Ende Juli 1914 hatte mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien der Erste Weltkrieg begonnen. Am 2. November 1914 erklärte dann Russland dem Osmanischen Reich den Krieg, gleichzeitig deklarierte Großbritannien die Nordsee – nach der Versenkung mehrerer ihrer Kreuzer – zum Sperrgebiet.

Am selben Tag – am 2. November 1914 – wurde der US-amerikanische Schriftsteller Dale Wasserman geboren, der 2008 in Arizona starb und durch seine Beisteuerung der Texte zu dem Musical Der Mann von La Mancha (1965) und der Erstellung der Bühnenfassung von Ken Keseys Einer flog über das Kuckucksnest (1963) bekannt wurde. Wiederum am selben Tag erblickte auch Felicitas Cohnheim, die später nach ihrer Heirat 1939 den Namen Kukuck trug, in Hamburg das in angstvolles Grau getauchte »Licht« der damaligen Welt. Die ersten drei Lebensjahrzehnte von Felicitas Cohnheim waren ganz und gar nicht von unbeschwerter Fröhlichkeit erfüllt.

Cohnheim galt im Nationalsozialismus als »Vierteljüdin« und musste aus diesem Grund die reformpädagogische Lichtwarkschule in Hamburg-Winterhude verlassen, um auf ein Internat der Insel Juist geschickt zu werden. Vater Otto – er änderte den Familiennamen 1916 in »Kestner« – war Arzt und gelangte durch die Erstbeschreibung der Verdauungsenzyme Trypsin und Erepsin zu Ruhm. Beide Elternteile unterstützten die musikalischen Talente ihrer Tochter früh und mit großer Motivation. In dem musisch ausgerichteten Internat auf Juist erhielt die junge Felicitas kompetenten Unterricht – unter anderem bei Eduard Zuckmayer (1890–1972), dem jüngeren Bruder von Carl Zuckmayer (Der Hauptmann von Köpenick).

Felicitas wechselte an die Odenwaldschule, die in unseren Tagen durch die Aufdeckung zahlreicher Fälle von sexuellem Missbrauch diverser Lehrkräfte an Schüler*innen in die Schlagzeilen geriet. Dort machte Felicitas das Abitur; auch ihr Lieblingslehrer Zuckmayer unterrichtete inzwischen an der Odenwaldschule, floh aber – von den Nazis als »Halbjude« diffamiert – 1935 in die Türkei. Zuckmayer folgte damit dem als »entartet« etikettierten Exilanten Paul Hindemith, der in Ankara ein Musikkonservatorium aufzubauen sich anschickte. Zuckmayer wurde an dessen Lehranstalt Leiter des dortigen Schulorchesters, des Madrigalchores und zugleich Hindemiths Stellvertreter.

Vor Hindemiths Weggang aus Berlin konnte Felicitas Kestner noch bei ihm Komposition studieren, hinzu kamen die Fächer Klavier und Querflöte. Durch ihre Heirat mit Dietrich Kukuck entzog sich Felicitas im Jahre 1939 der direkten Möglichkeit einer Identifizierbarkeit als »Vierteljüdin« – und verbrachte die Kriegszeit bis 1945 in Berlin; allerdings ohne die Chance, ihre Werke einer größeren Öffentlichkeit vorstellen zu können.

Felicitas flüchtete 1945 nach Hamburg, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahre 2001 lebte – und wo seit 2016 eine Straße in Altona ihren Namen trägt. Kukuck wurde 86 Jahre alt und hatte vier Kinder.

Felicitas Kukuck (1914–2001)Variationen über »Es ist ein Schnitter, heißt der Tod« für Klavier (1942)

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Angeblich komponierte Felicitas Kukuck über 1.000 Werke: Instrumentales sowie geistliche und weltliche Vokalmusik. 1953 wurde Kukucks erstes Oratorium Das kommende Reich. Die Seligpreisungen beim 5. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Hamburg uraufgeführt. »Musik für einen evangelischen Kirchentag«: Das heißt heute, voller Sorge um jegliche musikalische Qualitäten zu fürchten. Doch schauen wir auf Kukucks Variationen für Klavier über das deutsche Volkslied aus dem 17. Jahrhundert: Es ist ein Schnitter, heißt der Tod.

In dem Text, der selbstverständlich Eingang in die Volksliedtextsammlung Des Knaben Wunderhorn fand, ist die Rede vom Tod, der immer lauert – und vor dem man sich stets hüten möge. Das schöne »Heute« wird kontrastiert durch die dauernde Bedrohung des Menschenendes. Wie in dem Text vom Heidenröslein wird auch hier der Mensch als Blume symbolhaft ins Bild gesetzt; alle möglichen Pflanzen werden im Verlaufe des Originalgedichts aufgezählt, um das Ganze trotzig und optimistisch-fatalistisch ins helle Licht zu rücken: »Trotz! Tod, komm her, ich fürcht‘ dich nicht. Trotz, eil‘ daher in einem Schnitt. Werd‘ ich nur verletzet, so werd‘ ich versetzet in den himmlischen Garten, auf den alle wir warten. Freu dich du schöns Blümelein.«

Altertümlich anmutend setzt Kukuck das Thema schlicht in die Tasten. Die erste Variation ist eine demütige Würdigung des ernsten Volksliedes voller hohler Molltöne. Die zweite Variation dreht dann schön stampfend auf; fast Orff-artig wird hier ein »Früher« beschworen – im Zusammengeschmeide mit romantischen Klaviertechniken. Variation III gibt sich dann wieder ganz still und in sich gekehrt. Das sind schöne Variationen ohne viel Aufhebens. Kukucks Hindemith lugt schlummernd hervor – und seine einstige Schülerin grüßt ihn als Zaunköniginnengast mit melancholischem Wink. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.