Hanna Kulenty wurde am 18. März 1961 in Białystok geboren – nahe der östlichen Grenze Polens, zwischen Warschau und Minsk. Die heute knapp 300.000 Einwohner*innen zählenden Stadt galt lange Zeit als bedeutendes Zentrum jüdischen Lebens. Mehr als 60 Prozent der Stadtbevölkerung gehörten der gewachsenen jüdischen Community an. Ende Juni 1941 brannten die Nationalsozialisten die große Synagoge von Białystok nieder – und zwischen 43.000 und 60.000 Einwohner*innen wurden in die Vernichtungslager Treblinka und Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Nach Kulentys Schulzeit in Warschau – sie besuchte die Musikgrundschule »Grażyna Bacewicz« und das Musikgymnasium »Karol Szymanowski« mit dem Hauptfach Klavier – studierte die Frühbegabte von 1980 bis 1985 an der Warschauer Musikhochschule Komposition bei Włodzimierz Kotoński (1925–2014) sowie von 1986 bis 1988 am Königlichen Konservatorium in Den Haag bei Louis Andriessen (*1939), dem einflussreichen Minimal-Music-Vorreiter der Niederlande.
1984 und 1988 nahm Kulenty an den – für eine Laufbahn innerhalb der kleinen Szene der Neuen Musik damals fast unumgänglichen – Darmstädter Ferienkursen und von 1983 bis 1990 an den Internationalen Kursen für junge Komponisten der polnischen Sektion der IGNM in Kazimierz Dolny teil, wo sie Vorträge von Iannis Xenakis, Witold Lutosławski und François-Bernard Mâche besuchte. Kulenty gewann zahlreiche Kompositionspreise, erhielt Stipendien – und ist freischaffend tätig. Seit 1992 lebt und arbeitet die heute 59-Jährige abwechselnd im niederländischen Arnheim und in Warschau.
Hanna Kulenty (* 1961)Concerto Rosso (2017) für Streichquartett und Orchester
Auf ihrer Webseite zählt die Komponistin Werke äußerst mannigfaltiger Provenienz auf. Für das Jahr 1984 ist dort neben ihrem ersten Streichquartett ein Stück mit dem Interesse weckenden Titel Prośba o Słońce [Request for the Sun] für Audio-Zuspielung sowie ein Werk (Three Minutes for the Double Bass) für Kontrabass verzeichnet. Auch in den Folgejahren wechseln sich in ihrem Katalog Kammermusikwerke mit Orchesterstücken ab – immer wieder bereichert durch Auftragskompositionen für die große und für die kleine Opern- oder Tanzbühne. Kulentys Werktitel klingen dabei meist humorvoll-lakonisch (Kisses & Crosses für Klavier und Schlagzeug, 2007, G for G für Cembalo solo, 2009 oder VAN… für Klavier zu vier Händen oder zwei Klaviere, 2014) oder bezeichnen schlichtweg das, was drinsteckt: Bei Kulenty heißen Klavierkonzerte noch Klavierkonzerte – und Symphonien, von denen die Komponistin bisher drei Stück vorgelegt hat, Symphonien. What you read is what you hear.
Auch Kulentys Concerto Rosso für Streichquartett und Orchester aus dem Jahre 2017 spielt augenzwinkernd mit den überkommenen Formen der Musikgeschichte – hier: an das barocke Concerto Grosso erinnernd, bei dem ein*e Solist*in oder mehrere Solist*innen einer weiteren Gruppe von Musiker*innen gegenüberstehen, um sich in einem instrumentalen »Wettstreit« virtuos-verspielt die (motivischen) Bälle hin- und herzuwerfen.
Kulenty schreibt selbst: »Mein Concerto Rosso ist eine Art Concerto Grosso, weil es für ein Streichquartett plus Orchester komponiert wurde, genauer: für das Atom String Quartet und das Leopoldinum String Orchestra. Den besagten Titel wählte ich ganz bewusst. Er spiegelt im Grunde meine Erfahrungen mit einem Kompositionsstil wider, den ich für mich in den letzten Jahren entwickelt habe: ›musique surrealistique‹. Dieser Stil versucht, alle Emotionen, die ich mit Musik verbinde, zu ›transformieren‹. Das ist wie ein gutes Glas Rotwein zu trinken: Danach fühlst du dich verändert oder sogar ein bisschen transformiert… Oder?«
Das Concerto Rosso beginnt wie ein vielversprechender Track im Club. Die Minimal-Einflüsse von Kulentys Lehrer Andriessen – der rhythmische Drive, der Patternteppich, die durchgehende (ganz undarmstädtische) Bewegung – sind vermeintlich zu spüren. Mini-Motiv-Muster purzeln gleich im Dauer-Staccato puzzleartig in- und aufeinander ein – im Hintergrund durchzogen von einer breitgewandet-gechillten Streicherfläche.
Sehr lustig düsen einige Streicher nach knapp einer Minute stufenlos glissandierend nach unten und wieder nach oben, das rhythmisch-harmonische Gerüst lustvoll-verzahnt unterstützend – eines Rocksong-Riffs ähnlich. Die Motive werden temporär aufsässig, geraten in den Vordergrund – und ziehen sich wieder zurück. Kulentys Minimal-Geflecht versucht dabei Gott sei Dank nicht, Schöngeistigkeit vorzugähnen. Diese Musik verändert sich schnell, klug – und angenehm hörevident. Da grätschen nach zweieinhalb Minuten die einen Streicher*innen in die anderen Streicher*innen hinein; Gelbe Karte. Sehr interessante, witzige, erkenntnisreiche Musik – Spaß, ohne schlechtes Gewissen. ¶