Miles Davis und die Torricelli-Trompete
Text Dietmar Dath
Eins: Kopfsatz
Kürzer kann ich es nicht sagen: Alle Musik ist zu lang. Diese Behauptung gehört allerdings nach verschiedenen Seiten entfaltet, damit sie verstanden wird. Am besten, man beginnt mit dem historischen Gesichtspunkt.
Alle bereits vorhandene, also aufgeschriebene oder aufgezeichnete Musik, ob als Schema oder als wiedergabefähige Aufführung erhalten, ist für Menschen, die heute Musik machen wollen, zu lang, das heißt: Das können wir doch nicht alles hören, wir wollen doch auch mal anfangen. Wie gesagt, das gilt nicht nur für die Werke, sondern schon für deren Muster, Prinzipien, Gattungen, Techniken.
Die Sonatenform zum Beispiel macht junge KomponistInnen, die sie heute noch lernen, immer gleich ganz ungeduldig: Selbst wenn man ihnen sagt, sie sollten sich ruhig erst einmal anhören, was damit schon alles angestellt wurde, bevor sie es verwerfen, sie sollen nämlich auch dann, wenn nichts als Neuerung ihre Leidenschaft oder ihre von der Geschichte gestellte Aufgabe wäre, wissen, was dann schon alles nicht mehr geht, weil es bereits passiert ist – selbst dann stöhnen und ächzen sie und finden nicht, es sei ihnen damit geholfen.
Wo wollte das alles überhaupt hin, fragen sie dann zum Beispiel, dieses Sonatenkonstrukt? Die historisierende Musikwissenschaft sagt ihnen dann: Dieses Konstrukt wollte Totalität suggerieren, ein Spektrum öffnen, sie wollte zum Ganzen. Da antworten sie dann, als moderne und postmoderne (was immer das sein mag) Köpfe: Aber das war doch ein Trugschluss, es gibt kein Ganzes, es gibt, weil die Leute an ein Ganzes glauben wollten, von ihren theologischen und metaphysischen Traditionen verblendet, jetzt nur dieses ganze alte Geraffel. Wer sich der stattgehabten musikalischen Geschichte gegenübersieht, will oft genug schier verzagen: Wie soll ich angesichts all dieser Reste und Trümmer meine eigene Subjektivität als Haltung zum Material noch entwickeln, wenn das von der Geschichte bereits Aufgehäufte schon a.) so lang und weit ausgreifend, aber b.) dann eben doch nie eine Totalität ist, zu der sich wenigstens eine Gesamthaltung finden ließe, etwa Ablehnung. Es ist viel zu viel, aber es ist dann doch auch wieder nicht alles, obwohl es dauernd auf so ein »alles« verweist – kann für die jungen KomponistInnen überhaupt ein Befund entmutigender sein als dieser?
Zwei: Langsamer Satz
Musik hält die Zeit an, um sie zu verbrauchen. Während man sie spielt oder hört, passiert alles andere nicht, insofern handelt sie von Ewigkeit als Ereignis- und Tatenlosigkeit. Aber beide Aspekte der Ewigkeit, die sie zeigt, sind in ihr nicht einfach irgendwie gegeben, sie müssen hergestellt werden: Die Ereignislosigkeit selbst geschieht, die Tatenlosigkeit selbst ist eine musikalische Tat.
Der Moment wird verewigt, indem die Ewigkeit im Moment erfahrbar gemacht wird – das ist vielleicht das reaktionärste Moment an Musik, und in diesem tiefsten Sinn hatte der große Cornelius Cardew dann sogar recht, als er die einigermaßen kühne, um nicht zu sagen: leicht wahnsinnige These in die Welt spie, Leute wie Stockhausen oder Cage dienten »dem Imperialismus« – sie dienten nämlich dem Vorhandenen, indem sie Menschen die Zeit raubten, die nötig gewesen wäre, dieses Vorhandene zu ändern. Die Zeit, die Musik braucht, in ihrem Gang durch ihr jeweiliges Material durch Dehnung, Stauchung, Drehung, Involution und tausend andere Gesten an jenem Material so gut wie alles zu verändern, verändert um sie herum nichts, verewigt ihre Umwelt – da waltet eine Art Plusminus-Harmonie, ein Nullsummenspiel, so wie etwas sehr Komplexes sich eignet, die hohe Komplexität einer Umwelt zu reduzieren. Wer Stockhausen und Cage hört, wer das spielt, was diese beiden zu spielen erlauben, bleibt immer dicht an ihrer Sorte Ewigkeit und entfernt sich also weit von jeder Gelegenheit, an einem gegebenen üblen Zustand herumzufummeln. Bloß gilt just das für Cornelius Cardews Musik ganz genauso, selbst wenn sie zum Ende seines Schaffens hin immer liedhafter wurde, immer antiimperialistischere Texte trug und so weiter – Texte sind überhaupt, wie Programme bei Programmmusik, gewissermaßen stets nur das Pfeifen des semantischen, des bezeichnenden, verhältnismäßigen und deutenden Verstandes im Dunkeln des Musikalischen: lauter kleine Anker in der sprachlichen Welt der Gründe, der Ursachen und Folgen, des Vergleichens und Unterscheidens.
Musikwissenschaft täuscht sich, wenn sie denkt, nur weil sie über Taktungen Bescheid weiß, über Klangfarben, über Harmonien, über Instrumente, wäre sie befugt oder befähigt, Musik zu etwas Außer- oder Transmusikalischem in Beziehung zu setzen – Musik an sich ist immer (mal weniger, mal mehr) die Verweigerung dieser Beziehung, Musik ist Ablenkung nicht nur von dem, was in der gewöhnlichen Erfahrungszeit geschieht, sondern aktive Abwerbung der Aufmerksamkeit von dieser gewöhnlichen Erfahrungszeit überhaupt. Musik setzt der riesigen Totalität, die wir im sozusagen kosmischen Hintergrund jener gewöhnlichen Erfahrungszeit vermuten, eine gleichsam nach innen, ins Musikalische, gekrempelte absolute Momenterfahrung entgegen. Sie will, weiß und leistet das nicht relativierbare Besondere dessen, was, kaum passiert es, auch schon wieder weg ist, auch wenn ein Ton oder ein Takt »gehalten« werden, was ja nur bedeutet: Verzögerung des Verschwindens, und damit gerade dessen in Musik ausgedrückte Allmacht bestätigt.
Musik handelt von vergänglichen Maßverhältnissen auf selbst unvergängliche, weil im Moment des Erlebnisses ihrer Nichtereignisses immer schon vergangene Weise – ich sage da nichts anderes als das, was Leibniz sagt, wenn er feststellt, Musik sei der Genuss, den das menschliche Bewusstsein erlebt, wenn es zählt, ohne zu bemerken, dass es zählt. Die Musikschaffenden, von denen wir sagen, sie seien ewig (was wir ja gar nicht wissen können, stehen wir doch mitten im Geschichtlichen), sie seien unvergänglich und dergleichen, stellen genau dieses Moment selbstbewusst aus: In jedem Satz jeder Beethovensinfonie ist nicht nur das ganze bürgerliche Zeitalter, sondern das gesamte von diesem Zeitalter entwickelte Empfinden für die Zeitlichkeit des Menschlichen überhaupt, fürs Historische, also der phantasmatische Urstoff, aus dem dann Condorcet,
Hegel oder Marx ihre Historismen entwickelt haben, in eine eben nicht vor-, sondern sozusagen nachbegriffliche Unmittelbarkeit versetzt – die Musik »fühlt sich an wie« die Gedanken jener Philosophen, aber sie ist nicht einfach deren Ausdruck, sie ist eine Erfahrung, die daraus resultiert, dass die Zivilisation, die diese Musik hervorgebracht hat, sich selbst in einer Art von Zeit zuhause glaubt, die diese Denker für die spezifisch menschliche hielten und die man in dieser Musik erleben kann, in sozusagen bedingter Zeitlosigkeit, bedingter Sprachlosigkeit, bedingter Bewusstlosigkeit – die Bedingung der Zeitlosigkeit dieser Musik ist das hohe Zeitbewusstsein, das »gute Timing« der Musizierenden, die Bedingung der Sprachlosigkeit ist die Präzision des klassischen Formenvokabulars, die Bedingung der Bewusstlosigkeit ist das Bewusstsein etwa der historischen Person Ludwig van Beethoven.
Drei: Scherzo
Derlei punktgenaue Ewigkeit kommt von so weit her, hat einen so langen Atem, dass sie nicht nur das Zeitgeschichtliche (Eroica) und Epochengeschichtliche (die Neunte), sondern, etwa in der Pastorale, sogar das Naturgeschichtliche an sich reißen, in sich zum Klingen bringen kann. Dieser Effekt gehört zur Musik überhaupt, nicht nur zur Klassik: Als ich mit einem Freund, der Mathematiker ist, vor Jahren zum ersten mal Great Expectations, den, na, sagen wir ruhig: Kopfsatz von Big Fun hörte, einer der großen sinfonischen Dichtungen von Miles Davis, sagte dieser Freund beim ersten Einsatz der Trompete des Meistes: »Du liebe Zeit, jeder Ton, den der spielt, hört sich an, als wäre er schon vor der Hörbarkeit dagewesen, als hätte Davis ihn nur mal eben hörbar gemacht, und als ob der Ton dann, wenn er für uns aufhört, nur wieder in einer anderen Dimension verschwindet. Als wären die Atemstöße des Trompeters nur Kostproben eines unermesslich langen Atems – als ob Miles Davis sagen will: Das hier könnte ich für immer machen, das hier habe ich schon immer gemacht. Weißt du was? Es ist, als ob Miles Davis auf Torricellis Trompete spielt.«
Diese Torricelli-Trompete ist ein mathematisches Konstrukt, benannt nach Evangelista Torricelli, einem exakten Denker des siebzehnten Jahrhunderts; das Konstrukt, ein Horn oder Trichter, entsteht, wenn man die Funktion f(x)=1/x für x größer oder gleich 1 um die x-Achse dreht. Das Besondere an dem Ding ist, dass es ein endliches Volumen hat, aber eine unendliche Mantelfläche – ein schönes Gleichnis für Musik, die aus endlichen Momenten eine Schnittstelle zum Unendlichen, zum Ewigen zusammenfügt und daher auch in exakt diesem mathematischen Sinn »immer zu lang« ist. Totalität, aber ohne Bodenlosigkeit – Totalität auf gemachter, erarbeiteter, erschaffener Grundlage, ist die Pointe der Musik: Die erfahrbare, sinnliche, musikalische Totalität ist Gegenteil und Überwindung der von der Erfahrung immer bloß abstrahierten metaphysischen Unendlichkeit, der Newtonschen absoluten Zeit. Sie gibt sich damit gewissermaßen »noch konkreter« als die normale konkrete Alltags-Augenblickserfahrung, weil sie sogar auf eine Kausalitätsrechenschaft ihrer Augenblicke verzichtet: Diese »führen zu nichts«, sind einfach »eben noch nicht da, jetzt da, gleich wieder nicht mehr da«. Man kann sie deshalb auch nicht zertrümmern, egal, wie kurz die Stücke werden, wie gebrochen die Harmonien, wie verhakt die Rhythmen, und die allerausgefuchsteste Elektronik der Gegenwart, die in ihrem Verlauf gar keine Erwartungen mehr bedient, ja, kaum noch welche aufbaut, sagen wir: das sehr hübsche Album Xen von Arca aus dem Jahre 2014, fällt gerade durch ihre völlige Abgewandheit von allen kausalen Stimmigkeitsansprüchen, die man als Gebrauchsmusik an der Bar, im Supermarkt oder im Fahrstuhl einsetzen könnte, mit dieser Gebrauchsmusik in der Anmutung schon wieder unmittelbar zusammen, genau wie der abgeklärteste, auf keiner Freiheitssuche mehr befindliche das-machen-wir-jetzt-mal-Jazz, etwa die überaus sahnige Platte Lumen Drones des Geigers Nils Økland, des Gitarristen Per Steinar Lie und des Perkussionisten Ørjan Haaland aus demselben Jahr. Sind das Sinfonien? Ist das Jazz, teils von Maschinen ausgeworfen?
Jedenfalls ist das alles, wie nicht nur meine Freunde im Auto finden, zu lang, und hat eben damit genau die richtige Länge. Auch wenn es die Sonatenform nicht einhält, behauptet es, was diese behauptet: Musik nimmt sich seit unserem 18. Jahrhundert endlich auch im Abendland das Recht, von allem im Einzelnen zu handeln, während sie im Ganzen von nichts handelt, ja, an das Ganze gar nicht glaubt, es unglaubwürdig macht, indem sie ein Totales (Vollständiges) entwirft, das kein Ganzes (vom Einzelnen Abstrahiertes und Getrenntes) sein muss.
Vier: Finale
Das Sinfonische als das Totale ist einerseits, glaubt man den Allerneuesten, lange schon diskreditiert, aber es schleppt sich andererseits im oben beschriebenen Sinn doch fort durch eine Zeit, die auch dem Roman nicht mehr glaubt. Die Sonatenform ist einfach zu gut, sie muss zum Beispiel gar nicht groß vollgestopft werden, um anzuzeigen, dass im Prinzip, wie gesagt, buchstäblich alles hineinpasst. Menschen, die durch die Zertrümmerungs- und Zersplitterungserfahrungen hindurchgegangen sind, die das zwanzigste Jahrhundert uns allen beigebracht hat, entschuldigen sich manchmal leider geradezu dafür, wenn sie damit noch arbeiten wollen – nicht immer sind die Witze, die bei diesen Entschuldigungen herausspringen, so gut wie die Nanosonaten für Klavier von etwa zwei Minuten Länge, die Frederic Rzewski 2006 und 2007 geschrieben hat, und die es darauf angelegt haben, den Effekt der momentbelassenen Ewigkeit für den Moment ihrerseits aufzuheben, der Musik also mittels Musik zu sagen, dass sie ganz so viel Zeit, wie sie glaubt, eben doch nicht hat: »A nanosonata should seem too short« (Rzewski) – ein Einfall, dessen Zeit derzeit weiß Gott gekommen scheint (Günter Herburger, ein Meister der Formbeschränkung wie der Formbefreiung, hat für die Erzählprosa ja etwas ganz ähnliches geleistet, als er 2012 in seinem Band Haitata. Kleine Wilde Romane auf rund 100 Seiten knapp unter fünfzig Romane untergebracht hat, die auch alle zu kurz scheinen und eben darin genau die richtige Länge haben.
Sie weist auf die Dauer als solche hin, während sie sich ändert, sie spielt mit der Dauer und kokettiert in ihren lustigsten oder irritierendsten Augenblicken durchaus immer noch damit, etwas Außermusikalisches darzustellen, as well it should, weil nur das Unmögliche die Künste wirklich reizt, aber man erfährt Zeit durch sie doch immer eher als bloße Möglichkeit, nicht als Gegebenheit von Ereignissen, die in ihr zwar andauernd zu passieren scheinen, a
ber dann doch nichts verändern außer der Gestimmtheit der mit ihr befassten Leute und ein paar ihrer Gedanken.
Dass zum Beispiel Kampflieder vom Kämpfen abhalten, wissen in Wahrheit ja alle, die gern oder gut kämpfen. Denn wenn die Lieder gut sind, singt man sie oder verliert sich für die Dauer der Musikerfahrung in ihnen, statt zu kämpfen. Kampflieder haben aber natürlich trotzdem ihren Nutzen: Dass sie das semantische, also auch das programmatisch-politische Hirn abschalten, kann diesem ja just die Atempause verschaffen, die es braucht, um zu vergessen, dass die Verhältnisse nicht so sind, wie das politische Programm sie jeweils haben will – und nur, wer das vergessen hat, wird so größenwahnsinnig sein, zu glauben, es ließe sich auf der Welt etwas ausrichten, etwas ändern, nur, wer etwa den Sozialismus schon vor sich sieht, traut sich an die ungeheure Aufgabe, ihn herzustellen. Musik ist Kampf als Übung von Kampf, Liebe als Übung in Liebe, Musik ist überhaupt Weltaneignung und Weltformung, Alloplastik, in Gestalt des vordergründig weltabgewandten Spiels – Modernisten können deshalb etwa über die Emanzipation
des geschichtsbildenden Potentials der menschlichen Arbeit von der selbsterhaltenden Notwendigkeit nachdenken, indem sie Reihentechnik,
Aleatorik oder Elektronik erforschen, und Freejazzer können sich praktische Gedanken über Improvisation oder hierarchiefreie Zusammenarbeit machen, und zwar auf höchstem, zugleich abstraktestem wie präzisestem Niveau – ein auch mathematisch klügeres Buch über kollaboratives Treiben als Flow, Gesture and Spaces in Free Jazz. Towards a Theory of Collaboration von Guerino Mazzola, Paul B. Cherlin, Mathias Rissi und Nathan Kennedy aus dem Jahr 2009 ist mir in Jahrzehnten ernsten Studiums etwa marxistisch inspirierter Literatur über Arbeit, Mehrprodukt und Freiheit nicht untergekommen.
Aber alle diese Gedanken und Übungen haben zur Bedingung, dass sie in einem Feld stattfinden, das sich dafür eine Auszeit vom Produzieren und Reproduzieren nimmt, wie alle Kunst – aber darüberhinaus, als Musik, sogar von den Semantiken des Produzierens und Reproduzierens, an die andere Künste, selbst das heutzutage so gefeierte Visuelle, einfach aufgrund ihrer langen Geschichte der Repräsentation von Zeug gefesselt bleiben, welches das Produzieren und Reproduzieren kennzeichnet (»Dinge«, »Personen«, »Sachverhalte«). ¶