Jessie Marino im Interview.

Text · Titelbild © Kristof Lemp · Datum 6.11.2019

Jessie Marino lacht viel. Das merkt man sofort, ganz egal, ob man sie als Performerin auf der Bühne sieht oder einen Tee mit ihr trinkt. Bei unserem Treffen in einem Café mit angrenzendem Co-Working Space im Berliner Park am Gleisdreieck entschuldigt sich die amerikanische Komponistin erst einmal, dass ihr »Kaffeedeutsch von vor zehn Jahren« noch nicht für ein Interview ausreicht.

VAN: Diesen Sommer bist du nach Berlin gezogen nachdem du lange in New York, San Diego und Rom gelebt hast. Wie gefällt es dir hier?

Jessie Marino: Ich bin sehr froh wieder hier zu sein. Die Stadt hat mich schon bei meinem ersten langen Aufenthalt vor knapp zehn Jahren sehr geprägt, und nun bin ich zurück und habe das Gefühl, mich in kürzester Zeit eingefunden zu haben. Es fühlt sich an, als wäre Berlin auf einem Höhepunkt der Aktivität. Es gibt so viele Möglichkeiten einfach herzukommen und Projekte zu realisieren. New York ist da anders, die Musiklandschaft ist dort richtig übersättigt, es gibt viel zu wenig Platz für neue Ideen und neue Menschen, oder ganz physisch – für Probenräume. Hier hingegen habe ich nach kurzer Zeit gleich das Angebot bekommen, eine ganze Konzertserie zu planen. Ich dachte erst, es sei ein Witz, als David Walker vom KM28 in Neukölln, das mittlerweile zu meinem zweiten Wohnzimmer geworden ist, mich und meine Freundin Jessica Aszodi dafür anfragte. Aber dann ging es ganz schnell und nun machen wir dort sechs Shows, die hauptsächlich auf Performance basieren und den Körper als Instrument nutzen. Vielleicht wird es sogar auch ein wenig Musik geben. [lacht]

Foto © Marc Perlish
Foto © Marc Perlish

Das Thema Körperlichkeit spielt in vielen deiner Stücke und Performances eine Rolle. Wie kamst du dazu, dich so darauf zu fokussieren?

Das fing tatsächlich schon früh an. Im Sommer 2000 waren einige meiner Freund*innen bei den Darmstädter Ferienkursen und erzählten mir hinterher ganz aufgeregt von einem Komponisten, von dem wir in New York nichts gehört hatten und der mit seinen Instrumenten ›crazy shit‹ anstellte. Das war Helmut Lachenmann. In meinem Studium hatte ich mich viel mit John Cage beschäftigt und kannte diese Art zu komponieren gar nicht. Als ich dann selbst anfing Lachenmann zu spielen, Pression für Cello, hatte ich eine regelrechte Eingebung: Es war wie eine Choreographie, ich fühlte mich gar nicht mehr wie eine Cellistin, sondern wie eine Tänzerin. Lachenmanns Stücke zu lernen, war für mich weniger eine musikalische als eine körperliche Erfahrung. Das hat mich sehr geprägt! Dank Lachenmann wurde mir plötzlich klar, dass es auch möglich ist, für Körper zu komponieren.

Bist du deswegen damals nach Deutschland gezogen?

Ja genau, damals hatte ich gerade meinen Abschluss als Cellistin an der Musikhochschule in New York absolviert und noch gar nicht viel komponiert, sondern erstmal ziemlich viel zeitgenössische Musik gespielt. In Berlin kam ich in Kontakt mit vielen inspirierenden Personen und ganz neuen musikalischen Vorstellungen. Ich musste dann erst einmal wieder zurück in die USA, um das alles zu verdauen. In der Zeit habe ich viel darüber nachgedacht, wie man den Körper musikalisch nutzen kann, ohne dass es gleich zu Tanz wird. Vielmehr war ich an formalen Kriterien der Bewegung interessiert, also Spannung, Entspannung, Körperhaltung, Bewegung. Als Cellistin hatte ich früher viele Verletzungen, weil ich mich nur auf die Perfektion des Spielens konzentriert und nicht darauf geachtet hatte, ob ich meinen Körper dabei gut behandele. Das funktioniert auf Dauer nicht, es ist nicht nachhaltig. Das hat mich dann motiviert das Instrument beiseite zu legen und zu schauen, was ich sonst nutzen kann. Ich fing an mit allen möglichen Gegenständen und Objekten zu arbeiten, die auf einen Tisch passen, und auf verrückte Arten damit umzugehen. Rhythmus wurde mir wichtig, und ich fing an, einzelne Körperteile zu verstärken, sowohl visuell als auch auditiv.

Was meinst du mit visueller Verstärkung?

In einigen Stücken nutze ich zum Beispiel weiße Handschuhe mit kleinen Metallplatten auf den Fingerspitzen, so dass man jede noch so filigrane Handbewegung, und jede kleinste Geste hört, aber auch der Fokus des Publikums auf die Hände in weißen Handschuhen gelenkt wird, die sonst eher unsichtbar sind. In dem Stück Rot Blau mit meinem Duo ON STRUCTURE mit Natacha Diels sind wir noch einen Schritt weiter gegangen, indem wir versucht haben, mit gleichen Kostümen und Perücken unsere Körper so ähnlich wie nur irgendwie möglich aussehen zu lassen. Außerdem haben wir lange geprobt, unsere Gesten exakt gleich auszuführen, etwa Kopfbewegungen, oder Bewegungen mit den Armen. Es ist erstaunlich: Je stärker man versucht, die eigene Persönlichkeit auszulöschen, und je präziser man sich einander anpassen möchte, desto stärker schimmern die unverwechselbaren Unterschiede zwischen Personen und deren besondere Eigenschaften durch. So kann man jemanden auch sehr schnell gut kennenlernen.

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Eines deiner bekanntesten Stücke ist das Musiktheater Nice Guys Win Twice, mit dem du bei vielen Festivals warst und in dem du Musik, Text, Performance und Video verbindest mit Themen wie Politik, Gesellschaftskritik, Social Media, Fake News und viel Witz. Zum Schluss schweben sogar Clownfisch-Ballons über das Publikum. Wie gehst du mit Humor in der Musik um?

Humor ist für mich sehr wichtig, ich bin ohnehin eine lustige Person. In der Neuen Musik glaubt meist niemand daran, dass gleich ein Witz kommen könnte und irgendwie ist es eine große Befreiung, wenn dann doch einer kommt. Humor hilft, etwas mehr Zeit und Aufmerksamkeit zu ›kaufen‹. Es ist wie ein Werkzeug, das dem Publikum erlaubt, kleine Pausen zu machen, eine Art Reset, um dann wieder einzusteigen und sich darauf einzulassen, was als nächstes kommt. Ein guter Comedian haut nicht einfach einen Witz nach dem anderen raus, sondern baut seine Gags langsam auf, wägt genau ab, wer zu den Gewinner*innen und wer zu den Verlierer*innen gehört, und platziert die Pointe ganz bewusst zuletzt, um dann wieder Zeit für den folgenden Gag zu haben.

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Bei diesem Stück folgen die verschiedenen musikalischen und thematischen Ebenen Schlag auf Schlag, man hat das Gefühl, einen Querschnitt deines Schaffens mitzubekommen.

Ja, Nice Guys Win Twice hat natürlich mehr als nur die humoristische Ebene, es ist eine Art Repräsentation von früheren Stücken und Etüden, zusammengefasst in einer absurden thematischen Storyline. Ich habe das Gefühl, mit diesem Stück am Ende eines Kapitels einer bestimmten Art zu komponieren angelangt zu sein. Als wäre ich auf einer Schwelle zu einem neuen Abschnitt meiner kompositorischen Arbeit. Genauer gesagt: Eines der Stücke am Anfang von Nice Guys ist völlig lautlos, es ist eigentlich eine Choreographie, bei der Musiker*innen auf der Bühne ihre Köpfe, Hände, Brust und Beine in ganz klar vorgeschriebener Art und Weise bewegen, die in der Partitur zwar detailliert vorgegeben ist, aber deren Abfolge die Musiker*innen frei wählen können. Ich habe gemerkt, dass ich genau das erreicht habe, was ich viele Jahre versucht habe: eine rein visuelle Musik! Ich bin damit an ein gewisses Ende gekommen und ich weiß nicht, was ich dem noch hinzuzufügen habe.

Und was folgt im nächsten Kapitel?

Die logische Konsequenz für mich ist nun die Frage, wie es wohl wäre, Sounds zu machen [lacht]. Ich habe tatsächlich noch nie eigene Aufnahmen gemacht und habe Lust, mich nun intensiv der Klangproduktion zu widmen und alle visuellen und körperlichen Elemente wegzulassen. Ich habe bisher immer so gearbeitet, dass ich vom Standpunkt der Performance ausgegangen bin, bei der die Performer*innen auf der Bühne stehen sollen, damit alle Effekte sichtbar sind, wo welche Screens hängen sollen und so weiter. Das Storytelling war mir immer sehr wichtig. Nun möchte ich herausfinden, wie ich das auf rein elektronischer oder elektroakustischer Ebene umsetzen kann. Ich entdecke gerade diese ganzen magischen Möglichkeiten der Elektronik für mich.

Foto © Marc Perlish
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Hast du schon damit angefangen?

Ja, gerade arbeite ich viel mit Samples von Vogelgesängen, die von Profis oder Amateuren auf der ganzen Welt gesammelt wurden. Ich bin ganz erstaunt, wie umfangreich die Dokumentation ist, die man im Internet findet. Es gibt ganze Archive voller Vogelgesänge aus jeder noch so kleinen Ecke der Welt. Viele schreiben witzige, nahezu poetische Texte darüber, was um sie herum gerade passiert, während sie die Klänge aufnehmen. So viele Menschen machen sich auf den Weg, reisen an die entlegensten Orte der Welt, nur um einen einzigen Klang zu hören. Das berührt mich irgendwie.

»Schlechte Lehre resultiert oft daraus, dass Künstler*innen versuchen, kreativ zu sein, während sie eigentlich ihren Studierenden ganz zur Verfügung stehen sollten.« Freie Kunst statt akademischer Laufbahn: Jessie Marino in @vanmusik.

Ich stelle es mir gar nicht so leicht vor, sich nach so vielen Jahren auf etwas ganz Neues einzulassen, was man erst noch lernen muss.

Das wirkt sich auch tatsächlich stark auf mein Leben aus. Ich habe im letzten Jahr die Entscheidung getroffen, nicht den gleichen Weg zu gehen wie viele der anderen privilegierten Komponist*innen in meinem Alter. Ich habe meinen PhD beendet, habe letztes Jahr ein renommiertes Stipendium in Rom bekommen, was oftmals als Ausgangspunkt für eine Karriere im akademischen Bereich genutzt wird. Noch bis letztes Jahr habe ich mich auf diese Stellen beworben und mir viele Gedanken darüber gemacht, wie mein Leben aussehen soll. Irgendwann habe ich dann aber den Laptop zugeklappt und mich entschieden, mich erst einmal nicht mehr zu bewerben, sondern ohne feste Stelle in Berlin zu leben und weiter kreativ zu arbeiten. Viele meiner engen Freunde, die einer Lehrtätigkeit nachgehen, müssen stark an sich arbeiten, um die Lehre mit der eigenen Kreativität auszubalancieren. Natürlich bietet so ein Job auch viele Freiheiten, aber ich glaube, dass schlechte Lehre oft daraus resultiert, dass viele Künstler*innen versuchen, ihre Zeit aufzuspalten und kreativ zu sein, während sie eigentlich voll und ganz ihren Studierenden zur Verfügung stehen sollten. Ich glaube, ich hatte nie eine wirklich gute Lehrkraft, die sich die Zeit genommen hat zu verstehen, wo ich im Moment stehe, woran ich Interesse habe und was meine Möglichkeiten sind. Oft geht man an eine bestimmte Hochschule, um mit ganz bestimmten Lehrer*innen zu arbeiten, weil sie etwas ganz Spezielles macht und dich mit gewissen Personengruppen zusammenbringen können. Aber ich denke, dass das nicht der Sinn von Lehre sein sollte, sondern dass man auf die Studierenden zugehen und fragen sollte: Was brauchst du? Was willst du? Lass es uns zusammen herausfinden, nimm nicht meinen Weg, sondern suche deinen eigenen, sonst haben wir einfach nur kleine Kopien und Klone von großen Professor*innen. In der Zukunft kann ich mir vielleicht einmal vorstellen, an eine Hochschule zu gehen. Aber jetzt bin ich erstmal in Berlin und versuche, mich hier durchzuschlagen. Und nach sieben Jahren im optimistischen und sonnigen Kalifornien freue ich mich auch wieder darauf, einen echten Winter zu erleben. ¶

... ist Musikwissenschaftlerin und lebt in Berlin. Sie studierte Musikwissenschaft und Romanistik an der Universität Köln, der Université de Montréal und der Berliner Humboldt-Universität. Sie ist spezialisiert auf Musiksoziologie und interessiert sich für Kommunikationsprozesse in der zeitgenössischen Musik. Ihre Forschung konzentriert sich auf den Einfluss transkultureller Phänomene auf die musikalische Interaktion in Montréal und Berlin.