Lawrence D. Mass, ist Facharzt für Suchtmedizin im Ruhestand und Mitbegründer von »Gay Men’s Health Crisis«. Er war der erste, der in der US-Presse über AIDS schrieb, und ist der Autor von Homosexuality and Sexuality: Dialogues of the Sexual Revolution und den Memoiren Confessions of a Jewish Wagnerite: Being Gay and Jewish in America. Mass bringt seit langem seine Spezialisierung auf Suchtmedizin mit seinem Engagement für die Rechte von Homosexuellen und einer jahrzehntelangen Praxis des Musikhörens, insbesondere der Opern von Richard Wagner, in einen Dialog. Beim folgenden Austausch handelt es sich um eine redaktionelle Bearbeitung einer schriftlichen Korrespondenz, der ein Zoom-Gespräch folgte. Wir sprachen darüber, wie und warum das Nachdenken über Sucht hilft, Wagner zu verstehen.

VAN: Sie verwenden vielfach Begriffe und Konzepte aus dem Bereich der Suchtmedizin, um Musik zu beschreiben. Wann haben Sie angefangen, Musik auf diese Weise wahrzunehmen?
Lawrence D. Mass: Die Suchtmedizin an sich ist ein recht neues Fachgebiet. Früher gehörte es in den psychiatrischen Bereich, aber da wollte sich eigentlich niemand wirklich damit befassen, obwohl es eine Spezialisierung für Suchtpsychiatrie gibt. Sucht ist ein Paradigma und eine Perspektive, über die wir ständig mehr lernen und die immer aufschlussreicher wird, was die Betrachtung von Oper, Musik und Kultur angeht.
Gängige Begriffe aus dem Sucht-Themenfeld wie Rausch und Verzauberung waren auch in der Welt Wagners und des Wagnerismus verbreitet. Bei Wagnerfans findet man das in Wortschatz und Sprachgebrauch mehr als in anderen Musikrichtungen. Für keine andere Komponistin und keinen anderen Komponisten gibt es einen Begriff, der vergleichbar wäre mit dem Wagnerismus, dieser Form von Kult. Der Wagnerismus-Kult ist in seiner Tragweite und Kraft einfach beispiellos, das erklärt auch die Verwüstung, die er angerichtet hat. Und es könnte sein, dass uns Ähnliches wieder bevorsteht, wenn man bedenkt, dass der Autoritarismus global gesehen mehr und mehr im Kommen ist.
Ich habe mich gefragt, ob ich eigentlich Wagner-süchtig bin, wenn ich mich als Wagnerianer betrachte. Als ich begann, Alkohol-Recovery Treffen zu besuchen, während meiner medizinischen Ausbildung, merkte ich, wie ich mich mehr und mehr mit Wagner-Memorabilien umgab. Ich war überwältigt und verführt von diesen sinnlichen Erfahrungen, die immer mehr Raum einnahmen. Wenn die Sucht so Fahrt aufnimmt, nennen wir das ›Progression‹, wie beim Alkoholismus. Diese Zeit in den frühen 80er Jahren fiel mit der AIDS-Epidemie und der Schwulenbewegung und mit meinem Berufseinstieg als Anästhesist im Bereich der Community Medicine zusammen. Damals lernte ich den Professor, Autor und Aktivisten Arnie Kantorowicz kennen, einen Pionier der Schwulenbewegung, und verliebte mich in ihn. Ich nahm ihn mit zu mir nach Hause, und dort hingen fünf Bilder von Wagner an der Wand. Er fragte: ›Wie kommt es, dass du hier nicht auch noch ein Bild von Anita Bryant [einer LGBTQ-feindlichen amerikanischen Popmusikerin] hängen hast?‹ Das brachte den Stein ins Rollen. Mir wurde klar, dass es merkwürdig ist, so krasser Wagnerianer zu sein.
Inwiefern verhalten sich Wagnerianer:innen wie Süchtige? Und warum versteht man im Kontext von der Sucht die Wirkung Wagners auf Menschen besser als wenn man weniger klinische Begriffe wie Rausch und Verzauberung verwendet?
Den Begriff ›Sucht‹ verwenden wir im Alltag gar nicht so wenig: Ich bin kaufsüchtig, ich bin fernsehsüchtig. Das ist ganz verbreitet. Es gibt sogar eine Zeitschrift namens Opera Fanatic. Sucht oder Süchtig-Sein scheint eher eine ganz normale Umschreibung zu sein als etwas Pathologisches – und gemeint ist damit etwas Exzentrisches. Klinisch gesehen würde Sucht bedeuten, dass sie das Leben beeinträchtigt, der persönlichen Entwicklung und der Wahrnehmung familiärer Verpflichtungen im Weg steht. Sucht stört Gleichgewicht und Selbstwahrnehmung. Wagnerianer:innen geben sich voll und ganz dem Erleben hin und halten nie inne, um einen Schritt zurückzutreten. Wie Parsifal in Klingsors Garten sind sie völlig eingenommen, was ihnen aber nicht bewusst ist, und sie sind auch gefährdeter, als ihnen bewusst ist. Die Sucht hält einen davon ab, sensibel zu bleiben für die Dinge, die das eigentlich verlangen.
Ich habe 1966 in Wieland Wagners letztem Jahr in Bayreuth den Parsifal gesehen. Als ich auf dem Grünen Hügel spazieren ging, sah ich dort die Büsten von Breker, einem Nazi-Bildhauer, und ich hatte das Gefühl, dass ich der einzige war, für den das ein Thema war … Das ist ein Symptom von Rausch und Sucht: Wenn man so von der Erfahrung berauscht ist, stellt man die entscheidenden Fragen nicht mehr.

Strawinsky schrieb einmal, dass Wagner der Musik selbst einen furchtbaren Bärendienst erwiesen habe und dass seine Art zu komponieren nie aufhörte, die Musik auf die paradoxeste Weise zu untergraben und schließlich zu entwürdigen. Stimmen Sie dem zu?
Der Wagnerismus ist auf so viele Arten verrückt, lächerlich und widersprüchlich. Können Sie sich vorstellen, wie das wäre, wenn Sie jetzt Wagner über seine Schriften interviewen und fragen würden, inwiefern seine Theorien in seinem Werk enthalten sind, und er würde antworten: ›Was ich am tiefsten empfinde, steckt nicht in meinem Werk?‹ Können Sie sich vorstellen, dass er das sagt? Ist man durch die großen Werke Wagners berauscht, führt das dazu, dass man lächerliche und widersprüchliche Sachen denkt. Nehmen wir Kundry, das extremste toxische antisemitische Stereotyp in einem Werk der hohen Kunst, diese satanische Dämonisierung, die schlimmste Sünde zu begehen, nämlich Christus am Kreuz auszulachen… Darüber wird in allgemeineren nicht-akademischen Kreisen nicht gesprochen. Der Diskurs ist nicht rational und man kann ihm nicht trauen; man muss hinter die Fassade schauen.
Wie hat Ihr Engagement für die Schwulenbewegung in der Zeit von AIDS Ihre Einstellung zu Wagner und zum Musikhören im Allgemeinen beeinflusst?
Ich begann, mir anzuschauen, wer mich da umgibt in der Welt der Oper. Ich begann mich mehr für kritische Plattformen zu interessieren. Ich begann zum Beispiel James Levine zu hinterfragen, der nie darüber sprach, dass er schwul und jüdisch ist. Meine Liebe zu Wagner erkaltete etwas und ich ging nicht mehr so regelmäßig in die Oper. Ich verlor das Interesse an den Aufführungen, an der Frage, wie gut die Sänger:innen nun waren, und konzentrierte mich stattdessen auf das, worum es in diesen Opern ging, auf das, was tatsächlich im Text steckt. Damals waren wir in wirklich jeder erdenklichen Weise von Homophobie bedrängt und bedroht. Es gab keine Freiheiten, weder Anerkennung noch Respekt. Es gab viele prominente, herausragende Stars, die sich nicht outen wollten, weil das Risiko zu groß war. Sie waren nicht bereit, einer von uns zu sein.
In seinem Buch Wagnerism: Art and Politics in the Shadow of Music stellt der Kritiker Alex Ross eine Art allgemeines Ideal der Liebe in den Mittelpunkt des Wagnerschen Schaffens. Sie sehen da eher Dunkleres.
Wenn man rationalisiert und verwässert, verliert man die Perspektive der Toxizität. Es ist eine Suche nach Gleichberechtigung – nach Akteur:innen, die sich gewachsen sind –, bei der nicht klar ist, wer die Held:innen und wer die Schurk:innen sind. Können Sie sich vorstellen, wie verblendet das ist, wenn Alberich doch irgendwie nicht der Erzschurke ist, der die ganze Welt und das Universum zugrunde richtet?
Und dann kann im Grunde jede und jeder alles Mögliche in Wagner hineinlesen, so wie Stefan Herheim den Ring mit Hunding zu einer Allegorie auf das Thema der Migration macht. Ich finde, das sind Wagnerianer:innen, die das alles hinter sich lassen wollen, damit sie diese Diskussionen nicht führen müssen. Sie wollen ihr Kolosseum, das sie genießen können, ohne ihr Gewissen mit Sklaverei und Brutalität belasten zu müssen. Sie wollen endlich aus dem, was Ross die ›Nazi-Spur‹ nennt, herauskommen. Es ist fast so, als ob die Vergebung den Jüdinnen und Juden aufgebürdet wird. Die gesamte enge Familie Wagner war an Kriegsverbrechen beteiligt, die nur sehr milde bestraft wurden. Erinnern wir uns nur an die 30.000 Ermordeten in Flossenbürg [dem Konzentrationslager, das ein Außenlager für Zwangsarbeiter in Bayreuth hatte, wo Wieland als stellvertretender ziviler Leiter diente], was heute dank Gottfried Wagner eigentlich bekannt ist.
Selbst [Barrie] Kosky, der seine Hassliebe zu Wagner offen und deutlich zum Ausdruck bringt und der für gleichermaßen reiche wie anklagende Inszenierungen verantwortlich zeichnet … Ich glaube immer noch, dass es, wenn er sich wirklich dafür engagieren würde, einen Weg gäbe, das Repertoire noch stärker zu verändern. Wie kritisch auch immer einige seiner Arbeiten sein mögen – sein mit Stars besetzter Meistersinger und auch Yuval Sharons Lohengrin stehen im Dienste der Erhaltung des Status quo, was Wagner in Deutschland, in Bayreuth und in der Welt der Oper angeht.
Die Regisseur:innen bleiben Bayreuth dankbar verbunden und legitimieren den Status quo, auch wenn ihre Leistungen kritisch und lobenswert sind. Das Fazit zu den Wagnerianer:innen ist, dass sie berauscht sind. Ich denke, Wagner wäre begeistert, wenn er wüsste, dass Jüdinnen und Juden immer noch über ihn und sein Erbe streiten, und es wäre ihm egal wie sehr wir protestieren… Wenn wir wirklich von der Krankheit des Wagnerismus geheilt wären, warum würden wir dann all das tun? Warum lassen wir nicht endlich alles hinter uns, ohne zurückzublicken? In meinem eigenen Fall ist es eine Geschichte, die ich einfach erzählen musste, aber der Grund dafür ist vielleicht in erster Linie die Sucht, die, wie Sie wissen, nicht heilbar ist. Man kann sie eindämmen und behandeln, aber nicht heilen. Kein Süchtiger ist jemals ganz geheilt.

Sie haben schon oft darauf hingewiesen, dass Judy Garland und Maria Callas überragende Ikonen der Schwulenbewegung waren, obwohl sie sich nie für die Rechte Homosexueller eingesetzt haben. Sie beschreiben, dass schwule Zuschauer sie für bedeutender hielten, als es letztlich der Fall war. Das ist bei Wagner und Juden noch schlimmer, denn er widmete sich Juden zwar, aber nur, um sie antisemitisch anzugreifen.
Ich betrachte Wagner heute als die erste Liebe meines Lebens. Ich weiß nicht allzu viel über Ted Bundy, aber anscheinend war er gutaussehend und charismatisch. Nachdem ich den wahren Wagner erkannt hatte, war es, als würde eine Frau mit Ted Bundy aufwachen und erkennen, dass ein Serienmörder neben ihr liegt. Wagner war sehr sadistisch bei der Auswahl dieser Bilder von Jüdinnen und Juden, insbesondere von denen, die versuchen sich anzupassen, das ist im Ring besonders erschütternd. Wenn man es einmal gesehen hat, kann man es nicht mehr ungesehen machen.¶