggers Sonatenfinale eine ganz eigene Note. Wie viele Klaviersonaten hätte die Komponistin wohl geschrieben, wäre sie nicht so früh gestorben? Auenbruggers Anlagen jedenfalls waren äußerst vielversprechend; ihre mutigen Eingebungen und ihre frühe souveräne Beherrschung des kompositorischen Handwerks hätten sie vermutlich weit – und in alle musikalischen Lexika hinein – gebracht. ¶