250 Komponistinnen. Folge 57: Tonale Versatzstücke, neoklassizistisch angehaucht.
Judith Weir wurde als Kind einer schottischen Familie am 11. Mai 1954 in der englischen Universitätsstadt Cambridge geboren, verbrachte aber, wie sie selbst betont, ihre Kindheit und Jugend in London. Weir erlernte das Spiel auf der Oboe und trat mit dem National Youth Orchestra of Great Britain als Solistin auf. Wer mit dem nationalen Jugendorchester ihres/seines Landes ein Solo-Konzert spielen darf, die/der wird es zu einem gewissen Können gebracht haben, das – erwartungsgemäß – den natürlichen Wunsch mit sich bringt, die Fähigkeiten an dem entsprechenden Instrument im Rahmen eines künstlerischen Instrumentalstudiums an einer Hochschule professionell zu entwickeln. Doch der Oboe schenkte Judith Weir offensichtlich nicht mehr sehr lange ihre Hauptaufmerksamkeit.
Stattdessen nahm sie bereits zu Schulzeiten Kompositionsstunden bei dem 2013 verstorbenen Komponisten John Tavener. Tavener (Jahrgang 1944) bildete zusammen mit dem fast gleichaltrigen John Rutter (*1945) gewissermaßen eine Art – nicht selbsternannte – sakrale Anti-Avantgarde; die Kirchenmusik der beiden in London geborenen Komponisten eroberte die gesamte christliche Kirchenmusikwelt; aus einem Land heraus, das sich – vorsichtig ausgedrückt – niemals als Geburtsstätte allzu vieler bedeutender Musik-Avantgardist:innen verstand beziehungsweise einen entsprechenden Ruf genoss. Hier ist bis heute eine andere Ästhetik verbreitet, die Tonalität, (chorische) Singbarkeit und Musikant:innentum hochhält.
Ihr reguläres Kompositionsstudium nahm Judith Weir an der Cambridge University bei Robin Holloway (*1943) auf, der – etwas weniger bekannt als seine fast gleichaltrigen Kollegen Tavener und Rutter – die zwar immer gleichfalls tonal verortete, doch motivisch-verschnörkelt unterhaltsamste und interessanteste E-Musik dieser Insel-Phalanx komponiert.
Nach ihrem Studium – ergänzt durch die Teilnahme an der Summer School in Tanglewood und dortigem Unterricht bei der Avantgarde-Musik komponierenden Jazz-Berühmtheit Gunther Schuller (1925–2015) – arbeitete Weir offensichtlich zunächst im Schuldienst beziehungsweise in der Erwachsenenbildung im ländlichen Südengland und anschließend in Glasgow. Das Komponieren gab sie dabei nie auf, sondern legte bald eine ganze Reihe von Musiktheaterwerken vor, wie ihre Opern The Black Spider (1985; 2009 entstand für die Hamburgische Staatsoper eine überarbeitete Version) oder Blond Eckbert (1994) bezeugen. Ihre jüngste Oper – Miss Fortune – schafft es 2012 gar ans Royal Opera House Covent Garden in London, wo sie aktuell wieder lebt, für viele Festivals, Konzert- und Opernhäuser weltweit komponiert und immer wieder mit Preisen ausgezeichnet wird. Schon seit 1995 trägt Weir den königlichen Ehrentitel »Commander of the Order of the British Empire (CBE)«.
Judith Weir (*1954)Airs from Another Planet (1986) für Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, Horn und Klavier
Weirs Fokus liegt klar erkennbar auf dem Genre »Musiktheater«. Elf Werke dieser Gattung komponierte sie bisher, hinzu kommen Kammermusik- sowie vor allem Orchesterwerke (teilweise mit gemischten Chor beziehungsweise Kinderchor). Eines ihrer eher wenigen Kammermusikwerke – Weir ist, wiewohl keineswegs Mangel an Aufträgen besteht, keine Vielschreiberin – trägt den musikgeschichtsreferentiellen Titel Airs from Another Planet. (Arnold Schönberg setzte 1907/08 die Worte »Ich fühle Luft von anderem Planeten« – entnommen dem Gedicht Entrückung von Stefan George – als Motto über den vierten Satz seines visionären Streichquartetts fis-Moll op. 10.)
Mit zersprengten Einzelmomenten aller Instrumente zischt das Werk – aufregend, aber irgendwie auch zurückgelehnt – ins Haus. Neoklassizistisch angehaucht leuchten durchweg tonale Versatzstücke heraus. Auf verstörende Dissonanz-Schocker ist die Komponistin nicht erpicht, wenngleich »schiefe« Ton-Geschehnisse genussvoll zelebriert werden. Nach etwas mehr als einer Minute – bisher hatte sich kaum ein zusammenhängendes Motiv herausschälen können – ergibt sich ein durchgehender Puls-Teppich, aus dem so etwas wie kleinschrittige Thematik herauszuhören ist; alles ganz fröhlich und mit schalkhaften Momenten; doch die Augenbrauen des Clowns schnellen hoch: Die Musik stoppt; die lustige Zerrissenheit ist wieder da!
Farbenfroh klingelt es jetzt hier und da; meist bleibt vorerst das Klavier mit witzigen Zitterpartien übrig; darüber staccatieren sich die Holzbläser den Wolf. Nach nicht ganz drei Minuten kommt es hörbar zu einer Art »zweiten Satz«; langsame, ehrerbietende Leitgedanken werden formuliert. Die Potentiale allzu großer Gemütlichkeiten des gelassenen Klagens werden nach knapp vier Minuten durch die Wiederaufnahme der »zerpflückten« Passagen unterminiert; die Musik erscheint jetzt allerdings erdiger, gesetzter, reifer – als ob die spaßigen Gesten des Anfangs wie in einem Film durch die Untertitel-Einblendung »two years later« umgewandelt, geläutert erscheinen.
Virtuose, intelligent clowneske Spielmusik. Lustvoll zu musizieren, angenehm zu hören – und dabei keineswegs nur »brav«. ¶