250 Komponistinnen. Folge 5: Schorfiger Minimal-Grunge.

Text · Titelbild © Luca Vitali · Datum 20.11.2019

Von der norwegischen Komponistin und Cellistin Lene Grenager – vor fast genau 50 Jahren geboren – hatte ich bis zu der Arbeit an dem zum 8. März 2020 (Internationaler Weltfrauentag) im VAN Magazin erscheinenden Komponistin-O-Maten, durch den ich mich über ein halbes Jahr lang jeden Tag mit über 250 Komponistinnen beschäftigt und entsprechende Tabellen angelegt habe, noch nie etwas gehört. Weder bei den großen Neue-Musik-Festivals im deutschsprachigen Raum noch durch entsprechende Radiosendungen gelangte ihre besondere, reizvolle und äußerst hörenswerte Musik an mein Ohr.

1969 geboren studierte Grenager Cello, Komposition und Dirigieren in Oslo. Mit drei Kolleginnen gründet sie Mitte der Neunziger Jahre das Ensemble SPUNK und tritt damit international auf, so auch tatsächlich bei den bekannten Neue-Musik-Festivals in Donaueschingen, Oslo und Huddersfield. Über sich selbst schreibt Grenager, ihr Interesse bestehe darin, Musik zu notieren, um zu beobachten, zu erfahren und auszuloten, wie die musikalische Notation das Klangresultat und die Art der Realisation der Musiker*innen beeinflusst. Sie arbeite mit Musiker*innen aus ganz verschiedenen Genres zusammen – doch sei immer die genaue Bannung der Noten in eine Partitur ihr letztendlich angestrebtes Ziel: die Vereinbarung von Improvisation, von rein im Moment Geschehenem, von Studien, Übungen, Spontaneinfällen mit der langen Tradition der abendländischen Notationsgeschichte.

Aus der Mitte der Neunziger Jahre stammen dann auch die ersten Werke Grenagers, die sie offenbar als »offiziell« einstuft und entsprechend auflistet, so Stücke für Kammerorchester (Orlando sinfonietta von 1995 und Pendulum sinfonietta, 1995–96). Grenager scheint eine Künstlerin zu sein, die die Gemeinsamkeiten in der Ausübung von Musik sucht, die rein solistische Besetzungen eher umgeht, um in immer wieder ganz unterschiedlichen Kammermusikformationen Neuansätze zu wagen. Ihr Werkkatalog reiht eine höchst erstaunliche Vielzahl von extrem wandelbaren Kammermusiken auf, die gelegentlich um elektronische Komponenten ergänzt werden.

Mit SPUNK veröffentlichte Grenager eine Reihe von Studioaufnahmen und ist in diversen Konstellationen als Interpretin ihrer und anderer Musik international unterwegs. Dabei spielt sie selbst auch in Jazzorchestern und genreerweiternden Ensembles mit und tritt immer wieder als Dirigentin auf.

Lene Grenager (* 1969)Systema Naturae

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Ihr Werk Systema Naturae für Violine, Violoncello und Klavier wurde im Oktober 2007 uraufgeführt und 2013 mit der Nominierung für zwei norwegische Grammys bedacht. Der Titel Systema Naturae bezieht sich auf die gleichnamigen und ab 1735 erschienenen Bände des berühmten Botanikers Carl von Linné (1707–1778), in denen der Autor den ganzen Kosmos der Natur – Zoologie, Botanik, Geologie – großflächig zu beschreiben und nach Gattung, Art und so weiter zu klassifizieren sich anschickte. Sein damals schon in mehrere Sprachen übersetztes Werk ist nicht nur von historisch-lobenswerter Bedeutung: Die bis heute immer noch gültige, in der Grundstruktur zweigeteilte lateinische Schreibweise jeglicher bereits entdeckter Spezies geht auf Linné zurück. Aus unendlich langen und komplizierten Namen wie »Physalis amno ramosissime ramis angulosis glabris foliis dentoserratis« wurde beispielsweise – übersichtlicher, weil eben binär gegliedert – »Physalis angulata«. (Gemeint ist die häufigste Art der Physalis-Blasenkirsche, die uns auch diesen Herbst und Winter wieder viel Vitamin C schenken möge.)

Wie »funktioniert« nun das Systema Naturae – in Musik gesetzt von Lene Grenager? Mit einer kratschigen Geste im Cello und im Klavier grätscht das Werk gewaltvoll los. Im Klavier zirpt es dazu rhythmisch irritierend groovy in allerhöchsten Höhen. Aus diesem zunächst fast noch als »Hör-Chaos« wahrgenommenen Beginn erwächst schnell ein pulsierendes Geflecht, das jede Sekunde neue Überraschungen offenbart. Da geht es für Millisekunden in Richtung Minimal-Music, da fährt es den Hörer*innen demnächst knochig mit ein paar Cellotönen grob in die Parade: die ganze Vielfalt der Natur, in ihrer unfassbaren Lebendigkeit und Vielgestaltigkeit – noch ungeordnet, also vor Linné? Eine komponierte Ursuppe, in deren Substanz langsam eine Entität wie Gott sich selbst gebiert – und vorstrukturiert, erste unterbewusste Gedanken der Ordnung hegt?

Statt nun aus dem bereitliegenden, mannigfaltigen Material möglichst schnell und möglichst brav ein anbiederndes Stück zum füßlichen Mitwippen der eigentlichen Rock-Fans im Neue-Musik-Publikum zu konstruieren (Gott hat es sich bei der fucking Schöpfung schließlich auch nicht einfach gemacht!), bleibt die Struktur zunächst für dreieinhalb Minuten so eng gefügt wie zu Beginn. Ein atemloser Einstieg, der zwingt, der anspringt, der nicht loslässt – der aber auch nicht einfach nur schockieren oder uns stundenlang mit allerlei Metallmüll bewerfen will. Die ersten dreieinhalb Minuten des Werkes sind so dicht gearbeitet und trotzdem geradezu lustvoll-sparkling durchhörbar, dass man sich in einer Rezeptionshaltung der exakten – und dabei ganz und gar nicht lehrerhaft »vermittelnden« – Mitte von gehörig aufgerauter, schorfiger Minimal-Grunge-Music, hospitalistischer Impro-Performance, experimentellem Rockkonzert und Instrumentenzerstörungsavantgarde wiederfindet.

Nach dreieinhalb Minuten erfolgt dann der totale Bruch – und Geige und Cello ergehen sich in gehechelt-gesäuselten Ton(un)schönheiten, die in ihrer konkreten Sprachähnlichkeit frappieren. Ein fast zärtlicher Dialog von zwei Leuten, die sich gerade zuvor noch die Fresse einschlugen und sich jetzt mit blutigen Lippen küssen. Der Geschmack von Eisen auf der Zunge. Dann der Versuch der zusätzlichen Klavierbefriedung. Die Pastorin betritt den Raum. Huch. Mit eigentümlichen »Choralakkorden«, die keine sind, keine sein wollen.

250 Komponistinnen. Arno Lückers neue Serie in @vanmusik. Folge 5: Schorfiger Minimal-Grunge von Lene Grenager.

Keine andere, irgendwie diesbezüglich »als Vorbild dienliche« Komposition dringt (zumindest mir) als Erinnerung ins Gedächtnis, aber auch nicht die (manchmal schlechten) Erfahrungen der E-Musik-Improvisationsergüsse der Avantgardeszene. Lene Grenager komponiert offensichtlich eine dramaturgisch äußerst kluge, vor Ideen vielgestaltig blubbernde und dabei unfassbar erfahrenswerte Musik, die live gespielt von noch größerer Wirkung sein dürfte. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.