Elsa Barraine wurde am 13. Februar 1910 in Paris geboren. Elsas Mutter war Klavierlehrerin und Chorsängerin. Ihr Vater – jüdischer Herkunft – spielte Cello im Orchester der Opéra de Paris. Im Hause Barraine war fast täglich Musik zu hören, denn auch Elsas 14 Jahre ältere Schwester Agnès war der Musik zugetan. Elsa bekam Klavierstunden von ihrer Mutter – und Schwester Agnès sorgte für Musiktheoriekompetenzen. Bereits mit neun Jahren studierte Elsa am Pariser Konservatorium. Ihre Kindheit wurde von musikalischem Unterricht so geprägt, dass sie später zu Protokoll gab, darunter habe ihre allgemeine Bildung gelitten. Am Konservatorium studierte sie Komposition bei Paul Dukas – einem Komponisten, den mit seiner virtuosen Orchesterballade Der Zauberlehrling das Schicksal singulärer Werkberühmtheit ereilte.

Neunzehnjährig gewann Barraine mit ihrer Jeanne-d’Arc-Kantate La vierge guerrière den begehrten Prix de Rome, einem mit Stipendienaufenthalt in Rom verbundenen Preis, der selbst Maurice Ravel verwehrt blieb. Barraine war zu diesem Zeitpunkt erst – aber immerhin schon – die vierte Frau, die den Rompreis gewinnen konnte. 1930 ging es für Elsa und ihre begleitende Mutter also ins frauenfeindliche und faschistische Rom Mussolinis. Immer wieder kehrte die heimwehgeplagte Barraine zwischendurch zurück nach Paris, bildete sich selbst in der schwierigen Zeit in Rom außermusikalisch fort – und schrieb die Oper Le Roi bossu, die 1932 an der Pariser Opéra-Comique uraufgeführt wurde.

Nach dem dreijährigen Aufenthalt in Italien entstand 1933 die kurze symphonische Dichtung Progromes, von der es tatsächlich keine Aufnahme gibt. Außerdem komponierte Barraine, die anlässlich der Machtergreifung Hitlers 1933 Mitglied der Parti communiste français wurde, ein Klavierquartett, eine Motette und eine Fantasie für Klavier und Orchester. Nach dem Abschluss ihrer Studien arbeitete sie als Korrepetitorin, Leiterin und gar als Tontechnikerin eines Ensembles, das sich schnell als Radio-Ensemble etabliert hatte. Nach Kriegsausbruch 1939 floh das Orchester aus Paris nach Rennes. In dieser Zeit engagierte sich Barraine als äußerst umtriebige Widerstandskämpferin; hier wird sie auch die bereits an dieser Stelle porträtierte Rosy Wertheim kennengelernt haben. Barraine verfasste Kampftexte gegen die »rückschrittliche deutsche Musik«, die von den Nazis proklamiert wurde. Mehrere Male wurde sie dafür von den deutschen Besatzern interniert, doch aus nicht näher bekannten Gründen auch meist umgehend wieder freigelassen.

Über die Nachkriegslaufbahn Barraines ist erstaunlich wenig bekannt. Getrieben von Energie, Arbeitseifer und entfesselter Kreativität komponierte sie – auch weiterhin politische – Werke für Orchester, Film und Ballett – und veröffentlichte zahlreiche politische Essays. 1953 wurde Barraine Professorin für Analyse und Partiturspiel am Pariser Konservatorium – und unterrichtete dort fast zwanzig Jahre lang.

An berufenerer Stelle – einige Informationen wurden ins Deutsche übersetzt aus dem entsprechenden Artikel übernommen – heißt es über Barraine: »Elsa Barraine brachte ihre zerstörte Welt in ihre Kunst hinein – und ihre Kunst in die zerstörte Welt.«

Elsa Barraine (1910–1999)Symphonie Nr. 2 (1938)

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1938 – als die politische Lage für Barraine als französische Halbjüdin immer gefährlicher wurde – schrieb sie ihre zweite Symphonie. Ähnlich wie bei Schostakowitschs Symphonien geht es dort um die Musikwerdung von Furcht und Entschlossenheit, um Gewalt und Sarkasmus. »Voina« – russisch für »Krieg« – nannte Barraine ihre Symphonie im Untertitel.

Das gerade einmal 16-minütige Werk beginnt (Allegro vivace) mit dominierenden Flöten, die ganz langsam den Raum erkunden; als wiege man sich hier richtig genüsslich in seinem Home-is-my-Castle-Zuhause ein. Doch nein. Da bricht es orchestral kreischig heraus: »Diese Heimeligkeit ist absolut unangebracht!« Ohne Vertun geht es in sehr schnell komplexe symphonische Vorgänge hinein. Man kann kaum mithören, so schnell wechseln Instrumentation, Stimmung und Motivik. Spinnt sich hier irgendetwas zusammen?

Nach fast zwei Minuten ertönt ein Marschmotiv, das selbstredend an Schostakowitsch erinnert. Die Militärtrommel hat bereits vorher schon stramm gegrüßt. Doch da ist auch schon wieder die fast pastorale Atmosphäre der Flöten, die jetzt etwas länger beibehalten und von einer Solo-Violine schnell ans Ende ihrer Phrase – genauer: ans Ende ihrer Kräfte – gebracht wird. Gefährlich huschende Gleiß-Geigen putschen die Symphonik wissend gegen den eisernen Vorhang des Stumpfsinns – und gehen in einem völlig verkümmerten Streicherberg voller Schutt auf. Pianissimo. Äußerst ungewöhnliche Musik, ungreifbar – und in ihrem ganzen »Farbenfrohsinn« unfassbar traurig. Hier ist eine Person so zerstört, dass man sie kaum in den Arm zu nehmen traut.

Alles, was sich hier entwickelt, wird erdrückt, geschlagen, ins Lächerliche gezogen. Nichts breitet sich aus, darf länger leben als ein paar Augenblicke. Alles vergurgelt sich im Orkus unzufriedener Gedankengänge. Entmannte Durchhaltelieder wollen durchs Dickicht des Trübsinns hindurch – doch da macht sich der eigene Marsch auch schon wieder über sich selbst lustig. »Nimm das, Militärmusik!«

Selten hat man derart extreme Musik aus dieser Zeit gehört. Menschlich wie musikalisch schwer erträglich. Und darum unerhört hörenswert. Ein Werk, das den Symphonien Schostakowitschs intellektuell komplett überlegen ist – und in ein viel kritischeres Horn bläst als es der russische Kollege vermochte. ¶

Arno Lücker

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.