Der Komponist Vladimir Rannev wurde 1970 in Moskau geboren, seit Ende der 90er lebt er in St. Petersburg. Seine Werke werden in Deutschland, Österreich, der Schweiz, UK, Finnland, Japan und den USA aufgeführt, unter anderem von den Ensembles Mosaik, LUX:NM und AuditivVokal. Im September 2020 wurde seine Oper Schlachthof 5 nach dem Roman von Kurt Vonnegut im Europäischen Zentrum der Künste Hellerau in Dresden uraufgeführt. Für VAN berichtet er, wie er die derzeitige politische Situation in Russland erlebt.

Wenn man über das aktuelle politische Leben in Russland spricht, erscheint das Wort »politisch« gar nicht wirklich angemessen. Ein Beispiel: Wenn ich ständig vom Recht des Stärkeren Gebrauch mache, um Sie auszurauben, und bei Ihrer ersten Äußerung von Unzufriedenheit Gewalt gegen Sie ausübe, dann ist das keine Politik, sondern Banditentum. Im modernen Russland liegt die Macht in den Händen von ehemaligen und »legalen Banditen« – den KGB-Offizieren. In ihrer Machtausübung setzt diese Gruppe auf Mittel, die sich bereits im 20. Jahrhundert bei den faschistischen und kommunistischen Regimen bewährt haben – Repression und Propaganda.
In der Wirtschaftstheorie gibt es für solche Regime eine Bezeichnung, die der amerikanische Ökonom Mancur Olson einführte – »stationärer Bandit«: Das Land wird nicht von außen erobert, schnell und total verwüstet, sondern nach innen versklavt, um seine Ressourcen über einen langen Zeitraum zur persönlichen Bereicherung auszubeuten. Mit einem solchen kollektiven Banditen und dem ihm dienenden Polizeiapparat haben wir es in Russland zu tun. Es gibt kein Gesetz, keine wirklichen Wahlen, keine politischen Parteien, keine Gerichte. Alle staatlichen Institutionen werden zum Zweck des eigenen ewigen Machterhalts entweiht. Die Grundlage bilden dabei Korruption und infolgedessen negative Selektion: Hochrangige Positionen werden nicht nach Leistung vergeben, sowohl im medizinischen wie im Bildungsbereich als auch in der Verwaltung.
Nicht berufliche Qualitäten, sondern die Loyalität wird zum entscheidenden Kriterium für die berufliche Karriere. Selbst in der Wissenschaft und der Hochschulbildung werden wegweisende und renommierte Intellektuelle wegen nachlässiger Anti-Putin-Aussagen entlassen und durch mittelmäßige, aber regimetreue Nachfolger:innen ersetzt. Bisher gibt es in Russland keine Massaker wie in der stalinistischen UdSSR, aber ich habe keinen Zweifel daran, dass, sollte die Situation es verlangen, auch solch brutale Maßnahmen ergriffen würden.

Aktuell operieren die Behörden mit »Soft Power«–Propaganda, die die Gesellschaft schnell entmenschlicht. Aggression und Lügen werden im Alltag zur Norm. Die offizielle Presselandschaft – alle Fernsehsender und fast alle Radiosender und Zeitungen – erinnern an das deutsche Pressewesen unter Goebbels. Hier in Russland haben wir seine besten Schüler. All das reicht jedoch nicht aus, um die gesamte Bevölkerung in Gehorsam und sozialer Apathie zu halten. Deswegen wächst die Zahl der politischen Gefangenen im Land, und »Spezialoperationen« von Geheimdiensten werden eingesetzt gegen Oppositionsführer, die nicht gekauft werden können – Verhaftungen, gefälschte Strafsachen, inszenierte Prozesse, Morde. So war es auch mit Boris Nemzow, jetzt beobachten wir die dramatische Geschichte von Alexej Nawalny.
Ich muss zugeben: Ich sehe kein positives Szenario für den Ausweg aus dem Prozess der Barbarisierung der russischen Gesellschaft und ihrer Umwandlung in einen archaischen Feudalstaat, in dem die »Aristokratie« sich aus prinzipienlosen Menschen zusammensetzt, die auf Kosten anderer leben und bereit sind, dafür Verbrechen zu begehen. Ich habe die Befürchtung, dass die Rückkehr in die zivilisierte Welt ein langer und schmerzhafter Weg werden wird. ¶