Als ich zum ersten Mal die Musik von Jeanne Beijerman-Walraven hörte, stiegen in mir Begeisterung und gleichzeitig Wut hoch. Erstens, weil die Musik von großer Wucht und Schönheit ist. Zweitens, weil ich selbstsicher die Musik stilistisch zu kategorisieren geglaubt hatte – und dann richtig (und völlig adäquat) einen in die Fresse bekam. Und drittens, weil es noch nicht einmal einen deutschen Wikipedia-Artikel über die Komponistin gibt – und ich auf der ultrakurzen englischen Seite lesen musste, dass die Musik dieser äußerst aufregenden Künstlerin seit 1920 quasi nicht mehr gespielt wird. Auch in Nachschlagewerken aus Papier findet man nur wenig mehr über Jeanne Beijerman-Walraven. Das kann einfach nicht sein.
Die Niederländerin wurde 1878 in Indonesien – damals eine niederländische Kolonie – geboren und erhielt von ihrer Mutter erste Unterweisungen am Klavier. Später studierte sie bei Frits Koeberg Komposition in Den Haag. Keine »großen Namen«. Viel mehr als ihre Lebensdaten – sie starb mit 91 Jahren am 20. September 1969 in Arnheim – ist nicht bekannt. Nur einige Worte über ihre kompositionsstilistische Entwicklung – immer mit dem (oder spinne ich?) latenten Unterton einer epigonalen Anbiederung – sind zu lesen; sie habe sich stilistisch von der Spätromantik zur Atonalität hin entwickelt und sei von Stockhausen, Nono und anderen beeinflusst worden. Beijerman-Walraven habe überdies eine Vorliebe für niederländische und französische Dichtkunst gehabt und dementsprechende poetische Werke als Anlässe oder programmatische Hintergründe ihrer Musik kompositorisch rezipiert. Nun gut. Hören wir in die Concert-Overture aus dem Jahr 1910 hinein.
Jeanne Beijerman-Walraven (1878–1969)
Concert-Overture
Zunächst ist die Bruckner- und Wagner-Begeisterung Beijerman-Walravens tatsächlich unüberhörbar. Doch hat die zum Zeitpunkt der Niederschrift 32-jährige Komponistin hier lediglich eine als »respektable Stilkopie« zu vernachlässigende Epigonalmusik zu Papier gebracht?
Tiefe Bläser lungern aus der Lavaasche spätromantischer Götterdämmerungsverzweiflungsmusiken heraus. Im Gegensatz zu Bruckners neunter Symphonie (1903 uraufgeführt) ruht das d-Moll-Grundbett dieses symphonischen Werkes jedoch nicht (selbstzufrieden-schicksalsgläubig?) in sich, im Sinne eines »Lasst uns erstmal beginnen! Dann schauen wir weiter.« Das instrumental-motivische Gefüge drängt bereits aus sich selbst heraus; null Selbstzufriedenheit! Kein Epigoninnentum, sondern eine deutlich vernehmbare eigene Sprache, die auf Drastik, auf Höraufmerksamkeit, auf Ausdruck hin ihre Strukturen frei in den Raum fließen lässt.
Nach etwa einer Minute versammeln sich dräuend-erdenschwere Blechbläser zu einem für meine Ohren völlig überraschenden Quasi-Choral-Moment im Saal. Nichts ging dem voraus! Wie spannend! Sicher kennt diese Musik Bruckners Vierte und Siebte – und auch der Wagnersche Siegfried-Trauermarsch mag in die Concert-Overture Beijerman-Walravens als Hörerinnerung miteingedrungen sein. Von Epigoninnenmusik ist dieses Werk trotzdem meilenweit entfernt.
Nach etwa dreißig weiteren Sekunden: Die glühend-packende Dur-Erleuchtung, die über das spröde Moll kommt wie eine hochwillkommene Epiphanie. Noch einmal der kurze Ausbruch. Jederzeit ist man als Hörer*in der Gefahr ausgesetzt, dramatisch aufge- oder gleichsam auferweckt zu werden. Da schon die nächste Bündelung orchestraler Dramen. Hier entwickeln sich Themenränder im leisen Miteinander, doch werden diese nie zu einem brucknerschen Teppich des Gleichmuts, des Übergangs mit Zaunpfählen. Es gibt keine Gewissheit! Gott ist tot. Oder so.
Immer scheint Beijerman-Walraven weiterzuentwickeln; kein Motiv pendelt sich dabei in demütiger Zurückgenommenheit allzu symphonisch-gesetzt ein; stets der Ausbruch! Herrlichste Choral-Eroberungen dröhnen in den Saal. Das will ich hören! Das ist großartig!
Auf gute Weise nimmt Beijerman-Walraven die Hörer*innen motivisch-thematisch an die Hand. Da ist es auch durchaus nur mal eine kleine Terz, die nach – wirklichem? – Abschluss einer Phrase uns weiter entgegenpendelt. Instrumentatorisch raffiniert platzt den Trompeten bald fast der Kragen; darunter irritieren Kontrabässe im Verbund mit der Tuba. Ausbrüche über Ausbrüche.
In herrlichster Sprödigkeit finden sich dann tiefe Nerd-Instrumente wie Bratschen und anderes Gedöns in einer bräunlich-grauen Suppigkeit zusammen und melden nun endlich expressive Zweifel an der ganzen Herrlichkeit an. Doch da fährt eine völlig unvorhergesehene Pauke erneut in die Parade, gefolgt von einem metallischen Tamtam-Schlag allererster Güterzüge.
Das Schlechteste, was man über Beijerman-Walraven je sagen sollen dürfte, wäre, hier die perfekte – elektrisierende – Vereinbarung von Mahler und Bruckners Symphonik zu konstatieren. Doch Beijerman-Walraven ist ab jetzt schlichtweg Beijerman-Walraven und möge größtmöglich wiederentdeckt werden. ¶