250 Komponistinnen Folge 39: Sanft säuselnde Schalmeien.
Viel ist über das Leben von Camilla de Rossi nicht bekannt. Vermutlich kam sie »um 1670« in Rom zur Welt – also um das Entstehungsjahr von Molières berühmter Ballettkomödie Der Bürger als Edelmann. Die Vermutung, de Rossi sei in Rom geboren worden, rührt von der Bemerkung »Romana« (»Römerin«) her, die sich auf einer ihrer handschriftlichen Partituren – inzwischen verwahrt in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien – findet.
Von Benedetto Pamphilj, von dem de Rossi einen Kompositionsauftrag erhielt, sind dagegen ungleich mehr Fakten überliefert, beispielsweise die haargenauen Lebensdaten (geboren am 25. April 1653 in Rom und ebenda gestorben am 22. März 1730), war er doch nicht nur Librettist und Komponist, sondern fand als italienischer Kardinal selbstverständlich seinen Platz in den gedruckten Geschichtsbüchern – nicht nur denen des Vatikans. Pamphilj betätigte sich ausgiebig als Verfasser von für die Vertonung vorgesehenen religiösen Texte. So entstand 1707 in Zusammenarbeit mit dem damals 22 Jahre alten Georg Friedrich Händel das Oratorium Il trionfo del Tempo e del Disinganno (Der Sieg von Zeit und Wahrheit).
Wohl aufgrund der römischen Residenz des künstlerisch beflissenen Kardinals Pamphilj nimmt man an, dass de Rossi aus Rom gestammt haben könnte, denn auch sie erhielt vom Kardinal den Auftrag zur Vertonung eines seiner Texte, woraus – ebenfalls im Jahre 1707 – das im Druck erschienene Oratorium Santa Beatrice d‘Este resultierte.
Zusammen mit mindestens drei anderen Frauen gehört de Rossi zu einer Gruppe von vier quasi anonymen Komponistinnen, die um 1700 in Wien Oratorien komponierten – oder, wie es anhand diverser anderer Quellen nachzuvollziehen ist, zu einer Gruppe von Komponistinnen, die zwischen 1670 und 1725 in Norditalien und Österreich in Erscheinung traten. Aus dieser Gruppe sind aber wohl ausschließlich die Werke de Rossis überliefert worden.
Korrekterweise wird an verschiedenen Stellen im Netz gefragt, woher denn de Rossi ihr hervorragendes Wissen über Wesen und Funktionsweise der von ihr vorgeschriebenen Instrumente gehabt haben könnte, schließlich war sie als Frau von jeglichen päpstlich-elaborierten Veranstaltungen in Rom ausgeschlossen, konnte also nicht durch bloßes Hören, Erleben und Memorieren ihr Wissen erworben haben.
Vier ihrer erhaltenen Oratorien jedenfalls wurden von Kaiser Joseph I. persönlich in Auftrag gegeben und wohl in der Kapelle der Wiener Hofburg aufgeführt. Des Weiteren wird berichtet, de Rossi habe bereits ein Jahr nach dem ersten Aufkommen des Chalumeaus in Wien ein solches Instrument 1708 in ihrem Oratorium Il sacrifizio di Abramo (Das Opfer Abrahams) eingesetzt. Das Chalumeau – ein Vorläufer der Klarinette, auch bekannt als Schalmei – galt noch 1728 in deutschsprachigen Regionen als Exoteninstrument, als es von Georg Philipp Telemann mittels eines nicht einmal zweiminütigen Stückes (Carillon à 2 Chalumeaux ou Flûte à bec ou trav. avec la Basse) in seiner bedeutenden Musikzeitschrift Der getreue Musikmeister gewürdigt wurde.
Camilla de Rossi starb vermutlich um das Jahr 1710 in Wien.
Camilla de Rossi (ca. 1670 – ca. 1710)Arie des Abraham: Accostatevi à queste pupille aus dem Oratorium Il sacrifizio di Abramo (1708)
Camilla de Rossis besagtes Oratorium Il sacrifzio di Abramo – basierend auf einem Libretto Francesco Maria Darios – erzählt die biblische Geschichte von Abraham, der als Prüfung Gottes diesem seinen Sohn Isaak opfern soll. Isaaks Mutter Sara berichtet zunächst von Abrahams Verhältnis zu Gott und dem ihr geschenkten Segen, in hohem Alter noch Mutter eines potentiellen Herrschers des neuen Volkes geworden zu sein. Doch Abraham erhält im Traum den Auftrag, seinen eigenen Sohn Gott als Opfer darzubringen. Vater und Sohn wandern in die Berge, um dort die Opferstätte zu errichten. Als Isaak sieht, dass sein Vater keine Opfergabe bereitet hat, wird ihm bewusst, dass er selber zum Opferlamm auserkoren ist. Beide sind zu dem radikalsten Schritt menschlichen Handelns bereit, doch ein Engel erscheint, verhindert den Tod Isaaks und bescheinigt beiden die nötige Gottesgläubigkeit. (Im Übrigen legitimiert ausgerechnet jene bekannte biblische Geschichte – in anderen Religionen sind ähnliche archetypische Erzählungen überliefert – bis heute angeblich »gottgewollte« menschenfeindliche Handlungen.)
Die Arie Accostatevi à queste pupille singt Abraham im Einschlafen (»Abramo nell‘ addormentarsi«) – kurz bevor ihm der Engel mit der vermeintlich todbringenden Hiobsbotschaft heimsucht. Im Text geht es um Ruhe, Gelassenheit – um Symbole des puren Gottvertrauens.
Auf schaukelnde, berührende, sanft wiegende Weise säuseln uns die besagten Schalmeien entgegen. Die Schläfrigkeit Abrahams malt de Rossi durch langgezogene Töne in der Gesangslinie aus, die von den Instrumenten in schöner Bebung nachvollzogen wird. Herrlich wechseln sich Gesang und terzenselige Schalmeien ab. Hier beherrscht eine große Künstlerin nicht nur ihr »Handwerk«, sondern vermag auf völlig entspannte Art und Weise menschliche Regungen plastisch in Musik auszudrücken. Die an dieser Stelle textmotivierte, bewusste gewählte Nicht-Virtuosität setzt uns Hörenden emotional – doch behutsam – zu, denn das ist Musik von großer Einfachheit, die schlichtweg zu Herzen geht – und ihre ästhetische Heimat recht deutlich in den fein begossenen Gärten des »Galanten Stils« hat.
Der »Galante Stil« galt gewissermaßen als bürger:innenpublikumszugeneigter Stil, der hübsche Melodieerfindungen, Einfachheit und Klarheit im musikalischen Gesamtgefüge mit musikalisch schlicht umgesetzten menschlichen Gefühlsäußerungen ohne übermäßige Kontrapunktik zusammenbringt. Der Musiktheoretiker Wilhelm Friedrich Marpurg notierte 1760 dazu: »Was heißt denn gelant seyn bey einem Componisten? Mich dünkt soviel, als in einem musikalischen Stücke, es sey von was für einer äußerlichen Form es wolle, einen so gefälligen und dem vorgesetzten Endzwecke gemäßen Gesang, über eine so leicht zu begreifende richtige Harmonie erfinden, daß jeder Zuhörer, der auch nichts von den schweren Geheimnissen des krebsgängigen Canons versteht, daran Gefallen findet, und davon gerühret wird.« Eben jene unmittelbare (Be)Rührung spüren wir, wenn wir uns auf die Schalmeien-Arie de Rossis einlassen. ¶