Kerstin Anja Thieme wurde bei der Geburt am 23. Juni 1909 im erzgebirgischen Niederschlema das männliche Geschlecht zugewiesen. Kerstins Vater war Papierfabrikant und im bildungsbürgerlichen Hause Thieme waren alle wirtschaftlichen Mittel für eine gute musikalische Früherziehung vorhanden.

Kerstin Thieme studierte nach dem Abitur in Aue ab 1929 zugleich Schulmusik und Komposition in Leipzig. Ihr Kompositionslehrer an der dortigen Musikhochschule Leipzig war der österreichische Komponist, Musiktheoretiker und Reger-Schüler Hermann Grabner (1886–1969), der sich schon 1928 – also aus völlig freien Stücken, ohne Not – dem »Antisemitischen Kampfbund für deutsche Kultur« angeschlossen hatte und später im Beirat der Reichsmusikkammer seine völkische, absolut karrieristische und kritikfreie »Arbeit« verrichtete. Eine nationalsozialistische Musiker-Laufbahn, die 1950 zu einer kleinlauten Entnazifierung führte.

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1934 legte Thieme ihre musikgeschichtliche Doktorarbeit mit dem Titel Der Klangstil des Mozartorchesters. Ein Beitrag zur Instrumentations-Geschichte des 18. Jahrhunderts vor. Im selben Jahr kam es im Leipziger Gewandhaus zur Uraufführung von Thiemes Orchesterwerk Variationen über ein Thema von Hindemith für großes Orchester. Dieses Konzert wurde offenbar nicht mitgeschnitten. Auch später scheint das Werk – sicherlich ein spannendes Zeugnis der intensiven Hindemith-Rezeption der frühen 1930er Jahre – nie wieder prominent aufgeführt worden zu sein. 1937 erfolgte die Heirat mit Grete Hedler (1910–2001), 1941 wurde Tochter Juliane geboren.

Nach ersten Lehrtätigkeiten musste Kerstin Thieme – damals noch unter dem Namen Karl Thieme – als Soldat im Zweiten Weltkrieg kämpfen. Nach kurzer Kriegsgefangenschaft in Italien setzte Thieme ihre Arbeit als Referentin beim Leipziger Rundfunk fort und siedelte 1948 nach Nürnberg über. Hier wurde sie ab 1956 Dozentin am Konservatorium und schließlich zwischen 1960 bis 1974 Musikdozentin an der Fakultät Erziehungswissenschaften der Universität Erlangen-Nürnberg.

In seinem Artikel über Kerstin Thieme schreibt Niko Firnkes: »Kerstin/Karl Thieme unterzog sich zwischen 1974 bis 1976 am Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf (UKE) einer hormonellen und chirurgischen Behandlung (sog. »kleine Lösung«), um die seit früher Kindheit als falsch empfundene männliche Geschlechtsidentität abzulegen. Er/sie nannte sich von da an Kerstin Anja Thieme. Nach Aussage seiner/ihrer Tochter Juliane Ernst beurteilte er/sie diese Behandlung im Nachhinein später kritisch und hielt sie für problematisch für seine/ihre psychische Verfassung.«

Schon jene Formulierungen in diesem immerhin 2017 entstandenen Artikel zeigen, wie verkrampft und nach Worten ringend das Thema Transidentität in der lange Zeit cis-männlich betonten historischen Musikwissenschaft – wenn überhaupt – verhandelt wird. Bis heute beispielsweise heißt es in Thiemes deutschem Wikipedia-Artikel, die Komponistin hätte »als Frau« gelebt. Richtig wäre einfach: »Kerstin Thieme war eine Frau.«)

Kerstin Thieme lebte bis zu ihrem Tod mit ihrer Ehefrau zusammen. Sie starb am 26. November 2001 im Alter von 92 Jahren in Stuttgart.

Kerstin Thieme (1909–2001)
Sogni. Konzert für Streicher (1992)

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In dem Werkverzeichnis von Kerstin Thieme finden sich vor allem zahlreiche Chor-Kompositionen (mit und ohne Orchester). Ihr (angeblich als Mitschnitt beim Bayerischen Rundfunk aufzufindendes) Requiem wurde 1998 in Thiemes neuer Heimatstadt Nürnberg mit den Nürnberger Symphonikern unter der Leitung von Wolfgang Riedelbauch – mit Marlies Petersen als Solo-Sopranistin – uraufgeführt.

Sechs Jahre zuvor komponierte Thieme Sogni, ein Konzert für Streicher. Mit einer perkussiven Pizzicato-Aktion gerät man in die Klangwelt dieses Stücks hinein. Gewisse Streicher unternehmen den Versuch einer »Melodiebildung«. Störkräfte sägen diese (menschlichen?) Ambitionen jedoch in die Ecke. Solo-Violinpassagen vereisen völlig. Tiefere Streicher rappeln sich auf, dem Erfrieren zu entgehen. Ein Tremolo als Übergang in eine kurze Passage aus Eis…

Alle paar Sekunden ändern sich Stimmungen und gruppierende Motive. Nach eineinhalb Minuten jedoch bildet sich ein Ostinato im Bass heraus, über dem sich höhere Streicher gewaltig in die Wolle kriegen. Dissonant, modern, komplex – und erzählerisch absolut spannend. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.